ZGR Nr. 29-30; 31-32/2006-2007 Partea III
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„DIE EINIGKEIT DES GANZEN MENSCHEN, DIE SCHÖNHEIT“.<br />
DAS SCHÖNE BEI HÖLDERLIN.<br />
Philosophie, Hyperion und Diotima-Lyrik 1<br />
1 „über die Kantische Gränzlinie“<br />
Gabriele von Bassermann-Jordan<br />
1.1 Hölderlins Suche nach einem objektiv begründeten Schönen<br />
Friedrich Hölderlin ist im Jahr 1794 bei Charlotte von Kalb in Waltershausen als<br />
Hauslehrer tätig. Während dieser Zeit befasst er sich eingehend mit Fragen der Ästhetik,<br />
studiert Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1. Auflage 1790, 2. Auflage<br />
1793) und Friedrich Schillers Über Anmut und Würde (1793). 2 Am 10. Oktober 1794<br />
schreibt Hölderlin an seinen Freund Christian Ludwig Neuffer, er beabsichtige,<br />
selbst einen „Aufsaz“ zur Ästhetik vorzulegen. Dieser solle „eine Analyse des Schönen<br />
und Erhabnen enthalten“, wie es schon Schiller getan habe, „der aber doch auch<br />
einen Schritt weniger über die Kantische Gränzlinie gewagt“ habe, als es Hölderlin<br />
selbst vorschwebe (II, S. 548–551, hier S. 550–551).<br />
Was ist mit dem Ausdruck „Kantische Gränzlinie“ gemeint? Da Hölderlin ausdrücklich<br />
beabsichtigt, eine ästhetische Untersuchung vorzulegen, sieht man sich auf die<br />
,Grenze‘ verwiesen, die Kant in der Kritik der Urteilskraft zieht. In der Überschrift<br />
zu § 34 erklärt Kant: „Es ist kein objektives Prinzip des Geschmacks möglich“. 3 In<br />
der Tat ist der Untersuchungsgegenstand der Kritik der Urteilskraft nicht das schöne<br />
Objekt selbst, sondern das Geschmacksurteil, das sich auf die Befindlichkeit des<br />
1<br />
Erweiterte Fassung des auf dem VII. Kongreß der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens (Temesvar,<br />
22. bis 25. Mai <strong>2006</strong>) gehaltenen Vortrags.<br />
2<br />
An Neuffer berichtet Hölderlin am 10./14. Juli 1794 von seinen „kantischästhetischen Beschäftigungen“<br />
(II, S. 537–540, hier S. 539). An Hegel schreibt Hölderlin am 10. Juli 1794: „Kant und die Griechen sind<br />
beinahe meine einzige Lectüre. Mit dem ästhetischen Theile der kritischen Philosophie such’ ich vorzüglich<br />
vertraut zu werden.“ (II, S. 540–541, hier S. 541) Mitte April 1794 berichtet Hölderlin an Neuffer,<br />
seine „letzte Lectüre“ sei „Schillers Abhandlung über Anmuth und Würde gewesen“ (II, S. 526–527, hier<br />
S. 527). Alle Hölderlin-Zitate beziehen sich auf folgende Ausgabe: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke<br />
und Briefe. Hg. von Michael Knaupp. 3 Bände. München, Wien 1992–1993. Die Hölderlin-Zitate werden<br />
in den laufenden Text eingefügt, die römische Ziffer bezeichnet die Band-, die arabische die Seitenzahl.<br />
3<br />
Immanuel Kant: Die Kritiken. Hg. von Wilhelm Weischedel. Sonderausgabe. 4 Bände. 3. Auflage. Frankfurt<br />
am Main 1997 (= stw 55–57). Hier: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1997), § 34, S. 215. Im<br />
folgenden: Kritik der Urteilskraft.