Protokoll der 8. Sitzung - Evangelische Landeskirche in Württemberg
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13. <strong>Evangelische</strong> Landessynode <strong>8.</strong> <strong>Sitzung</strong> 2<strong>8.</strong> November 2002 307<br />
(Oberkirchenrat Timm)<br />
werden also sehen, dass wir mit den restlichen Personen<br />
und den fünf aus <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e Kontakt aufnehmen können.<br />
Es war uns, me<strong>in</strong>e Damen und Herren, möglich, die<br />
ersten ehemaligen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiter<strong>in</strong>nen<br />
hier <strong>in</strong> <strong>Württemberg</strong> vor und nach den Tagen von<br />
Pf<strong>in</strong>gsten 2002 zu begrüßen. Zwei Gruppen waren bisher<br />
da, e<strong>in</strong>mal drei Personen mit Angehörigen eben zu Pf<strong>in</strong>gsten<br />
und weitere zwei im August. Sie waren jeweils e<strong>in</strong>ige<br />
Tage ihres Aufenthaltes <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie<br />
während <strong>der</strong> Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt<br />
waren bzw. gewohnt haben. Die restliche Zeit haben sie<br />
geme<strong>in</strong>sam verbracht im Kurhaus Bad Boll bzw. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diakonissenanstalt<br />
<strong>in</strong> Stuttgart, jeweils mit Dolmetscher<strong>in</strong>nen<br />
usw. In vielen Gesprächen haben wir mehr erfahren über<br />
ihre Erlebnisse und über dieses dunkle Kapitel von Kirche<br />
und Diakonie. Es waren bewegende Gespräche, <strong>in</strong> denen<br />
die Zeit lebendig wurde. Die Geschichte von Elena Tschewtschik<br />
war e<strong>in</strong>e von denen, die ich e<strong>in</strong>gangs nie<strong>der</strong>geschrieben,<br />
Ihnen aber nicht vorgelesen habe. E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e<br />
ist von Helena Zalewska, 77-jährig aus Polen, die vor 60<br />
Jahren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Übernachtungsheim <strong>der</strong> evangelischen<br />
Kirche <strong>in</strong> Ulm und ihrer Diakonie als Zwangsarbeiter<strong>in</strong> tätig<br />
war. Als 17-jähriges Mädchen wurde sie von heute auf morgen<br />
aus ihrem Dorf herausgerissen und kam zusammen<br />
mit fünf Freund<strong>in</strong>nen nach Ulm. Die erzwungene Trennung<br />
von ihrer Familie war für sie das Schlimmste. Oft, so sagte<br />
sie uns, we<strong>in</strong>te sie stundenlang. Doch die Leiter<strong>in</strong> <strong>der</strong> diakonischen<br />
E<strong>in</strong>richtung hatte Verständnis für sie und hat<br />
sich um sie gekümmert. Sie wurde, nach ihren eigenen<br />
Worten, auch sehr gut behandelt von den Hauseltern „Danner“.<br />
(Ob dieser Name stimmt, können wir nicht genau<br />
recherchieren; deswegen steht er hier <strong>in</strong> Anführungszeichen.)<br />
Sie durfte zusammen mit den an<strong>der</strong>en essen. Nur<br />
für e<strong>in</strong>e kurze Zeit musste sie e<strong>in</strong>mal an e<strong>in</strong>em extra Tisch<br />
sitzen, da e<strong>in</strong> „deutsches Mädel“ nicht mit <strong>der</strong> Pol<strong>in</strong> an<br />
e<strong>in</strong>em Tisch sitzen wollte. Als sie die E<strong>in</strong>ladung jetzt<br />
bekam, war ihr allerd<strong>in</strong>gs klar: Sie fährt nach Deutschland,<br />
um nochmals alles zu sehen und mit möglichst vielen über<br />
diese Zeit zu reden. „Jetzt ist mir e<strong>in</strong> wenig wehmütig“,<br />
sagte sie am Tag vor ihrer Rückkehr nach Polen.<br />
Wir können nicht wie<strong>der</strong> gut machen, was Zwangsarbeiter<strong>in</strong>nen<br />
und Zwangsarbeiter an Verschleppung, Zwang,<br />
Erniedrigung, an Entmündigung, Unrecht und Leid zugefügt<br />
wurde. Wir können nur um Vergebung bitten und durch<br />
den Kontakt e<strong>in</strong>en Neuanfang wagen, so wie es Bischof<br />
Maier beim Empfang im Namen von uns allen getan hat,<br />
<strong>in</strong>dem er sagte: „Als Bischof dieser Kirche bitte ich Sie um<br />
Vergebung“. Und als „sichtbares Zeichen <strong>der</strong> Versöhnung“<br />
überreichten wir geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenwerkstatt<br />
hergestellte Hand-Holzkreuze. Für Helena Zalewska waren<br />
diese Worte <strong>der</strong> Entschuldigung des Bischofs beson<strong>der</strong>s<br />
wichtig. „Ich kann dies akzeptieren“, sagte sie vor ihrer<br />
Rückkehr.<br />
Dieses Projekt, das Sie als Synode durch ihre Beschlüsse<br />
auf den Weg gebracht haben, ist <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> evangelischen<br />
<strong>Landeskirche</strong> <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong>malig, denn <strong>in</strong> diesem<br />
Projekt werden Sozialdaten ehemaliger Zwangsarbeiter<br />
und Zwangsarbeiter<strong>in</strong>nen recherchiert, die Geschichte<br />
aufgearbeitet und – das ist uns beson<strong>der</strong>s wichtig<br />
– das Ganze unter dem Leitgedanken <strong>der</strong> Versöhnung<br />
gesehen. Das heißt: Am Ende stand eben nicht die Übergabe<br />
von Gel<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> direkte Kontakt und die<br />
Gespräche mit den Betroffenen. Ich muss natürlich sagen,<br />
dass nicht alle Betroffenen mehr kommen können. Deshalb<br />
haben wir zwei Personen Geld durch Mittelsleute <strong>in</strong> ihrer<br />
Wohnung überreichen lassen.<br />
Der heutige Bericht, liebe Synodale, ist e<strong>in</strong> weiterer Zwischenschritt<br />
<strong>in</strong> diesem Versöhnungsdienst. Die Erhebung<br />
<strong>der</strong> Zahlen und <strong>der</strong> Adressen ist bei weitem noch nicht<br />
beendet. Trotzdem wird im Laufe des nächsten Jahres die<br />
Arbeit daran abgeschlossen. Unser Ziel ist, dass e<strong>in</strong>e<br />
Dokumentation zum Abschluss erstellt wird. Noch ist<br />
unklar, ob dies möglich ist. Denn Ende Februar läuft <strong>der</strong><br />
Vertrag von Inga von Häfen aus. Wir haben bisher noch<br />
ke<strong>in</strong>en Weg gefunden, wie wir die Stelle bis Ende 2003<br />
f<strong>in</strong>anzieren können. Auch Gel<strong>der</strong> für weitere Entschädigungszahlungen<br />
fehlen möglicherweise. Ich habe bereits<br />
diakonische E<strong>in</strong>richtungen angeschrieben, als wir die<br />
neuen Namen aus <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e erhielten. Es wäre schade,<br />
wenn wir ke<strong>in</strong>e Lösung f<strong>in</strong>den würden. Vielleicht klappt es,<br />
wenn wir alle noch e<strong>in</strong>mal zusammenlegen. – Bei den<br />
nächsten Sätzen me<strong>in</strong>es Berichts war ich sehr unsicher, ob<br />
ich die vortragen soll. Ich habe sie jetzt gestrichen. Aber ich<br />
hoffe, dass wir <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> <strong>Landeskirche</strong> und Diakonie<br />
noch Wege f<strong>in</strong>den, um dieses Projekt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Dokumentation<br />
münden lassen zu können. Vielleicht bekommen wir die<br />
notwendigen Mittel zusammen, um den Bericht abzuschließen<br />
und weitere persönliche Zuwendungen an die noch<br />
lebenden Personen zu zahlen.<br />
Wir hoffen, dass wir im Laufe des nächsten Jahres e<strong>in</strong>e<br />
Dokumentation vorlegen können. Diese wird ebenfalls<br />
nicht vollständig se<strong>in</strong>; aber sie wird doch e<strong>in</strong>en besseren<br />
Überblick über die Gesamtsituation geben. Es ist notwendig,<br />
dass wir diese Gesamtsituation gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
darstellen. „Verletzte Menschenwürde“ – das war<br />
das Motto des geme<strong>in</strong>samen Bußtags-Gottesdienstes im<br />
November 2000 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Leonhardtskirche, den wir als Kirche<br />
und Diakonie geme<strong>in</strong>sam begangen haben. Aus dem Wissen,<br />
dass wir als Kirche und Diakonie <strong>in</strong> <strong>Württemberg</strong> mit<br />
beteiligt waren an <strong>der</strong> Verletzung <strong>der</strong> Menschenwürde,<br />
wächst für uns die Verpflichtung, <strong>in</strong> Zukunft noch wachsamer<br />
auf verletzte Menschwürde zu achten. Im Leitbild <strong>der</strong><br />
Diakonie heißt es deshalb: „Dieses Wissen um die<br />
teilweise leidvolle Tradition bedeutet für die Diakonie, sich<br />
politisch für Hilfebedürftige und Ausgegrenzte e<strong>in</strong>zusetzen,<br />
vorbeugend an <strong>der</strong> Vermeidung von Notsituationen zu<br />
arbeiten, soziale Probleme frühzeitig zu erkennen und sich<br />
engagiert für <strong>der</strong>en Lösung e<strong>in</strong>zusetzen.“ Damit wird deutlich:<br />
Die Geschichte ist nie vergangen – sie ist vielmehr<br />
Anstoß zu e<strong>in</strong>em bewussten Umgang mit <strong>der</strong> Gegenwart,<br />
damit wir geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>e menschlichere Zukunft gestalten<br />
können. Der Versöhnungsdienst kann nur gel<strong>in</strong>gen,<br />
wenn wir die Geschichte annehmen und aufnehmen. – Vielen<br />
Dank. (Beifall)<br />
Stellv. Präsident<strong>in</strong> Knodel: Herzlichen Dank, Herr<br />
Oberkirchenrat Timm, für den Bericht. Herzlichen Dank<br />
auch für die Arbeit <strong>der</strong> Kommission, für die Schritte, die<br />
schon gegangen wurden und auch für die Verbundenheit<br />
mit <strong>der</strong> Hoffnung, dass weitere Schritte <strong>in</strong> dieser Richtung<br />
gel<strong>in</strong>gen können und weiter an diesen Schritten <strong>der</strong> Versöhnung<br />
gearbeitet wird.<br />
Oberkirchenrat Timm: Da wir zeitlich früher angefangen<br />
haben und ich Frau von Häfen gebeten hatte, um 10.00<br />
Uhr zu kommen, ist sie jetzt e<strong>in</strong>getroffen und ich möchte