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ZGR Nr. 19-20/2001 - Partea II

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Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />

durch seine schiere Präsenz im Gedicht an,<br />

was alles klar wird an so einem Morgen in<br />

Dresden.<br />

Bereits in Grünbeins frühen Gedichten<br />

zeigt sich eine weitere Tendenz deutscher<br />

Gegenwartslyrik, die literaturgeschichtlich<br />

betrachtet bisher kaum eine Verbindung mit<br />

der Alltagsdichtung eingegangen ist, ja diese<br />

vielmehr auszuschließen schien: die auf<br />

Gottfried Benn fußende Tendenz zur bis ins<br />

Manieristische gehenden Sprachartistik. So<br />

hebt beispielsweise Hans-Jürgen Heise Grünbeins<br />

„Faible für die Wortkunst“ 22 hervor. Er<br />

bezeichnet außerdem Grünbeins Denken als<br />

kopflastig, hypertroph und solitär – Vorurteile,<br />

die man auch Benn gegenüber vorbrachte<br />

- und sieht in Grünbeins Vorliebe für<br />

Fremdworte und medizinische Fachbegriffe<br />

sowie im Zerebralen seiner Dichtung eine<br />

große Nähe zu Gottfried Benn. 23 So ist beispielsweise<br />

das Gedicht Singende Hirne (Sch<br />

218) ganz im Bennschen Ton abgefasst:<br />

Singende Hirne, mein Freund, verkapselt<br />

wie Mohn,<br />

Hoch montiert auf Stativen: Das sind wir -<br />

(O helles Walnußmark)<br />

Innen so fruchtfleischweich<br />

Außen so knochenstark;<br />

Antenne, Höhlung, Traumration.<br />

Benns „armer Hirnhund“ 24 ist in Grünbeins<br />

lyrischem Selbstbildnis, dem Portrait<br />

des Künstlers als junger Grenzhund (Sch<br />

175), ebenso gegenwärtig wie Benns Nachtcafé<br />

25 in Grünbeins Gedicht Zerebralis (Sch<br />

216; vgl. Gm 15), wo die Bennsche Synekdoche<br />

im Bild der bloßgelegten Gehirne<br />

kulminiert:<br />

Stell dir vor: Ein Café voller Leute, alle<br />

22 Hans-Jürgen Heise, S-Bahn-Surfing oder stilles<br />

Betrachten?, in: die horen. Zeitschrift für Literatur,<br />

Kunst und Kritik, 41. Jg., 3. Quartal <strong>19</strong>96, Heft 183, S.<br />

<strong>19</strong>3.<br />

23 Ähnlich auch Peter Hamm in seiner Lobrede auf<br />

Durs Grünbein mit dem Titel ‘Vorerst - oder: Der<br />

Dichter als streunender Hund’ in: manuskripte. Zeitschrift<br />

für Literatur 122/93, Graz <strong>19</strong>93, S. 103-106.<br />

24 Gottfried Benn, Untergrundbahn, in: Ders., Das<br />

Hauptwerk, Bd. 1: Lyrik, hg. v. Marguerite Schlüter,<br />

Wiesbaden, München <strong>19</strong>80, S. 31.<br />

25 Anm. 24, S. 18f.<br />

Mit abgehobenen Schädeldecken, Gehirn<br />

Bloßgelegt<br />

(Dieses Grau!) und dazwischen<br />

Nichts mehr was eine Resonanz auf den<br />

Terror ringsum<br />

Dämpfen könnte.<br />

Zahlreiche Kritiker 26 haben auf das große<br />

und schillernde Spektrum der lyrischen<br />

Redeweisen im Werk Durs Grünbeins hingewiesen.<br />

Da finden sich Strophengedichte,<br />

Oden, Lieder, freier Vers, reine Prosa, Gereimtes<br />

und Ungereimtes, kurze und lange<br />

Gedichte, verschiedenste Metra, Montagen,<br />

flächenhafte und zyklische Kompositionen.<br />

Tendenzen zur Hermetik und Abstraktion<br />

sind bei Grünbein ebenso zu beobachten wie<br />

eine starke poetologische Komponente. So<br />

heißt es beispielsweise in dem Fast ein Gesang<br />

(Gm 62-64) betitelten Gedicht: „Dann<br />

geht plötzlich alles / schief / du bist nur noch<br />

/ aufgelegt zu geduldigen / Elegien / montierst<br />

lustlos / ein bißchen an diesen /<br />

verbogenen Mobiles aus / Tele- / graphendrähten<br />

und altem / Gitterwerk“ (Gm 62);<br />

„Klar daß / fast jedes Gedicht dir / vor<br />

Müdigkeit schlaff wie / ein loses Spruchband<br />

zum / Hals heraushängt: / dieser Vers / so gut<br />

wie ein anderer / hier / auf einer Grautonskala“<br />

(Gm 62). Aber auch in anderen Gedichten<br />

Grünbeins, etwa im MonoLogische<br />

Gedichte überschriebenen Zyklus aus Grauzone<br />

morgens (Gm 71-81), der seinerseits<br />

wiederum auf Benns Diktum von der Monologizität<br />

der Lyrik verweist, wird die Reflexion<br />

auf das Entstehen und Verfertigen von<br />

Gedichten Teil des poetischen Prozesses.<br />

Manieristische Tendenzen zeigen sich<br />

bei Grünbein nicht nur im Alltagsgedicht,<br />

sondern auch in seiner politischen Lyrik. In<br />

seinen Sieben Telegrammen aus Schädelbasislektion<br />

beispielsweise, die sich allesamt<br />

auf die Wendemonate in der DDR vom Sturz<br />

Erich Honeckers im Oktober <strong>19</strong>89 bis zur<br />

Volkskammerwahl <strong>19</strong>90 beziehen, findet<br />

sich auch das Gedicht 12/11/89 (Sch 143),<br />

das die Tage nach der Maueröffnung reflektiert:<br />

Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist<br />

/offen jetzt.<br />

Wehleid des Wartens, Langweile in Hegels<br />

26 Vgl. Anm. 13.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 173

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