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ZGR Nr. 19-20/2001 - Partea II

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„Theater an sich hat mich schon immer fasziniert” – zu Thomas Bernhards Dramatik<br />

Wann immer bei Thomas Bernhard vom<br />

Wald die Rede – und dies gilt vor allem für<br />

die bis <strong>19</strong>75 erschienenen Werke – fungiert<br />

dieser als allegorischer Ort. Überwiegend<br />

nachts, in der Finsternis, ist der Wald Stätte<br />

von Selbsterfahrung, unwillkürlicher Erinnerung<br />

und Wesensschau, aber auch von<br />

Orientierungsverlust und existentieller Bedrohung.<br />

Eine heillose und oft tödliche Verwirrung<br />

ist die Folge, mitunter auch Selbstevidenz<br />

und mystische Klarheit. Auch wenn<br />

der Wald nicht zur komplexen Allegorie<br />

ausgearbeitet wird, weist die übertragene<br />

Bedeutung des Waldes eine klare Beziehung<br />

zu einem Ort der Transzendenzerfahrung auf.<br />

Aus dieser Funktion des Waldes als Erfahrungs-<br />

und Erkenntnisbezirk erklären sich<br />

auch seine allegorischen und kausalen Korrespondenzen<br />

zur „Finsternis“-Metapher. Im<br />

Wald ist die Abenddämmerung nämlich kürzer,<br />

die Finsternis tritt „plötzlich“ ein, wie in<br />

Die Jagdgesellschaft immer wieder hervorgehoben<br />

wird.<br />

Der Wald ist Erinnerungsstätte und als<br />

solche Inbegriff der rückblickenden Erfahrung<br />

von Geschichtlichkeit. Der Tod,<br />

dessen Chiffren der General überall im Wald<br />

sieht, ist ein im doppelten Sinne geschichtlicher<br />

Tod: erstens in seinem Erscheinungsbild,<br />

denn seine konkrete Gestalt ist durch<br />

den Krieg gesellschaftlich produziert; zweitens<br />

in seiner determinierenden Wirkung für<br />

die Lebensgeschichte des Generals. Darüber<br />

hinaus ist der Wald in Die Jagdgesellschaft<br />

Projektionsrahmen und Aktionsraum paradoxer<br />

Verrichtungen, die Blaise Pascals<br />

„verworrenem Trieb“ entsprechen: In all<br />

diesen paradoxen Verrichtungen und Besetzungen<br />

vertritt der Wald keine bestimmten<br />

Inhalte oder Aussagen von Bernhards poetischer<br />

Metaphysik, sondern ist Vollzugsraum<br />

für das Verhalten seiner Protagonisten<br />

zu sich selbst und ihrer Existenz. Die paradoxen<br />

Überdeterminationen, die die affektive<br />

Beziehung der Hauptfigur zum Wald darstellen,<br />

erklären sich nicht als diese oder jene<br />

Besetzung, sondern nur als Konkretisationen<br />

im Horizont einer Dialektik des Selbstbewußtseins.<br />

So ist der Wald in diesem Stück<br />

in dem Sinne paradox überdeterminiert, als<br />

er zur Bühne widersprüchlicher, symboli-<br />

scher Aktionen des Generals wird. Bezogen<br />

auf die Existenz und Todeskrankheit des<br />

Generals hat der Wald nach Klug 24 folgende<br />

Funktionen: Stätte der Erinnerung an die<br />

Schlacht von Stalingrad; Versteck während<br />

des Krieges, als das Jagdhaus ein „Schlachthaus“<br />

war; Ort, an dem der General Motivation<br />

schöpft und Gedanken entwickelt; Ort,<br />

an dem der General seiner Ablenkung, der<br />

Jagd, nachgeht; Ursache für das abrubte Eintreten<br />

der Finsternis; durch das Fenster sichtbarer<br />

Szenenhintergrund für das Geschehen<br />

im Jagdhaus; vom Borkenkäfer angefressen<br />

und schließlich gefällte Materialisation der<br />

Lebensgeschichte des Generals.<br />

Die paradoxe Weise, in der der General<br />

den Wald symbolisiert besetzt, zeigt sich zunächst<br />

in der Einheit von Todesangst und<br />

Schutz, wie sie der General und seine Frau in<br />

der unmittelbaren Nachkriegszeit, sich im<br />

Wald versteckend, erfahren haben. Ein wieterer<br />

Widerspruch besteht zwischen dem<br />

Aufwand, den der General für die Pflege des<br />

Waldes treibt, und der Angst, von den zu<br />

diesem Zwecke angestellten Holzknechten<br />

hintergangen zu werden. Der Besitzende lebt<br />

in fortwährender Angst um seinen Besitz.<br />

Schon vor dem Ausbruch der Todeskrankheit<br />

und bevor die Generalin vom Borkenkäfer<br />

des Waldes erfahren hat, hat bereits der<br />

General – offenbar in Angst um die Gesundheit<br />

seines Waldes – vom Borkenkäfer gesprochen<br />

(23-24). In mehrfacher, tatsächlicher<br />

wie symbolischer Hinsicht ist das<br />

Vermögen, das der Wald repräsentiert, ein<br />

„ungeheures Vermögen“ (38).<br />

Der Wald ist auch Schauplatz von<br />

Fluchtbewegungen wie die Jagd, zu der der<br />

General eingeladen ist. Mit diesem Motiv<br />

spielt Thomas Bernhard auf einen Gedanken<br />

Blaise Pascals an, der am Exempel der Jagd<br />

das Wesen der Zerstreuung und deren dialektischen<br />

Bezug zur Beunruhigung erläutert:<br />

Die spezifische Dynamik der Zerstreuung<br />

besteht darin, die Tätigkeit und nicht deren<br />

Effekt, die Jagd und nicht die Beute zu<br />

suchen. Die Jagd stellt für den österreichischen<br />

Autor eine typische Form der Zer-<br />

24 Klug, 269-270.<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 159

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