ZGR Nr. 29-30; 31-32/2006-2007 Partea III
ZGR Nr. 29-30; 31-32/2006-2007 Partea III
ZGR Nr. 29-30; 31-32/2006-2007 Partea III
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Eva Parra Membrives<br />
führendes, anstößiges Glied durch den vielen Usus plötzlich zerplatzt <strong>32</strong> . Die liebende,<br />
und so teilweise schuldlose, Frau bekommt eine verhältnismäßig viel leichtere Strafe:<br />
von unenthaltsamer Flatulenz befallen, wird sie sozial verpönt, widmet sich aber<br />
weiterhin der körperlichen Liebe. Auf den markanten Unterschied zwischen der einen<br />
und der anderen Sühne für das gemeinschaftlich begangene Verbrechen sei nun<br />
einfach nur hingewiesen.<br />
Ein viel freundlicheres Bild zeichnet Roswitha gleich am Anfang der Legende von<br />
der jungen Agnes, der unbestreitbaren Zentralfigur der letzten ihrer Legenden. Dass<br />
sich die Gandersheimerin in der Gestaltung dieser hoch verehrten Heiligen viel freier<br />
fühlt, ist schon an dem von ihr ausgesuchten Titel erkennbar. Zum ersten Mal –<br />
wenn von jener, der Muttergottes gewidmeten Legende abgesehen wird – ist von der<br />
Autorin ein weiblicher Vorname in Betracht gezogen worden 33 . In dieser Nacherzählung<br />
der Martyriums der Heiligen Agnes – erneut einmal eine historische Figur<br />
– konstruiert Roswitha eine Ausgangssituation, die sehr stark der in Gongolf erlebten<br />
ähnelt. Agnes, die, in Übereinstimmung mit Aurelius Prudentius Version der<br />
Legende, gerade eben dreizehn Lenze zählt 34 , wird, was ihre physischen Merkmale<br />
betrifft, von Roswitha erneut äußerst schlicht beschrieben: „Durch Schönheit und<br />
durch frommes Wesen / entsprach sie ihrer hohen Abkunft“ 35 , kommentiert die<br />
sächsische Dichterin, ohne dieses zweifellos attraktive Äußere näher zu erläutern.<br />
Dass trotz Agnes, wie ausdrücklich unterstrichen wird, vollkommenen Lebenswandel,<br />
sich ein „jugendfrischer, schöner Mann“ 36 bei ihrem Anblick hoffnungslos in<br />
sie verliebt, bleibt nur mit einer ausdrücklichen männlichen Neigung zur Sinnlichkeit<br />
erklärbar. Die für den Leser fast unsichtbaren weiblichen Reize lassen jedenfalls<br />
darauf schließen, dass nichts in Agnes Wesen, Lebenswandel oder Benehmen einen<br />
leidenschaftlichen Ausbruch provoziert haben könnte. Dass die junge Heilige<br />
außerdem ganz gegen die Tradition eine sexuelle Befriedigung weder sucht noch<br />
braucht, wird von der Dichterin sofort klargestellt, indem sie beschreibt, wie Agnes<br />
<strong>32</strong> So in der Übersetzung von Homeyer. Zwar sagt Roswitha, im Original, “visceras”, d.h. Eingeweide, aber<br />
erwähnt auch, dass der betreffende Körperteil sich an der Sinnlichkeit ergötzt hat. Homeyers Interpretation<br />
scheint also angebracht.<br />
33 Incipit Passio Sanctae Agnetis virginis et martiris ist der von Roswitha erwählte Titel.<br />
34 Aurelio Prudencio Clemente, Obras, Madrid, Gredos, 1997<br />
35 Roswitha von Gandersheim, a.a.O., 1936, 127. Im Original: “Pulchra fuit facie fideique decore nitore”<br />
Roswitha von Gandersheim, Hrotsvithae opera, 1970, 211. Roswitha verbindet also die Schönheit mit der<br />
Frömmigkeit und nicht mit ihrer hohen Abkunft.<br />
36 Roswitha von Gandersheim, a.a.O., 1936, 128. Im Original: “Filius insignis iuvenilis stemmate floris”<br />
Roswitha von Gandersheim, Hrotsvithae opera, 1970, 211<br />
260<br />
<strong>ZGR</strong> 1-2 (<strong>29</strong>-<strong>30</strong>) / <strong>2006</strong>, 1-2 (<strong>31</strong>-<strong>32</strong>) / <strong>2007</strong>