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ZGR Nr. 19-20/2001 - Partea II

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Ich, Körper, Hirn, Tier, Tod, Stadt, Masse, Wende, Zeit - Zur Lyrik Durs Grünbeins<br />

störung. In V / Epilog), dem letzten Gedicht<br />

der Berliner Runde, wird dann noch einmal<br />

auf den Potsdamer Platz aus der Zeit des<br />

Kalten Krieges zurückgeblickt: „Eben war da<br />

noch ein Brachfeld, Sand und etwas abgebrannte<br />

Wiese, / Die im Stadtplan fehlten.<br />

Daß dort Goyas Koloß saß, / Wartend auf die<br />

Wiederkehr der Steppe, glaubt dir keiner<br />

mehr“ (NdS 163). Das Gedicht schließt mit<br />

dem Ausblick auf eine videoüberwachte<br />

Welt, in der der Einzelne zum gläsernen<br />

Subjekt degradiert ist: „Einestags entdeckt<br />

man, hoch an Glasfassaden festgeschraubt,<br />

Reptile, // Die neutralen Augs den Kehraus<br />

überwachen“ (ebd.).<br />

In allen Lyrikbänden Durs Grünbeins<br />

finden sich zahlreiche Gedichte, in denen<br />

von der Großstadt als solcher, im allgemeinen<br />

und überhaupt die Rede ist, mit allen<br />

ihren spezifischen Phänomenen, Charakteristika<br />

und Eigenschaften, auch wenn diese<br />

keiner bestimmten Großstadt in besonderer<br />

Weise zugeordnet werden können. Die Stadt<br />

selbst, als Moloch, Monster und Morast,<br />

wird im Gedicht zum Protagonisten und zum<br />

proteischen Partner des lyrischen Ichs. Angefangen<br />

von Grauzone morgens, wo Umweltschmutz,<br />

Vermassung, Vereinsamung und<br />

Anonymität dominieren, über Schädelbasislektion,<br />

wo traumatische U-Bahn-Fahrten,<br />

Verkehrskollaps und Großstadttod poetisch<br />

inszeniert werden, über Falten und Fallen<br />

und Den Teuren Toten bis hin zu Nach den<br />

Satiren - überall bildet die Großstadt die<br />

Kulisse, die sich machtvoll in den Vordergrund<br />

schiebt und das lyrisch-dramatische<br />

Geschehen beherrscht. Im achten der Dreizehn<br />

Fantasiestücke untertitelten Zyklus<br />

Asche zum Frühstück aus Nach den Satiren<br />

beispielsweise, das den Halbsatz „Robinson<br />

in der Stadt“ (NdS 79) zum Motto hat,<br />

erscheint der moderne Großstädter als „tief<br />

im Landesinnern gestrandet[er]“ (ebd.; vgl.<br />

auch Gm 26) Schiffbrüchiger, als Robinson<br />

Crusoe der Postmoderne, dem nicht einmal<br />

mehr ein Freitag 44 zu Gebote steht und dem<br />

die Rückkehr in die Heimat in eine imaginäre<br />

Ferne gerückt ist. Die Stadt wandelt sich<br />

dabei selbst zum Meer, aber nicht zum<br />

44 Das Gedicht schließt süfissant mit den beiden Versen:<br />

„Wenn am Freitag zum Beispiel, auf hohem Absatz,<br />

genug zum Träumen, / Ein Chanson mit den Hüften<br />

schwenkt: ‘La mort vient et je suis nu...’“ (NdS 79).<br />

Rettung und Rückkehr verheißenden, sondern<br />

zum versteinerten, anti-utopischen Ozean<br />

par excellence: „Aus den Segeln wurde<br />

die Leinwand der Kinos. Was draußen brandet,<br />

/ Ist nur der Autoverkehr. Kein Mast, der<br />

ihm nicht droht ‘Dich leg ich flach’. /<br />

‘Verpiß dich!’ schallt es von jedem Friedhof,<br />

den die Bulldozer räumen, / Weil die Liegezeit<br />

um ist, verjährt sind die Abos für morsche<br />

Gebeine“ (NdS 79). Der gesamte Satiren-Zyklus<br />

in Nach den Satiren, insbesondere<br />

die erste Satire, können als Kompendium<br />

und Summe postmoderner deutscher<br />

Großstadtlyrik angesehen werden.<br />

Wir wollen uns jedoch abschließend mit<br />

einem anderen Zyklus aus Nach den Satiren,<br />

mit dem Zyklus Nachbilder. Sonette (NdS<br />

184-<strong>19</strong>4) näher befassen, weil in ihm weniger<br />

die objektive Seite - der zeitgenössische<br />

„Schild des Achill“ (NdS 93) 45 , auf dem der<br />

postmoderne ‘Kosmos’ detailliert und umfassend<br />

registriert ist - zur Sprache kommt, sondern<br />

vielmehr die subjektive Seite thematisiert<br />

wird, die Wirkung der Großstadt auf die<br />

Psyche, die Verarbeitung der Wahrnehmungsschocks<br />

46 und Erinnerungsbilder im<br />

Traum oder in den Übergangszuständen zwischen<br />

Wachheit und Schlaf. 47 „Dann wirst du<br />

müde, und dein Mund bricht ein / In ein<br />

Gebiet, das Greinen nicht erreicht. / Schlaf<br />

sucht die Wege, die du tags allein / Nicht finden<br />

konntest“ (NdS 184) - so eröffnet Grünbein<br />

mit dem Anfangsgedicht (I) programmatisch<br />

seinen Nachbilder-Zyklus. Unter den<br />

Bedingungen des Schlafes verwandelt sich<br />

der Mensch zu einem morpheisch-proteischen<br />

Doppelwesen, das in seiner Zwitterhaftigkeit<br />

als „Parasit“ und als „ein Anderer“<br />

gerade die Authentizität der menschlichen<br />

45 Vgl. den 18. Gesang in Homers ‘Ilias’!<br />

46 Vgl. dazu auch Walter Benjamins Ausführungen in<br />

seinem Essay ‘Über einige Motive bei Baudelaire’ in:<br />

Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im<br />

Zeitalter des Hochkapitalismus, hg. von Rolf Tiedemann,<br />

Frankfurt am Main <strong>19</strong>74, S. 101-149, insbes. S.<br />

108ff.<br />

47 Das Motiv des Schlafs ist ein Leitmotiv in Grünbeins<br />

Lyrik: man könnte aus seinem Gesamtwerk spielend<br />

eine Anthologie morpheischer Gedichte zusammenstellen!<br />

<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>19</strong>-<strong>20</strong>) / <strong>20</strong>01 179

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