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ZGR Nr. 19-20/2001 - Partea II

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Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />

dieser unter zivilisatorischer Lava begrabenen,<br />

konservierten und versiegelten Wirklichkeit<br />

zu:<br />

„Das wenige, worauf später die Spitzhacke stößt,<br />

der Pinsel des Ausgräbers, die Schaufel des Müllsammlers,<br />

dies ist der Stoff, aus dem die Gedichte<br />

sind.“ 4<br />

So wie sich im Bilde jenes Müllberges<br />

Ausgeworfenes und Verschüttetes bis zur<br />

Ununterscheidbarkeit vermengen, so ist auch<br />

die Sprache und die Poetik des postmodernen<br />

Lyrikers notgedrungen jener Ambiguität<br />

unterworfen. Mit Blick auf die antike<br />

Poetik unter den Bedingungen der Postmoderne<br />

kommt Grünbein denn auch zu folgendem<br />

Schluß:<br />

„Das Horazische decorum wäre dann beides, der<br />

zivilisatorische Auswurf und jene Lava, in der die<br />

Ersten Augenblicke, Dinge und Gesten, Szenen und<br />

Gedanken konserviert sind gleich überraschten<br />

Lebewesen.“ 5<br />

Für den politisch und zeitdiagnostisch<br />

aufmerksamen wie kritischen poeta doctus<br />

Durs Grünbein stellt die antike Tradition,<br />

namentlich Horaz, Lukrez und Juvenal, einen<br />

unauslöschlichen Bezugsrahmen seines Werkes<br />

dar. Heiner Müller hat dies in seiner<br />

Laudatio auf Durs Grünbein anläßlich der<br />

Verleihung des Georg-Büchner-Preises <strong>19</strong>95<br />

noch einmal betont:<br />

„Es ist keine Koketterie, wenn Grünbein behauptet,<br />

daß Juvenal ihm näher steht, der Autor einer anderen<br />

Endzeit mit dem kalten Blick auf einen barbarischen<br />

Neubeginn, auf die teuren Toten und die billigen<br />

Tode.“ 6<br />

So trägt denn auch der jüngste, <strong>19</strong>99 erschienene<br />

Gedichtband Grünbeins nicht von<br />

ungefähr den Titel Nach den Satiren. 7 Er<br />

4<br />

Durs Grünbein, Vulkan und Gedicht, (Anm. 2), S.<br />

39.<br />

5<br />

Ebd.<br />

6<br />

Heiner Müller, Portrait des Künstlers als junger<br />

Grenzhund. Laudatio auf Durs Grünbein, in: Deutsche<br />

Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch <strong>19</strong>95,<br />

Darmstadt <strong>19</strong>96, S. 174-176; hier: S. 175.<br />

7<br />

In seinen Anmerkungen zu diesem Gedichtband<br />

gibt Grünbein folgende Erläuterung des Titels: „Nach<br />

den Satiren, das war, wenn alles gesagt und durchgekaut<br />

war, der Heimweg, der Katzenjammer, die Zeit der<br />

Gedankenspiele und der Verdauung. Während der Magen<br />

arbeitete, kehrten die mit vollem Munde ver-spotteten<br />

Dämonen langsam zurück. Die meisten Todesfälle<br />

unter den reichen Römern traten während der Nacht<br />

oder am Morgen nach solcher fetten Mahlzeit ein. Nach<br />

stellt einen bewußten Rückgriff auf die<br />

Satiren des Juvenal dar, und zwar in einem<br />

mehrfachen Sinne: er kennzeichnet zum<br />

einen die Situation des Nachgeborenen, der<br />

sich zeitlich später auf die vorhandene Tradition<br />

bezieht; er kennzeichnet außerdem die<br />

Situation dessen, der sich über die Zeiten<br />

hinweg mit dem spät- und endzeitlichen Denken<br />

eines anderen Dichters identifiziert und<br />

nach, d.h. gemäß dessen Satiren zu dichten<br />

sich anschickt; er kennzeichnet schließlich<br />

die Situation des postmodernen Dichters, der<br />

auch nach den Nihilismen der Moderne noch<br />

nach lyrischen Worten sucht, er kennzeichnet<br />

- mit den Worten Heiner Müllers - „die<br />

Generation der Untoten des kalten Krieges,<br />

die Geschichte nicht mehr als Sinngebung<br />

des Sinnlosen durch Ideologie, sondern nur<br />

noch als sinnlos begreifen kann.“ 8<br />

In seinen Satiren hat Juvenal das Gift<br />

maßloser Verdammung über alle Bereiche<br />

der damaligen Zivilisation ausgegossen. Insbesondere<br />

die Ewige Stadt, die er allerdings<br />

selten verließ, bildete die immerwährende<br />

Zielscheibe seines beißenden Spotts und<br />

zugleich die ubiquitäre Kulisse für sein<br />

ceterum censeo, es sei difficile saturam non<br />

scribere. Vor allem in Juvenals dritter Satire,<br />

der Grünbein das Motto 9 für seine eigene<br />

erste entnommen hat, kommt die Verachtung<br />

des Großstadtlebens ungehemmt zur Sprache.<br />

Es heißt da bei Juvenal:<br />

„Welcher Ort ist so elend, so einsam, daß nicht<br />

schlimmer wäre die ständige Angst vor Bränden, vor<br />

dauerndem Einsturz von Häusern, vor den tausend<br />

Gefahren der grausamen Stadt und vor Dichtern, die<br />

im August öffentlich vortragen?“ 10<br />

Mehrmals wird Juvenal von Grünbein in<br />

seiner ersten Satire namentlich genannt, und<br />

zwar in identifikatorischer Absicht: Juvenalis<br />

erscheint dem lyrischen Ich als der Ahnherr<br />

den Satiren, - kamen die üblen Schatten zurück, die<br />

Sarkasmen, Grund für die Schlaflosigkeit. Überall<br />

Knochen und Rülpser, und die schöne Zeit war vorbei.“<br />

(Durs Grünbein, Nach den Satiren, Frankfurt am Main<br />

<strong>19</strong>99, S. 223). ‘Nach den Satiren’ wird im Text mit der<br />

Sigle ‘NdS’ abgekürzt.<br />

8 Heiner Müller, Portrait des Künstlers als junger<br />

Grenzhund, (Anm. 6), S. 174.<br />

9 Es lautet: „In der Stadt zu schlafen kostet viel Geld,<br />

/ Davon rühren alle Übel her.“ (NdS 93).<br />

10 Juvenal, Satiren, Stuttgart <strong>19</strong>94, S. 27.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 169

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