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Klassische Mechanik

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Kapitel 1<br />

Grundlagen: Newtonsche <strong>Mechanik</strong><br />

1.1 Einleitung<br />

Mit der Entwicklung der klassischen <strong>Mechanik</strong> begann die moderne Physik. Die klassische <strong>Mechanik</strong><br />

befasst sich mit der Vorhersage der Bewegung materieller Körper. Die wesentlichen Grundlagen wurden<br />

von Isaak Newton im 17. Jahrhundert gelegt und haben bis heute ihre Gültigkeit. Allerdings muss<br />

man sich dabei auch bewusst machen, dass die Gültigkeit der Newtonschen <strong>Mechanik</strong> nicht universell<br />

ist. Wenn die Geschwindigkeiten sehr groß werden, wird die Newtonsche <strong>Mechanik</strong> durch die spezielle<br />

Relativitätstheorie ersetzt. Wenn die Entfernungen kosmische Ausmaße annehmen, benötigt man die<br />

allgemeine Relativitätstheorie. Wenn umgekehrt die Entfernungen auf atomare Skalen kommen, muss<br />

man die Quantenmechanik anwenden. Und wenn die Teilchenzahlen von der Größenordnung 10 23 sind<br />

und die Teilchen sich chaotisch bewegen, benötigt man zur Beschreibung makroskopischer Variablen die<br />

statistische <strong>Mechanik</strong>.<br />

In diesem ersten Kapitel wiederholen wir nach einem historischen Rückblick die wesentlichen Elemente<br />

der Newtonschen <strong>Mechanik</strong>, die schon von der Experimentalphysik I und der Einführung in die<br />

Theoretische Physik vertraut sind. Da viele Aufgaben in der Newtonschen <strong>Mechanik</strong>, insbesondere wenn<br />

Zwangsbedingungen vorliegen, recht aufwändig zu lösen sind, hat man schon recht bald nach Newton<br />

andere Formulierungen der klassischen <strong>Mechanik</strong> entwickelt, in denen sich diese Probleme leichter lösen<br />

lassen. Gleichzeitig gewähren diese Formulierungen tiefere Einblicke in die Eigenschaften der klassischen<br />

<strong>Mechanik</strong>, und sie enthalten wichtige Konzepte und Prinzipien, die auch in anderen Gebieten der Theoretischen<br />

Physik eine zentrale Rolle spielen. Mit diesen anderen Formulierungen der <strong>Mechanik</strong>, mit allgemeinen<br />

Prinzipien, und mit speziellen Themen werden wir uns in den weiteren Kapiteln dieser Vorlesung<br />

befassen.<br />

1.2 Kleiner historischer Überblick<br />

Einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der klassischen <strong>Mechanik</strong> leistete die Astronomie und das Bestreben,<br />

die Planetenbahnen zu verstehen. Schon in der Antike wurde vereinzelt ein heliozentrisches<br />

Weltbild vertreten, so z.B. von Aristarch von Samos (ca 310-230 v. Chr.), der auch beeindruckende Überlegungen<br />

zur Berechnung von Größe und Abstand von Sonne und Mond anstellte. Das heliozentrische<br />

Weltbild konnte sich aber nicht gegen das von Ptolemäus (85-165 n.Chr.) vertretene geozentrische Weltbild<br />

behaupten. Ein wichtiger Grund hierfür war die fehlende Fixsternparallaxe (das ist eine scheinbare<br />

Veränderung der Position der Fixsterne am Himmel im Jahresverlauf). Ptolemäus beschrieb die Planetenbahnen<br />

durch Epizyklen (Kreisbahnen auf Kreisbahnen) und konnte unter Verwendung von mehr<br />

als 80 solcher Kreise eine beeindruckend große Genauigkeit in der Vorhersage der Planetenbewegung erzielen.<br />

Das Ptolemäische Weltbild war fester Bestandteil der mittelalterlichen Weltsicht und war durch<br />

viele plausible Argumente untermauert. Als Kopernikus (1473-1543) das heliozentrische Weltbild vor-<br />

3


schlug, gab es daher lange anhaltenden Widerstand. Es dauerte deutlich länger als 100 Jahre, bis das<br />

heliozentrische Weltbild anfing sich durchzusetzen. Kopernikus und andere Vertreter dieses Weltbilds<br />

argumentierten mit der größeren Einfachheit (man benötigte nur noch 34 Kreise) und dem grösseren Erklärungspotenzial<br />

(mehrere unabhängige Fakten, wie z.B. die scheinbare Umlaufdauer der Planeten um<br />

die Erde und die generelle Gestalt der Bahnen, konnten nun durch eine gemeinsame Erklärung begründet<br />

werden). Die Gegner argumentierten wie schon in der Antike mit der fehlenden Fixsternparallaxe, dem<br />

Ruhen der Atmosphäre und mit der Beobachtung, dass senkrecht nach oben geworfene Steine wieder<br />

am Ausgangsort landen. Durch die Berechnungen von Johannes Kepler (1571-1630) und die Beobachtungen<br />

von Galileo Galilei (1564-1642) wurden die Argumente für das heliozentrische Weltbild immer<br />

stärker. Als schließlich Issac Newton (1642-1727) die Planetenbahnen aus der Gravitationskraft zwischen<br />

der Sonne und den Planeten, verbunden mit dem Newtonschen Bewegungsgesetz, ableiten konnte, war<br />

kein Widerstand gegen das heliozentrische Weltbild mehr möglich. Interessant an all diesen historischen<br />

Entwicklungen ist auch, dass sowohl die Vertreter des ptolemäischen Weltbildes, als auch die des heliozentrischen<br />

Weltbildes ihre Überzeugungen mit religiösen Argumenten untermauerten. Meist weiß man<br />

nur um den Widerstand der katholischen Kirche gegen Galilei. Doch dies gibt einen falschen Eindruck<br />

von dem sehr komplexen Verhältnis zwischen Christentum und Wissenschaft. Als positives Beispiel kann<br />

man Johannes Kepler anführen. Seine Suche nach den Gesetzen der Planetenbewegung war durch seinen<br />

Glauben motiviert. Er war nämlich davon überzeugt, dass Gott ein großer Mathematiker ist und die Welt<br />

deshalb nach mathematischen Gesetzen geschaffen hat, und dass der Mensch, weil er Gottes Ebenbild ist,<br />

diese Gesetze herausfinden kann.<br />

1.3 Grundlegende Begriffe der Newtonschen <strong>Mechanik</strong><br />

Die grundlegenden Variablen in der Newtonschen <strong>Mechanik</strong> sind Raum r und Zeit t, Masse m und Kraft<br />

F .<br />

Der Raum ist bei Newton dreidimensional, unbegrenzt und euklidisch. Körper können in diesem Raum<br />

ruhen oder sich in ihm bewegen. Die Zeit ist bei Newton eine absolute Zeit, die für jeden Beobachter<br />

gleich schnell dahinströmt.<br />

Wie wir heute wissen, ist die Vorstellung eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit nicht<br />

zutreffend. Dies lehrt uns, dass die Vorstellungen über das Wesen der Welt, die man sich aufgrund einer<br />

Theorie macht, falsch sein können, auch wenn die mit dieser Theorie durchgeführten Berechnungen richtig<br />

sind.<br />

1.4 <strong>Mechanik</strong> eines Teilchens<br />

In vielen Fällen ist es ausreichend, die Bewegung eines Körpers als Bahn eines Massepunktes zu beschreiben.<br />

Wenn allerdings Rotationen oder Deformationen wichtig werden, muss der Körper als ausgedehntes<br />

Objekt beschrieben werden.<br />

Eine Bahnkurve wird durch einen Vektor r(t) beschrieben.<br />

Der entsprechende Geschwindigkeitsvektor v = ˙ r ≡ dr<br />

dt ist tangential zur Bahnkurve und berechnet sich<br />

als<br />

r(t) − r(t − ∆t)<br />

v(t) = lim<br />

∆t→0 ∆t<br />

4


Der Beschleunigungsvektor ist a = ˙ v = ¨ r ≡ d2 r<br />

dt 2<br />

Das Newtonsche Bewegungsgesetz besagt: Es gibt Bezugssysteme (Inertialsysteme), in denen die Bewegung<br />

eines Teilchens der Masse m beschrieben wird durch<br />

F = dp<br />

dt<br />

Hierbei ist p ≡ mv der Linearimpuls. Seine zeitliche Änderung ist<br />

d<br />

= (mv) (1.1)<br />

dt<br />

d<br />

(mv) = ˙mv + ma ,<br />

dt<br />

woraus F = ma folgt, wenn m konstant ist (was wir in der nichtrelativistischen <strong>Mechanik</strong> immer annehmen).<br />

In einem Intertialsystem bewegt sich folglich ein kräftefreies Teilchen geradlinig und mit konstanter<br />

Geschwindigkeit:<br />

m ¨ r = 0 ⇒ r(t) = r(0) + v(0)t<br />

Anmerkung: Über Kräftefreiheit zu entscheiden, ist oft nicht trivial.<br />

Das 1. Newtonsche Axiom besagt, Jeder Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder gleichförmig<br />

”<br />

geradlinigen Bewegung, solange keine Kraft auf ihn einwirkt“. Damit postuliert Newton die Existenz von<br />

Intertialsystemen. Das Bewegungsgesetz F = dp<br />

dt wird als 2. Axiom bezeichnet. Dieses gilt ebenso wie das<br />

erste Gesetz nur in Inertialsystemen.<br />

Das Newtonsche Bewegungsgesetz legt für eine gemessene Beschleunigung nur das Verhältnis von<br />

| F | zu m fest, definiert also weder F noch m. Die Bestimmung von m und damit F wird durch das 3.<br />

Axiom ( actio = reactio“) möglich: Die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von<br />

” ”<br />

entgegengesetzter Richtung“.<br />

Übt Teilchen 1 auf Teilchen 2 die Kraft F21 aus, so gilt dann:<br />

m1 ¨ r1 = F12 = − F21 = −m2 ¨ <br />

¨r1<br />

<br />

<br />

r2 ⇒ m2 = <br />

¨r2<br />

Dies erlaubt die Bestimmung einer Masse m2 als Vielfaches einer bekannten (oder als Norm verwendeten)<br />

Masse m1.<br />

Weitere Basisgrößen sind die Längeneinheit Meter (m) und die Zeiteinheit Sekunde (s). Außerdem<br />

gibt es eine Reihe von aus den Basisgrößen abgeleiteten Größen, wie zum Beispiel die Krafteinheit Newton<br />

(N = kg m<br />

s 2 ).<br />

m1<br />

Aus den Newtonschen Gesetzen lassen sich mehrere Erhaltungssätze ableiten:<br />

1. Linearimpuls p: Wenn die Gesamtkraft Null ist, bleibt der lineare Impuls erhalten:<br />

dp<br />

dt = F = 0 ⇒ p = const<br />

2. Drehimpuls L eines Teilchens um einen Punkt 0: Der Drehimpuls ist definiert als<br />

L ≡ r × p . (1.2)<br />

5


Der Drehimpuls ändert sich, wenn ein Drehmoment<br />

angreift:<br />

d L<br />

dt<br />

Also ist d L<br />

dt = 0, wenn N = 0 ist.<br />

N ≡ r × F (1.3)<br />

d dr dp<br />

= (r × p) = × p + r × = v × p +r ×<br />

dt dt dt <br />

=0<br />

F = N .<br />

3. Gesamtenergie T+V:<br />

Zunächst berechnen wir die an einem Teilchen geleistete Arbeit längs einer Kurve C<br />

<br />

W12 =<br />

C<br />

F · dr (1.4)<br />

Das Kurvenintegral geht in ein gewöhnliches Integral über, falls die im Zeitintervall [t1, t2] durchlaufene<br />

Kurve durch r(t) mit<br />

dr(t) = dr(t)<br />

dt = v(t)dt<br />

dt<br />

beschrieben wird (v ≡ |v|):<br />

W12 =<br />

Damit ist<br />

r2<br />

r1<br />

F (r(t), v(t), t) · dr ≡<br />

t2<br />

gleich der Änderung der kinetischen Energie<br />

t1<br />

<br />

F (r(t), v(t), t) · v(t)dt = m<br />

W12 = m<br />

2 (v2 2 − v 2 1) ≡ T2 − T1<br />

t1<br />

t2<br />

dv<br />

dt<br />

· v(t)dt = m<br />

2<br />

t2<br />

t1<br />

d<br />

dt (v2 (t))dt .<br />

(1.5)<br />

T ≡ m<br />

2 v2 . (1.6)<br />

Wir betrachten im Folgenden Kraftfelder F (r), die nicht von der Geschwindigkeit abhängen. Ein<br />

solches Kraftfeld ist konservativ, wenn<br />

<br />

F (r) · dr = 0 (1.7)<br />

C<br />

ist für jede geschlossene Kurve C. Für konservative Kräfte hängt die Arbeit nicht vom Weg ab, wie<br />

folgende Rechnung zeigt:<br />

<br />

F · dr = C1<br />

<br />

F · dr + C1−C2<br />

<br />

<br />

F · dr = F · dr + C2<br />

<br />

=0<br />

<br />

F · dr<br />

C2<br />

Mit Hilfe des Stokesschen Satzes kann die Bedingung (1.7) geschrieben werden als ∇ × F = 0. Da<br />

die Rotation von Gradienten verschwindet, gilt<br />

Das skalare Feld V (r) heißt Potenzial oder potenzielle Energie.<br />

F (r) = − ∇V (r) . (1.8)<br />

6


Wer lieber zu Fuß rechnet mit explizit ausgeschriebenen Vektorkomponenten, kann folgende Beziehungen<br />

benutzen: Wir verwenden zeitlich konstante orthogonale Einheitsvektoren ex, ey, ez bzgl.<br />

eines Ursprungs. Damit ist<br />

⎛<br />

r = xex + yey + zez = ⎝ x<br />

⎞<br />

y⎠<br />

z<br />

und<br />

und<br />

⎛<br />

∇ × F = ⎝<br />

∇V (r) =<br />

∂<br />

∂x<br />

∂<br />

∂y<br />

∂<br />

∂z<br />

⎞<br />

⎠ ×<br />

⎛<br />

⎝ Fx<br />

Fy<br />

Fz<br />

⎞<br />

⎛<br />

⎠ ⎜<br />

= ⎝<br />

∂Fz<br />

∂y<br />

∂Fx<br />

∂z<br />

∂Fy<br />

∂x<br />

− ∂Fy<br />

∂z<br />

− ∂Fz<br />

∂x<br />

− ∂Fx<br />

∂y<br />

<br />

∂V (r)<br />

∂x ex<br />

∂V (r)<br />

+ ∂y ey<br />

∂V (r)<br />

+ ∂z ez<br />

<br />

=<br />

Wir drücken schließlich die oben berechnete Arbeit für konservative Kraftfelder durch das Potenzial<br />

aus:<br />

t2<br />

t2<br />

t2<br />

W12 = F · v(t)dt = − ∇V · v(t)dt = − ( d<br />

dt V )dt = −(V (r2) − V (r1)) .<br />

t1<br />

t1<br />

t1<br />

⎛<br />

⎝<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠<br />

∂V<br />

∂x<br />

∂V<br />

∂y<br />

∂V<br />

∂z<br />

Den vorletzten Schritt können wir mit Hilfe der Kettenregel nachvollziehen:<br />

Also folgt schließlich<br />

⎞<br />

⎠ .<br />

d ∂V dx ∂V dy ∂V dz<br />

V (r(t)) = + +<br />

dt ∂x dt ∂y dt ∂z dt ≡ ∇V · dr<br />

dt .<br />

W12 = V1 − V2<br />

Daraus folgt mit (1.5) der Energieerhaltungssatz:<br />

W12 = T2 − T1 = V1 − V2 ⇔ T1 + V1 = T2 + V2<br />

Für konservative Kräfte ist die Summe aus kinetischer und potenzieller Energie konstant!<br />

Beispiel 1:<br />

Die Kraft F = (y, x2<br />

2m<br />

(1.9)<br />

(1.10)<br />

, x + z) N<br />

m bewege ein Teilchen zwischen den Punkten r1 = (2m, 0, 0) und<br />

r2 = (2m, 0, 4m).<br />

a) Berechne die geleistete Arbeit auf einer Geraden parallel zur z-Achse.<br />

b) Hängt die Arbeit von der Wahl des Weges zwischen den beiden Punkten ab?<br />

Lösung:<br />

a) Mit dem Einheitsvektor ez in z-Richtung gilt dr = ezdz und<br />

W =<br />

r2<br />

r1<br />

F · dr =<br />

4m<br />

0<br />

4m<br />

F (2m, 0, z) · ezdz = (2m + z) N<br />

1<br />

dz = (2mz +<br />

m 2 z2 ) N<br />

<br />

<br />

<br />

m <br />

0<br />

4m<br />

0<br />

= 16Nm<br />

b) Die Arbeit hängt genau dann nicht vom Weg ab, wenn das Kraftfeld konservativ ist. Dazu muss die<br />

Rotation des Kraftfeldes verschwinden, d. h. es müssen die Integrabilitätsbedingungen ∂Fi/∂rk = ∂Fk/∂ri<br />

(i, k = 1, 2, 3) erfüllt sein. Wir testen dies für i = x und k = y:<br />

∂Fx<br />

∂y<br />

N ∂Fy<br />

= =<br />

m ∂x<br />

7<br />

xN<br />

= .<br />

m2


Also existiert kein Potenzial, und das Linienintegral ist wegabhängig.<br />

Beispiel 2: Skifahrer<br />

Die Anfangsgeschwindigkeit sei v(t = 0) = v0 = 0. Was ist die Endgeschwindigkeit (ohne Reibung)?<br />

Lösung:<br />

Wir lösen diese Aufgabe mit Hilfe der Energieerhaltung. Wir haben nämlich mit F = mg ein konservatives<br />

Kraftfeld. Bei z = h gilt:<br />

E1 = T1 + V1 = V1 = mgh .<br />

Bei z = 0 gilt:<br />

Also folgt aus der Energieerhaltung:<br />

E2 = T2 + V2 = T2 = 1<br />

2 mv2 .<br />

mgh = 1<br />

2 mv2 ⇒ v = 2gh .<br />

Die Fallbeschleunigung beträgt im Mittel über die Erdoberfläche<br />

g = 9, 81 m<br />

.<br />

s2 1.5 <strong>Mechanik</strong> eines Systems von Teilchen<br />

Wir betrachten ein System aus N Teilchen, deren Orte und Massen wir mit ri und mi bezeichnen, mit<br />

i = 1, 2, . . . , N. Eine Kraft auf das Teilchen i heißt innere Kraft, wenn sie von einem anderen Teilchen<br />

j ausgeht, sonst heißt sie äußere Kraft ( F (ex) ). Hängt die innere Kraft, die zwei Teilchen aufeinander<br />

ausüben, nicht von der Anwesenheit eines dritten Teilchens ab, so heißt sie Zweikörperkraft, sonst<br />

Mehrkörperkraft.<br />

Für zentrale Zweikörperkräfte gilt für die vom Teilchen j auf Teilchen i ausgeübte Kraft (r = |r|):<br />

Fij(rij) = fij(rij) rij<br />

, rij ≡ ri − rj . (1.11)<br />

rij<br />

Beispiele für zentrale Zweikörperkräfte sind die Coulombkraft zwischen zwei Ladungen e1 und e2<br />

F12 = e1e2<br />

r 2 12<br />

und die Gravitationskraft zwischen zwei Massen m1 und m2<br />

r12<br />

r12<br />

F12 = −G m1m2<br />

r 2 12<br />

Hierbei ist G die Newtonsche Gravitationskonstante G 6, 673 · 10 −11 Nm 2 kg −2 .<br />

8<br />

r12<br />

r12<br />

(1.12)<br />

. (1.13)


Das Potenzial der Gravitationskraft ist<br />

V12 = −G m1m2<br />

. (1.14)<br />

Allgemein hängen die Potenziale Vij zu konservativen zentralen Zweikörperkräften Fij(r) = − ∇Vij(r)<br />

nur vom Abstandsbetrag r = |r| ab. Dies zeigen wir folgendermaßen:<br />

− ∇Vij(r) =<br />

<br />

∂<br />

−<br />

∂x Vij(r)ex + ∂<br />

∂y Vij(r)ey + ∂<br />

∂z Vij(r)ez<br />

=<br />

<br />

− dVij(r)<br />

<br />

∂r<br />

dr ∂x ex + ∂r<br />

∂y ey + ∂r<br />

∂z ez<br />

<br />

= fij(r) r<br />

r ≡ Fij(r)<br />

mit<br />

fij(r) = − dVij(r) ∂r ∂ x<br />

, = x2 + y2 + z2 =<br />

dr ∂x ∂x<br />

r etc.<br />

Für Mehrteilchensysteme gilt der Schwerpunktsatz, der Drehimpulssatz, und der Energiesatz, die wir<br />

im Folgenden herleiten.<br />

1.5.1 Schwerpunktsatz<br />

Den Schwerpunktsatz erhalten wir ausgehend von den Bewegungsgleichungen<br />

dpi<br />

dt = F (ex)<br />

i + <br />

j mit j=i<br />

r12<br />

Fij für i = 1, ..., N .<br />

Für innere Kräfte gilt Fij = − Fji (actio = reactio). Es ist Fii = 0. Also ist<br />

Wir definieren den Gesamtimpuls<br />

N<br />

i=1<br />

dpi<br />

dt =<br />

N<br />

i=1<br />

P =<br />

die gesamte äußere Kraft (z.B. die Gewichtskraft)<br />

die Gesamtmasse<br />

und den Ortsvektor des Schwerpunkts<br />

F (ex) =<br />

M =<br />

R = 1<br />

M<br />

F (ex)<br />

i<br />

+<br />

N<br />

pi ,<br />

i=1<br />

N<br />

i=1<br />

N<br />

i=1<br />

N<br />

i,j=1<br />

F (ex)<br />

i ,<br />

mi<br />

N<br />

miri .<br />

i=1<br />

9<br />

Fij<br />

<br />

=0<br />

(1.15)


Damit erhalten wir<br />

also<br />

P =<br />

N<br />

i=1<br />

mi ˙ ri = M d<br />

<br />

N<br />

<br />

1<br />

miri<br />

dt M<br />

i=1<br />

<br />

R<br />

Der Gesamtimpuls ist identisch mit dem Schwerpunktimpuls.<br />

Mit (1.15) folgt der Schwerpunktsatz<br />

P = M ˙ R . (1.16)<br />

˙P = M ¨ R = F (ex) . (1.17)<br />

Der Schwerpunkt bewegt sich so, als ob die gesamte Masse in ihm vereint wäre und alle äußeren Kräfte<br />

an ihm wirken würden.<br />

1.5.2 Drehimpulssatz<br />

Den Drehimpulssatz leiten wir ausgehend von der Formel für den Gesamtdrehimpuls L der N Teilchen<br />

her. Unter Verwendung von (1.2) ergibt sich<br />

N N<br />

L = Li = ri × pi . (1.18)<br />

Das äußere Gesamtdrehmoment N (ex) ist die Summe der einzelnen Momente (1.3):<br />

i=1<br />

N (ex) =<br />

Damit ist die Zeitableitung des Drehimpulses<br />

d L<br />

dt =<br />

=<br />

=<br />

N<br />

i=1<br />

d<br />

dt (ri × pi) =<br />

N<br />

i=1<br />

N<br />

i=1<br />

i=1<br />

ri × F (ex)<br />

i . (1.19)<br />

d<br />

<br />

ri × mi<br />

dt<br />

˙ <br />

ri<br />

N <br />

mi ˙ ri × ˙ ri +miri ×<br />

<br />

=0<br />

¨ ⎛<br />

⎞<br />

N<br />

N<br />

ri = ri × ⎝F (ex)<br />

i + Fij⎠<br />

i=1<br />

j=1<br />

N<br />

N<br />

+ (ri − rj) × Fij. (1.20)<br />

i=1<br />

i=1<br />

ri × F (ex)<br />

i<br />

i


wobei ri ′ die Darstellung des Ortsvektors in K ′ ist:<br />

ri ′ = <br />

Die Geschwindigkeiten transformieren sich gemäß<br />

und wir erhalten den Gesamtdrehimpuls<br />

L =<br />

i=1<br />

i<br />

ri ′ ei ′ . (1.23)<br />

vi = V + vi ′ , V = ˙ R (1.24)<br />

N<br />

N <br />

ri × pi = R + ri ′<br />

<br />

× V + vi ′<br />

mi<br />

i=1<br />

= R × N V M + miri ′<br />

× N<br />

V +<br />

i=1<br />

<br />

=0<br />

i=1<br />

mi (ri ′ × vi ′ )<br />

+ R × d<br />

<br />

N<br />

miri<br />

dt<br />

i=1<br />

′<br />

<br />

. (1.25)<br />

<br />

=0<br />

Da sich alle Vektoren ri ′ auf den Schwerpunkt beziehen, verschwindet N<br />

i=1 miri ′ (wegen N<br />

i=1 miri =<br />

M R + N<br />

i=1 miri ′ = M R), und wir erhalten<br />

L = L (Bahn) + L (Eigen) = R × P +<br />

N<br />

i=1<br />

ri ′ × pi ′<br />

(1.26)<br />

Der Gesamtdrehimpuls setzt sich also zusammen aus dem Drehimpuls des im Schwerpunkt konzentrierten<br />

Systems (Bahndrehimpuls) und dem Drehimpuls der Bewegung bezüglich des Massenzentrums<br />

(innerer oder Eigendrehimpuls). Wir schließen daraus, dass der Gesamtdrehimpuls vom Koordinatenursprung<br />

abhängt.<br />

1.5.3 Energiesatz<br />

Für zentrale Zweiteilchenkräfte können wir die Bewegungsgleichung des i-ten Teilchens schreiben als<br />

mi ¨ ri = − ∇i<br />

<br />

Vij + F (ex)<br />

i . (1.27)<br />

j mit j=i<br />

Das Symbol ∇i bedeutet hierbei den Gradienten bzgl. des Ortsvektors von Teilchen i. Multipliziert man<br />

die Gleichung skalar mit ˙ ri, so erhält man nach Summation über i<br />

N<br />

mi ˙ ri · ¨ ri = 1 d<br />

2 dt<br />

i=1<br />

= −<br />

Mit d<br />

dt V (r(t)) = ∇V · ˙ r ergibt sich<br />

1 d<br />

2 dt<br />

N<br />

i=1<br />

N<br />

i=1<br />

i


oder<br />

⎛<br />

d<br />

⎝<br />

dt<br />

N<br />

i=1<br />

1<br />

2 mi (vi) 2 +<br />

N<br />

i,j=1,i


(b) Berechnen Sie für allgemeine a und b die Arbeit, die das Feld leistet, wenn ein Teilchen sich<br />

geradlinig von (x, y) = (0, 0) über (0, 1) nach (1, 1) bewegt.<br />

(c) Geben Sie (ohne Rechnung) die Arbeit an, die das Feld leistet, wenn das Teilchen sich geradlinig<br />

von (0, 0) über (1, 0) nach (1, 1) bewegt. Welche Bedingung müssen a und b erfüllen, damit die<br />

Arbeit in beiden Fällen gleich ist?<br />

2. Ein Pendel der Masse m hängt an einer masselosen Stange der Länge l und ist so gelagert, dass es<br />

sich reibungsfrei um 360 Grad bzw 2π in der x − y-Ebene drehen kann. Die Gravitationskraft wirkt<br />

in −y-Richtung. Die Auslenkung aus der stabilen Ruhelage wird durch den Winkel ϕ beschrieben.<br />

(a) Drücken Sie den Drehimpuls L des Pendels um den Aufhängepunkt durch m, l und ˙ϕ aus.<br />

(b) Das Pendel wird anfangs in die instabile Gleichgewichtslage ϕ = π gebracht und aus der<br />

Ruhe losgelassen. Berechnen Sie mit dem Energieerhaltungssatz die Geschwindigkeit v und<br />

den Drehimpuls L beim Durchgang durch den Punkt ϕ = 0.<br />

(c) Nun wird das Pendel bei einer beliebigen Anfangsauslenkung ϕ0 losgelassen (mit Anfangsimpuls<br />

0). Drücken Sie unter Verwendung der Energieerhaltung die Schwingungsperiode T als<br />

Integral aus. Dieses Integral lässt sich näherungsweise berechnen, indem man kleine ϕ0 betrachtet<br />

und den Integranden bis zur vierten Ordnung in ϕ0 bzw ϕ entwickelt. Was ergibt sich<br />

daraus für die Schwingungsperiode T ?<br />

(d) Zeichnen Sie in der ϕ − Lz-Ebene alle qualitativ verschiedenen Trajektorien, die das Pendel<br />

nehmen kann. Man nennt ein solches Bild ein Phasenraumportrait.<br />

13


Kapitel 2<br />

Zwangsbedingungen und das<br />

d’Alembert-Prinzip<br />

2.1 Zwangsbedingungen<br />

Oft treten in der <strong>Mechanik</strong> Zwangsbedingungen auf, die den Newtonschen Bewegungsgleichungen<br />

mi ¨ ri = Fi, i = 1, . . . , N<br />

geometrische Einschränkungen auferlegen. Dadurch wird die Zahl der Freiheitsgrade verringert, und sie<br />

beträgt nicht mehr 3N.<br />

Es erweist sich als zweckmäßig, die Koordinaten so zu wählen, dass sie möglichst gut zu den Zwangsbedingungen<br />

passen. Kartesische Koordinaten sind längst nicht immer die beste Wahl. Wir führen sogenannte<br />

verallgemeinerte (“generalisierte”) Koordinaten ein. Dies dürfen beliebige Größen sein, die die<br />

Konfigurationen eines mechanischen Systems kennzeichnen können. Sie müssen nicht die Dimension einer<br />

Länge haben. Wir kennen von den Zylinder- und Polarkoordinaten schon die Winkel als verallgemeinerte<br />

Koordinaten. Allgemein notieren wir verallgemeinerte Koordinaten mit qj, j = 1, . . . , 3N. Die<br />

kartesischen Koordinaten lassen sich als Funktionen der qj und der Zeit schreiben:<br />

xi = xi(q1, . . . , q3N ; t), yi = yi(q1, . . . , q3N; t), zi = zi(q1, . . . , q3N; t) .<br />

2.1.1 Klassifizierung von Zwangsbedingungen<br />

Holonome Zwangsbedingungen<br />

Holonome Zwangsbedingungen haben für ein System, das durch 3N verallgemeinerte Koordinaten festgelegt<br />

ist, die Form<br />

fi(q1, . . . , q3N; t) = 0 , i = 1, . . . , k mit k ≤ 3N . (2.1)<br />

In differenzieller Form wird dies zu<br />

mit<br />

dfi = <br />

aijdqj + bidt = 0 , j = 1, . . . , 3N (2.2)<br />

j<br />

aij ≡ ∂fi<br />

, bi ≡<br />

∂qj<br />

∂fi<br />

∂t .<br />

Wenn Zwangsbedingungen nur in differenzieller Form gegeben sind, kann man erkennen, dass sie holonom<br />

sind, indem man die Integrabilitätsbedingungen überprüft. Es muss nämlich gelten<br />

∂ 2 fi<br />

∂ql∂qj<br />

≡ ∂aij<br />

∂ql<br />

= ∂ail<br />

∂qj<br />

≡ ∂2 fi<br />

∂qj∂ql<br />

14<br />

und ∂aij<br />

∂t<br />

∂bi<br />

= . (2.3)<br />

∂qj


Wenn es k holonome Zwangsbedingungen gibt, wird die Zahl der Freiheitsgrade auf 3N − k erniedrigt.<br />

Wir betrachten drei Beispiele:<br />

1. Starrer Körper: In einem starren Körper können sich die Abstände zwischen den Punkten nicht<br />

ändern. Seine Lage wird durch drei körperfeste Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen, eindeutig<br />

bestimmt. Diese drei Punkte haben feste Abstände |ri − rj| (mit i, j = 1, 2, 3) voneinander, so<br />

dass sie zusammen nicht 9 sondern nur 6 Freiheitsgrade haben. Dies ist somit auch die Zahl der<br />

Freiheitsgrade des starren Körpers.<br />

2. Zylinder mit Radius r, der auf einer Ebene rollt: Da der Zylinder die Richtung seiner Achse nicht<br />

ändern kann, betrachten wir einen zweidimensionalen Querschnitt, also eine Kreisscheibe, die auf<br />

einer Geraden rollt, die mit der x-Achse den Winkel α bildet. In einer zweidimensionalen Welt hat<br />

ein starrer Körper nur noch 3 Freiheitsgrade, für unsere Kreisschreibe sind dies z.B. die Koordinaten<br />

des Auflagepunkts (xA, yA) und der Rollwinkel ϕ. Die Zwangsbedingungen sind<br />

Es bleibt also ein Freiheitsgrad übrig.<br />

xA − rϕ cos α = 0 und yA − rϕ sin α = 0 . (2.4)<br />

3. Rutschende Perle auf rotierendem parabelförmigem Draht: Ein parabelförmiger Draht rotiere mit<br />

der Winkelgeschwindigkeit ω um die z-Achse. In Zylinderkoordinaten r, ϕ, z gelten für die Perle die<br />

folgenden Zwangsbedingungen:<br />

ϕ = ωt( oder ωt − π) und z − ar 2 = 0 . (2.5)<br />

Hierbei ist a die (positive) Krümmung der Parabel am Ursprung. Es bleibt also ein Freiheitsgrad<br />

übrig.<br />

2.1.2 Nicht-holonome Zwangsbedingungen<br />

Nicht-holonome Zwangsbedingungen sind geometrische Einschränkungen, die sich nicht durch Gleichungen<br />

zwischen den generalisierten Koordinaten und der Zeit darstellen lassen. Sie können die Form von<br />

Ungleichungen haben, oder sie können eine differenzielle Form haben, die nicht die Integrabilitätsbedingungen<br />

(2.3) erfüllt. Beispiele sind<br />

15


1. Teilchen im würfelförmigen Kasten: hier gelten die Einschränkungen 0 ≤ x ≤ L , 0 ≤ y ≤ L , 0 ≤<br />

z ≤ L .<br />

2. Rollende Kreisschreibe: Eine Kreisschreibe ist ein starrer Körper und hat ohne Berücksichtigung<br />

der Zwangsbedingungen 6 Freiheitsgrade. Wenn man die Bedingung auferlegt, dass ein Punkt des<br />

Umfangs die Auflageebene berühren soll, bleiben 5 Freiheitsgrade. Wir wählen als verallgemeinerte<br />

Koordinaten die Koordinaten des Auflagepunktes (xA, yA), die “Rollrichtung” ϕ (Winkel zwischen<br />

der x-Achse und der Schnittlinie von Scheibenebene und Boden), den Neigungswinkel ϑ der Scheibe<br />

und den Rollwinkel ψ. Die Rollbedingung (vgl. (2.4)) sorgt dafür, dass die Scheibe sich zu jedem<br />

Zeitpunkt in Richtung der momentanen Scheibenebene bewegt:<br />

dxA = −r dψ cos ϕ und dyA = −r dψ sin ϕ . (2.6)<br />

Da die Scheibenebene ihre Orientierung ändern kann, ist dies aber keine holonome Zwangsbedingung.<br />

Die Scheibe kann sich zwar immer nur in der Richtung bewegen, in der ihre Ebene zeigt, aber<br />

sie kann im Laufe der Zeit trotzdem jede durch die 5 Freiheitsgrade beschriebene Konfiguration<br />

einnehmen. Das ist wie bei einem Fahrrad: Man kann zwar immer nur in Richtung des Vorderrades<br />

fahren, aber indem man das Vorderrad geeignet dreht, kann man letztlich überall hinkommen, mit<br />

jeder gewünschten Fahrradorientierung und -neigung (naja....) und jedem gewünschten Drehwinkel<br />

der Räder. (Die Analogie zwischen Fahrrad und Kreisscheibe ist offensichtlicher, wenn man ein<br />

Einrad statt eines normalen Fahrrads betrachtet....).<br />

Division durch dt führt die Zwangsbedingungen (2.6) über in<br />

˙xA + r ˙ ψ cos ϕ = 0 , ˙yA + r ˙ ψ sin ϕ = 0 . (2.7)<br />

Da es für ϕ keine Zwangsbedingung gibt (im Gegensatz zu obigem Beispiel mit dem rollenden<br />

Zylinder), lässt sich die Bedingung (2.6) bzw. (2.7) nicht integrieren.<br />

Nichtholonome Zwangsbedingungen, die eine differenzielle Form haben, haben allgemein die Gestalt<br />

<br />

aijdqj + bidt = 0 , (2.8)<br />

j<br />

bzw. <br />

aij ˙qj + bi = 0 . (2.9)<br />

Die aij und bi erfüllen nicht die Bedingung (2.3). Sie haben die allgemeine Form<br />

j<br />

aij = aij(q1, . . . , q3N ; t) bi = bi(q1, . . . , q3N; t) . (2.10)<br />

16


Sie hängen von den verallgemeinerten Koordinaten und der Zeit ab, aber nicht von den Geschwindigkeiten.<br />

Zwangsbedingungen, die die Zeit explizit enthalten, heißen “rheonom” (d.h. “fließend”), zeitunabhängige<br />

Zwangsbedingungen heißen skleronom (“starr”). Von den bisher genannten Beispielen ist nur das<br />

Beispiel mit der Perle auf dem rotierenden Draht (2.5) rheonom.<br />

2.1.3 Zwangskräfte<br />

Aufgrund von Zwangsbedingungen gibt es neben den “inneren” (zwischen den Teilen des Systems wirkenden)<br />

und “äußeren” (von außen angreifenden) Kräften noch die sogenannten “Zwangskräfte”, die durch<br />

diejenigen Vorrichtungen ausgeübt werden, die für die Zwangsbedingungen verantwortlich sind. Wenn<br />

z.B. ein Buch auf einem Tisch liegt, übt die Tischfläche auf das Buch eine Zwangskraft aus, die der<br />

Gravitationskraft entgegengerichtet und ebenso groß wie diese ist, so dass das Buch auf dem Tisch ruht.<br />

Wenn es Zwangsbedingungen gibt, müssen diese Zwangskräfte in den Newtonschen Bewegungsgleichungen<br />

berücksichtigt werden:<br />

mi ¨ ri = Fi + Zi , (2.11)<br />

wobei Fi die Summe aus den äußeren und inneren Kräften darstellt und Zi die Zwangskraft auf das<br />

i-te Teilchen. Allgemeine Regeln zur Bestimmung der Zwangskräfte werden wir später formulieren. Für<br />

den Fall, dass wir es mit zeitunabhängigen Zwangsbedingungen zu tun haben (wie Berandungen, Verbindungsstangen,<br />

etc.), gilt die Regel, dass die Zwangskräfte insgesamt keine Arbeit verrichten dürfen. Wenn<br />

sie es täten, wäre der Energieerhaltungssatz verletzt und man könnte ein Perpetuum mobile bauen. Da<br />

den Berandungen und Stangen etc. keine Energie zugeführt wird, können sie auch keine abgeben.<br />

Um diese Bewegungsgleichungen zu lösen, muss man die Zwangskräfte entweder berechnen oder eliminieren.<br />

Dies kann man durch ein systematisches Vorgehen wie im Folgenden gezeigt durchführen. Mit<br />

Hilfe der k Zwangsbedingungen kann man die generalisierten Koordinaten auf 3N −k unabhängige Koordinaten<br />

reduzieren und die k Zwangskräfte eliminieren. Allerdings werden die Rechnungen recht schnell<br />

aufwendig, und wir werden im weiteren Verlauf der Vorlesung elegantere Methoden zum Lösen von mechanischen<br />

Aufgaben mit Zwangbedingungen kennenlernen.<br />

Beispiel 1: Teilchen im Kreiskegel Eine Punktmasse m gleitet reibungsfrei auf der Innenseite eines<br />

Kreiskegels. Die Gravitationskraft wirkt in negative z-Richtung.<br />

x<br />

z<br />

ϕ<br />

r<br />

g<br />

y<br />

(Bild stammt von http://www.semibyte.de/dokuwiki/nat/graphiken/physik/teilchen auf kreiskegel)<br />

Die Bewegungsgleichungen (2.11) sind<br />

m¨x = Zx ; m¨y = Zy ; m¨z = Zz − mg .<br />

Wir wählen Zylinderkoordinaten (r, z, ϕ) als generalisierte Koordinaten. Die Zwangsbedingung ist<br />

r − z tan α = 0 ,<br />

wobei α den Winkel der Zylinderwand mit der z-Achse darstellt (nicht im Bild eingezeichnet). Wir wählen<br />

r und ϕ als unabhängige Koordinaten. Dann gilt<br />

(x, y, z) = r(cos ϕ, sin ϕ, cot α) .<br />

17


Also ist<br />

¨x = ¨r cos ϕ − 2 ˙r ˙ϕ sin ϕ − r ¨ϕ sin ϕ − r ˙ϕ 2 cos ϕ<br />

¨y = ¨r sin ϕ + 2 ˙r ˙ϕ cos ϕ + r ¨ϕ cos ϕ − r ˙ϕ 2 sin ϕ<br />

¨z = ¨r cot α .<br />

Eingesetzt in die Bewegungsgleichungen gibt das<br />

Zx = m(¨r cos ϕ − 2 ˙r ˙ϕ sin ϕ − r ¨ϕ sin ϕ − r ˙ϕ 2 cos ϕ) (2.12)<br />

Zy = m(¨r sin ϕ + 2 ˙r ˙ϕ cos ϕ + r ¨ϕ cos ϕ − r ˙ϕ 2 sin ϕ) (2.13)<br />

Zz = m(¨r cot α + g) . (2.14)<br />

Diese drei Gleichungen enthalten fünf Unbekannte: r(t), ϕ(t), Zx, Zy, Zz. Wir müssen also zum Lösen der<br />

Gleichungen noch weitere Informationen verwenden. Diese stecken in der Bedingung, dass die Zwangskräfte<br />

senkrecht auf den Wänden stehen (weil sie keine Arbeit verrichten). Also gilt<br />

<br />

Zy cos ϕ = Zx sin ϕ und Zz = Z2 x + Z2 y tan α<br />

bzw. Zz cos ϕ = −Zx tan α. Wir subtrahieren die mit sin ϕ multiplizierte Gleichung (2.12) von der mit<br />

cos ϕ multiplizierten Gleichung (2.13) und erhalten<br />

2 ˙r ˙ϕ + r ¨ϕ = 0 . (2.15)<br />

Addition der mit tan α multiplizierten Gleichung (2.12) und der mit cos ϕ multiplizierten Gleichung (2.14)<br />

ergibt<br />

(tan α + cot α)¨r − r ˙ϕ 2 tan α + g = 0 . (2.16)<br />

Wir haben also zwei gekoppelte Differenzialgleichungen für die beiden unabhängigen Variablen r und ϕ.<br />

(Bemerkung: Dieses Problem ist nur dann wohl definiert, wenn man davon ausgeht, dass die Geschwindigkeit<br />

des Teilchens eine von Null verschiedene Komponente in ϕ-Richtung hat. Sonst würde das<br />

Teilchen in der Kegelspitze landen, wo die Zwangsbedingung nicht mehr differenzierbar ist. Wir gehen<br />

also hier und bei allen später im Skript vorkommenden Rechnungen zu diesem Problem davon aus, dass<br />

es eine Geschwindigkeitskomponente in ϕ-Richtung gibt.)<br />

Beispiel 2: Rollpendel ohne Reibung:<br />

Der Aufhängepunkt eines Pendels sei in der x-Achse angebracht und mit einer Masse m1 versehen,<br />

die längs der x-Achse reibungsfrei gleiten kann. Die Pendelmasse m2 hängt an einem masselosen Faden<br />

der Länge l. Die 4 Koordinaten x1, y1, x2, y2, die die Position der Massen m1 und m2 beschreiben, unterliegen<br />

zwei Zwangsbedingungen, so dass nur zwei unabhängige Koordinaten übrigbleiben. Wir wählen als<br />

unabhängige generalisierte Koordinaten den Auslenkwinkel ϕ und die Position x1 der Masse m1. Nach<br />

(2.11) lauten die Bewegungsgleichungen<br />

m1¨x1 = Z1x , m1¨y1 = −m1g + Z1y<br />

m2¨x2 = Z2x , m2¨y2 = −m2g + Z2y .<br />

18


Die Zwangsbedingungen sind y1 = 0 und (x2 − x1) 2 + (y2 − y1) 2 = l 2 . Wir eliminieren nun x2 und y2<br />

via<br />

x2 = x1 + l sin ϕ , y2 = −l cos ϕ<br />

und<br />

und<br />

¨x2 = ¨x1 + d<br />

dt (l ˙ϕ cos ϕ) = ¨x1 + l ¨ϕ cos ϕ − l ˙ϕ 2 sin ϕ<br />

¨y2 = d<br />

dt (l ˙ϕ sin ϕ) = l ¨ϕ sin ϕ + l ˙ϕ2 cos ϕ .<br />

Die Bewegungsgleichungen für die unabhängigen Koordinaten x1 und ϕ sind dann<br />

m1g = Z1y<br />

m1¨x1 = Z1x<br />

m2(¨x1 + l ¨ϕ cos ϕ − l ˙ϕ 2 sin ϕ) = Z2x<br />

m2(l ¨ϕ sin ϕ + l ˙ϕ 2 cos ϕ + g) = Z2y . (2.17)<br />

Die erste Gleichung ist keine Bewegungsgleichung und wird zur Bestimmung der Bahn nicht benötigt.<br />

Wir haben also 3 Gleichungen für die 5 Größen x1, ϕ, Z1x, Z2x, Z2y. Allerdings sind die drei Zwangskraftkomponenten<br />

nicht unabhängig voneinander. Es ist nämlich<br />

und<br />

Mit (2.17) folgt<br />

und daraus<br />

Analog erhalten wir auch<br />

und daraus<br />

Z1x = −Z2x<br />

Z2x cos ϕ = −Z2y sin ϕ .<br />

m1¨x1 = −m2(¨x1 + l ¨ϕ cos ϕ − l ˙ϕ 2 sin ϕ)<br />

(m1 + m2)¨x1 = m2l( ˙ϕ 2 sin ϕ − ¨ϕ cos ϕ) . (2.18)<br />

m2(¨x1 + l ¨ϕ cos ϕ − l ˙ϕ 2 sin ϕ) cos ϕ = −m2(l ¨ϕ sin ϕ + l ˙ϕ 2 cos ϕ + g) sin ϕ<br />

¨x1 cos ϕ + l ¨ϕ + g sin ϕ = 0 . (2.19)<br />

Also haben wir zwei gekoppelte Differenzialgleichungen für die beiden Variablen x1 und ϕ.<br />

19


2.2 Das d’Alembert-Prinzip<br />

Um die Schwierigkeiten zu beseitigen, dass Zwangskräfte i.A. unbekannt sind, soll hier die <strong>Mechanik</strong><br />

so formuliert werden, dass in ihr Zwangskräfte nicht auftreten. Diese neue Formulierung beruht auf der<br />

schon gemachten Feststellung, dass Zwangsflächen, Achsen, Stangen usw. nicht den Energieerhaltungssatz<br />

verletzen. Dies bedeutet, dass Zwangsbedingungen keine Arbeit leisten, es sei denn, sie werden durch<br />

Antriebe bewegt. Dann liegen aber rheonome Zwangsbedingungen vor. Durch einen Trick können wir<br />

erreichen, dass wir die von ihnen verrichtete Arbeit nicht berücksichtigen müssen: Wir betrachten nämlich<br />

sogenannte “virtuelle Verrückungen”, das sind mit den Zwangsbedingungen verträgliche Verschiebungen<br />

bei festgehaltener Zeit:<br />

Definition: Eine virtuelle Verrückung δri des i-ten Teilchens ist eine Verschiebung mit den Eigenschaften<br />

• δri ist infinitesimal<br />

• δri ist mit den Zwangsbedingungen verträglich<br />

• δri erfolgt instantan, d.h. dt = 0 (daher “virtuell”)<br />

Ein einfaches Beispiel ist eine Perle auf einem bewegten Draht:<br />

Der Draht sei parallel zu x-Achse und bewege sich mit Geschwindigkeit v in y-Richtung. Für reelle<br />

Verschiebungen dr der Perle ist dt = 0, und bei einer reellen Verschiebung hat dr eine von Null<br />

verschiedene y-Komponente. Eine virtuelle Verschiebung δr dagegen ist parallel zur x-Achse.<br />

Mit den Bewegungsgleichungen (2.11)<br />

folgt<br />

i=1<br />

mi ¨ ri − Fi = Zi<br />

N<br />

(mi ¨ ri − N<br />

Fi) · δri = Zi · δri<br />

Wir postulieren nun: Zwangskräfte verrichten in ihrer Gesamtheit keine virtuelle Zwangsarbeit, d.h.<br />

i=1<br />

(2.20)<br />

N<br />

Zi · δri = 0 . (2.21)<br />

i=1<br />

Das bedeutet, dass zeitunabhängige Zwangsbedingungen und festgehaltene zeitabhängige Zwangsbedingungen<br />

keine Arbeit verrichten. Zwangsbedingungen können nur dann Arbeit verrichten, wenn diese aktiv<br />

in das System hineingesteckt wird, indem Stangen, Berandungen etc. verschoben werden.<br />

Das d’Alembert-Prinzip (2.21) führt mit (2.20) auf die d’Alembert-Gleichung<br />

N<br />

(mi ¨ ri − Fi) · δri = 0 . (2.22)<br />

i=1<br />

Sie enthält keine Zwangskräfte und ist zur Lösung von Problemen mit Zwangsbedingungen geeignet.<br />

20


Beachte: Die Summanden in (2.22) dürfen nicht einzeln gleich Null gesetzt werden!<br />

Für k holonome Zwangsbedingungen mit unabhängigen Koordinaten qj, j = 1, . . . , 3N − k und der<br />

Transformation<br />

ri = ri(q1, . . . , q3N−k; t) , , i = 1, . . . N<br />

gilt<br />

δri =<br />

3N−k <br />

j=1<br />

∂ri<br />

δqj . (2.23)<br />

∂qj<br />

In (2.23) tritt ∂ri/∂t nicht auf, da δri instantan ist. Einsetzen von (2.23) in (2.22) ergibt<br />

<br />

3N−k N<br />

(mi ¨ ri − Fi) · ∂ri<br />

<br />

δqj = 0 .<br />

∂qj<br />

j=1<br />

i=1<br />

Die ersten 3N − k Werte von δqj können unabhängig gewählt werden. (Die übrigen k Werte liegen dann<br />

eindeutig fest, weil die Zwangsbedingungen erfüllt sein müssen.) Insbesondere kann man auch alle bis auf<br />

einen der ersten 3N − k Werte von δqj zu Null setzen. Damit ergeben sich die d’Alembert-Gleichungen<br />

für holonome Zwangsbedigungen:<br />

N<br />

(mi ¨ ri − Fi) · ∂ri<br />

= 0 , j = 1, . . . 3N − k . (2.24)<br />

∂qj<br />

i=1<br />

Anhand des Rollpendels können wir sowohl sehen, dass die Summanden in (2.21) der virtuellen Zwangsarbeit<br />

ungleich null sind, als auch dass sich die Bewegungsgleichungen der unabhängigen Freiheitsgrade<br />

mit den d’Alembert-Gleichungen sehr schnell herleiten lassen.<br />

Z<br />

Die virtuellen Verrückungen sind δr1 und δr2 = δr1 + δr rot<br />

und Z2 = − F aden Z . Damit ergibt sich<br />

F aden<br />

1<br />

Und<br />

1<br />

Z1 · δr1 = ( Z Schiene<br />

1<br />

+ Z<br />

F aden<br />

1<br />

2 . Die Zwangskräfte sind Z1 = ZSchiene 1<br />

) · δr1 = Z<br />

Z2 · δr2 = − F aden<br />

Z1 · (δr1 + δr rot<br />

2 ) = − Z<br />

F aden<br />

1<br />

F aden<br />

1<br />

· δr1<br />

· δr1 .<br />

Die Summe dieser beiden Terme ist Null, wie es sein muss, aber die einzelnen Terme sind von Null<br />

verschieden (außer wenn ϕ = 0 ist).<br />

Die d’Alembert-Gleichungen für das Rollpendel sind<br />

mit den äußeren Kräften<br />

(m1 ¨ r1 − F1) · δr1 + (m2 ¨ r2 − F2) · δr2 = 0<br />

F1<br />

m1<br />

= F2<br />

= −gey .<br />

m2<br />

21<br />

+


Damit ergibt sich<br />

m1¨x1δx1 + m2 [¨x2δx2 + (¨y2 + g)δy2] = 0 .<br />

Transformation auf die unabhängigen Koordinaten x1 und ϕ führt zu den Ersetzungen<br />

und damit auf<br />

x2 = x1 + l sin ϕ , y2 = −l cos ϕ<br />

δx2 = δx1 + lδϕ cos ϕ , δy2 = lδϕ sin ϕ .<br />

Einsetzen ergibt wegen der Unabhängigkeit von δx1 und δϕ<br />

und<br />

m1¨x1 + m2¨x2 = 0<br />

m2 [¨x2l cos ϕ + (¨y2 + g)l sin ϕ] = 0 .<br />

Wenn wir jetzt noch ¨x2 und ¨y2 durch die unabhängigen Variablen ausdrücken, erhalten wir die Bewegungsgleichungen<br />

m1¨x1 + m2(¨x1 + l ¨ϕ cos ϕ − l ˙ϕ 2 sin ϕ) = 0<br />

und<br />

¨x1 cos ϕ + l ¨ϕ + g sin ϕ = 0 .<br />

Dies sind die Gleichungen, die wir schon direkt aus den Newtonschen Gleichungen hergeleitet haben (siehe<br />

(2.18) und (2.19)), aber das war viel umständlicher.<br />

Auch das Beispiel mit dem Teilchen im Kreiskegel rechnen wir nun mit dem d’Alembert-Prinzip:<br />

Es ist<br />

(m ¨ r − mg) · δr = m[¨xδx + ¨yδy + (¨z + g)δz] = 0 .<br />

Wegen der Zwangsbedingung r − tan α = 0 sind nur zwei der drei Variablen unabhängig. In Zylinderkoordinaten<br />

(x, y, z) = r(cos ϕ, sin ϕ, cot α)<br />

sind die virtuellen Verschiebungen<br />

δx = δr cos ϕ − r sin ϕδϕ , δy = δr sin ϕ + r cos ϕδϕ δz = δr cot α .<br />

Damit lautet die d’Alembert-Gleichung<br />

[2 ˙r ˙ϕ + r ¨ϕ]rδϕ + [(tan α + cot α)¨r − r ˙ϕ 2 tan α + g] cot αδr = 0 . (2.25)<br />

Wegen der Unabhängigkeit von δϕ und δr müssen beide eckige Klammern verschwinden, und wir erhalten<br />

die schon bekannten Bewegungsgleichungen (2.15) und (2.16).<br />

Wir erhalten also folgende Gebrauchsanweisung für Probleme mit holonomen Zwangsbedingungen:<br />

• Bestimmen der holonomen Zwangsbedingungen<br />

• Aufstellen der d’Alembert-Gleichungen<br />

• Einsetzen der unabhängigen virtuellen Verrückungen<br />

Für Systeme, die sich im Gleichgewicht befinden, verschwindet die Gesamtkraft Fi + Zi für jedes<br />

Teilchen, also gilt N<br />

i=1 ( Fi + Zi) · δri = 0. Mit dem d’Alembert-Prinzip (2.21) folgt<br />

N<br />

Fi · δri = 0 , (2.26)<br />

i=1<br />

22


d.h. im Gleichgewicht verschwindet die virtuelle Arbeit aller eingeprägten Kräfte.<br />

Diese Bedingung kann benützt werden, um Gleichgewichtsprobleme zu lösen. Als Beispiel betrachten<br />

wir eine Leiter an der Wand: (das Bild habe ich von<br />

http://www.matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/uploads/8/23028 leiter2.gif geklaut.)<br />

Eine Leiter der Länge L und Masse M steht an der Wand und wird von einer Frau der Masse m bis<br />

zur Länge l bestiegen. Die Leiter hat an beiden Enden Rollen, so dass keine Reibung gegen Wand und<br />

Boden auftritt. An ihrem unteren Ende ist ein Seil befestigt, um das Wegrutschen zu verhindern. Wie<br />

groß ist die Kraft F , mit der das Seil die Leiter hält?<br />

Es existieren 4 Zwangsbedingungen:<br />

xB = (L − l) cos µ , yB = l sin µ , xS = L<br />

2 cos µ , yS = L<br />

sin µ .<br />

2<br />

Von den 5 Variablen xS, yS, xB, yB, µ ist also nur eine unabhängig. Wir wählen µ, das über die<br />

Beziehung xA = L cos µ mit dem Auflagepunkt xA zusammenhängt.<br />

Es gibt drei Kräfte, nämlich die Gravitationskraft der Frau, die am Punkt B angreift, die Gravitationskraft<br />

der Leiter, die am Schwerpunkt S angreift, und die Kraft, die die Leiter hält und am Auflagepunkt<br />

A angreift. Die Bedingung (2.26) lautet also<br />

Mg · δrS + mg · δrB + F · δrA = 0 bzw. − MgδyS − mgδyB − F δxA = 0 .<br />

Ausgedrückt durch die unabhängige Variable µ sind die virtuellen Verrückungen<br />

δxA = −L sin µδµ , δyB = l cos µδµ , δyS = L<br />

cos µδµ ,<br />

2<br />

so dass wir <br />

−Mg L<br />

<br />

cos µ − mgl cos µ + F L sin µ δµ = 0<br />

2<br />

erhalten. Also ist<br />

Aufgaben<br />

<br />

M l<br />

F = g cot µ + m .<br />

2 L<br />

1. Nennen Sie mehrere Beispiele für holonome und nicht holonome Zwangsbedingungen.<br />

2. Leiten Sie das Hebelgesetz F1r1 = F2r2 aus der Gleichgewichtsbedingung (2.26) her.<br />

(Bild ist von http://wapedia.mobi/de/Hebelgesetz?t=2.)<br />

3. (Diese Aufgabe entspricht Aufgaben 3-5 und 4-1 im Kuypers.) Betrachten Sie die Perle auf dem gebogenen<br />

rotierenden Draht (Abschnitt 2.1.1. aus dem Skript). Stellen Sie die Bewegungsgleichungen<br />

auf zwei Wegen auf:<br />

23


(a) Gehen Sie wie in Abschnitt 2.1.3. vor und formulieren Sie zunächst die Newtonschen Gleichungen<br />

samt Zwangskräften. Eliminieren Sie dann die Zwangskräfte und gehen Sie zu unabhängigen<br />

Koordinaten über.<br />

(b) Gehen Sie wie in 2.2. vor. Starten Sie also mit den d’Alembert-Gleichungen.<br />

24


Kapitel 3<br />

Lagrange-Gleichungen zweiter Art<br />

3.1 Herleitung<br />

Der folgende Lagrange-Formalismus zweiter Art ist zu d’Alembert mit holonomen Zwangsbedingungen<br />

äquivalent, jedoch bei der Aufstellung von Bewegungsgleichungen in der Praxis überlegen.<br />

Wir gehen aus von der d’Alembert-Gleichung (2.22),<br />

N<br />

(mi ¨ ri − Fi) · δri = 0, ri = ri(q1, . . . , qn; t), i = 1, . . . , N<br />

i=1<br />

wobei die verallgemeinerten Koordinaten qj, j = 1, . . . , n voneinander abhängen dürfen. Mit der Ersetzung<br />

erhalten wir<br />

N<br />

Fi · δri = <br />

<br />

N<br />

i=1<br />

Wir definieren also die verallgemeinerte Kraft<br />

j<br />

δri = ∂ri<br />

δqj<br />

∂qj<br />

i=1<br />

Qj =<br />

j=1 i=1<br />

j<br />

Fi · ∂ri<br />

∂qj<br />

N<br />

i=1<br />

<br />

δqj ≡ <br />

Qjδqj . (3.1)<br />

j<br />

Fi · ∂ri<br />

. (3.2)<br />

∂qj<br />

Wir machen weiterhin in der d’Alembert-Gleichung die folgende Umformung:<br />

N<br />

mi<br />

i=1<br />

¨ ri · δri =<br />

n<br />

<br />

N<br />

mi<br />

j=1 i=1<br />

¨ ri · ∂ri<br />

<br />

δqj<br />

∂qj<br />

=<br />

n N<br />

<br />

d<br />

mi<br />

dt<br />

j=1 i=1<br />

˙ ri · ∂ri<br />

<br />

− mi<br />

∂qj<br />

˙ ri · d<br />

=<br />

<br />

∂ri<br />

δqj<br />

dt ∂qj<br />

n N<br />

<br />

d<br />

mi<br />

dt<br />

˙ ri · ∂ ˙ <br />

ri<br />

− mi<br />

∂ ˙qj<br />

˙ ri · ∂ ˙ <br />

ri<br />

δqj ,<br />

∂qj<br />

wobei für die letzte Umformung<br />

˙ri = ∂ri<br />

∂qj<br />

j<br />

˙qj + ∂ri<br />

∂t ⇒ ∂ ˙ ri<br />

∂ ˙qj<br />

25<br />

= ∂ri<br />

∂qj<br />

(3.3)


und<br />

d ∂ri<br />

=<br />

dt ∂qj<br />

∂2ri ∂ql∂qj<br />

l<br />

˙ql + ∂2 ri<br />

∂t∂qj<br />

benutzt wurde.<br />

Mit der Notation vi = ˙ ri und vi = |vi| ist demnach<br />

N<br />

mi ¨ ri · δri = <br />

<br />

N<br />

d ∂ 1<br />

dt ∂ ˙qj 2<br />

j<br />

i=1<br />

miv 2 <br />

i<br />

= <br />

<br />

d ∂T<br />

−<br />

dt ∂ ˙qj<br />

∂T<br />

<br />

δqj<br />

∂qj<br />

i=1<br />

j<br />

= ∂ dri<br />

∂qj dt ≡ ∂ ˙ ri<br />

∂qj<br />

− ∂<br />

∂qj<br />

mit der kinetischen Energie T = 1 <br />

2 i miv2 i . Mit (3.1) und (3.5) folgt<br />

N<br />

(mi ¨ ri − Fi) · δri = <br />

<br />

d ∂T<br />

dt ∂ ˙qj<br />

i=1<br />

j<br />

N<br />

i=1<br />

1<br />

2 miv 2 <br />

i δqj<br />

(3.4)<br />

(3.5)<br />

− ∂T<br />

<br />

− Qj δqj = 0 . (3.6)<br />

∂qj<br />

Wenn wir k holonome Zwangsbedingungen haben, also n = 3N − k unabhängige qj und daher auch n<br />

unabhängige δqj, dann folgt<br />

d ∂T<br />

dt ∂ ˙qj<br />

− ∂T<br />

− Qj = 0 j = 1, . . . , 3N − k . (3.7)<br />

∂qj<br />

Gleichung (3.7) gilt für beliebige verallgemeinerte Kräfte Qj. Mit der weiteren Annahme, dass Kräfte<br />

konservativ sind (d.h. Fi = − ∇iV ), gilt<br />

Qj =<br />

N<br />

i=1<br />

∂ri Fi<br />

∂qj<br />

= −<br />

N<br />

i=1<br />

∇iV · ∂ri<br />

, j = 1, . . . , 3N − k .<br />

∂qj<br />

Letztes ist wegen ri = ri(q1, . . . , q3N−k; t) die partielle Ableitung der Potenzialfunktion V (r1, . . . , rN):<br />

also<br />

∂V<br />

∂qj<br />

Damit kann (3.7) geschrieben werden als<br />

=<br />

N<br />

i=1<br />

Qj = − ∂V<br />

∇iV · ∂ri<br />

,<br />

∂qj<br />

∂qj<br />

d ∂T ∂(T − V )<br />

− = 0 .<br />

dt ∂ ˙qj ∂qj<br />

. (3.8)<br />

Da das Potenzial V unabhängig von den generalisierten Geschwindigkeiten ist, d.h. ∂V/∂ ˙qj = 0,<br />

können wir auch schreiben<br />

d ∂(T − V ) ∂(T − V )<br />

− = 0 .<br />

dt ∂ ˙qj ∂qj<br />

Wir definieren nun die Lagrange-Funktion<br />

L = T − V (3.9)<br />

26


und erhalten damit die Lagrange-Gleichungen zweiter Art<br />

d ∂L<br />

dt ∂ ˙qj<br />

− ∂L<br />

∂qj<br />

= 0 , j = 1, . . . , 3N − k . (3.10)<br />

Die Lagrange-Gleichungen zweiter Art gelten auch für manche geschwindigkeitsabhängige, “generalisierte”<br />

Potenziale<br />

V = V (q1, . . . , q3N−k, ˙q1, . . . , ˙q3N−k; t) , (3.11)<br />

und zwar dann, wenn die Kräfte sich in der Form<br />

Qj = − ∂V<br />

+<br />

∂qj<br />

d ∂V<br />

dt ∂ ˙qj<br />

(3.12)<br />

schreiben lassen. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist die elektromagnetische Kraft auf eine bewegte Ladung<br />

e, die Lorentzkraft, die sich aus dem generalisierten Potenzial<br />

V = e(φ − v · A) (3.13)<br />

ableiten lässt, wobei φ(r, t) das skalare Potenzial und A(r, t) das Vektorpotenzial des Elektrodynamik ist.<br />

(siehe Übungen.)<br />

3.2 Gebrauchsanweisung<br />

Mit den Lagrange-Gleichungen zweiter Art lassen sich viele <strong>Mechanik</strong>-Aufgaben elegant lösen. Die Gebrauchsanweisung<br />

zur Aufstellung dieser Gleichungen ist folgende:<br />

(i) Schreibe L = T − V als Funktion der 3N kartesischen Koordinaten oder als Funktion von 3N<br />

geeigneten generalisierten Koordinaten q1, . . . , q3N und der 3N Geschwindigkeiten ˙q1, . . . , ˙q3N.<br />

(ii) Drücke die 3N Koordinaten durch 3N − k unabhängige generalisierte Koordinaten aus, bei k holonomen<br />

Zwangsbedingungen. (Bemerkung: Mit etwas Übung kann man oft die Lagrange-Funktion<br />

L direkt als Funktion der q1, . . . , q3N−k schreiben. Dann kann man Schritt 1 überspringen.)<br />

(iii) Bestimme L als Funktion der unabhängigen Koordinaten, Geschwindigkeiten und evtl. der Zeit.<br />

(iv) Stelle die Lagrange-Gleichungen zweiter Art auf.<br />

3.3 Beispiele<br />

Als Beispiel nehmen wir wieder das Teilchen im Kreiskegel und das Rollpendel. Die vier Schritte der<br />

Gebrauchsanweisung sind für das Teilchen im Kreiskegel die folgenden:<br />

x<br />

z<br />

ϕ<br />

r<br />

g<br />

y<br />

27


(i)<br />

(ii)<br />

(iii)<br />

(iv)<br />

(i)<br />

(ii)<br />

(iii)<br />

(iv)<br />

L = m<br />

2<br />

T − V = m<br />

2 ( ˙r2 + ˙z 2 + r 2 ˙ϕ 2 ) − mgz<br />

z = r cot α<br />

(1 + cot 2 α) ˙r 2 + r 2 ˙ϕ 2 − mgr cot α<br />

d ∂L ∂L<br />

−<br />

dt ∂ ˙r ∂r = (1 + cot 2 α)¨r − r ˙ϕ 2 + g cot α = 0 , (2.16)<br />

d ∂L ∂L<br />

−<br />

dt ∂ ˙ϕ ∂ϕ<br />

= mr(2 ˙r ˙ϕ + r ¨ϕ) = 0 . (2.15)<br />

Für das Rollpendel sind die 4 Schritte:<br />

− ∂L<br />

∂x1<br />

T = m1<br />

2 ( ˙x2 2 + ˙y 2 2)<br />

V = m2gy2 + const<br />

L = T − V<br />

2 ˙x2 1 + m2<br />

x2 = x1 + l sin ϕ , y2 = −l cos ϕ<br />

˙x2 = ˙x1 + l ˙ϕ cos ϕ , ˙y2 = l ˙ϕ sin ϕ<br />

L = m1<br />

2 ˙x2 1 + m2<br />

2 ( ˙x2 1 + l 2 ˙ϕ 2 + 2l ˙x1 ˙ϕ cos ϕ) + m2gl cos ϕ = const<br />

d ∂L<br />

dt ∂ ˙x1<br />

d ∂L ∂L<br />

−<br />

dt ∂ ˙ϕ ∂ϕ = m2l(l ¨ϕ + ¨x1 cos ϕ + g sin ϕ) = 0<br />

= d<br />

dt [m1 ˙x1 + m2( ˙x1 + l ˙ϕ cos ϕ)] = (m1 + m2)¨x1 + m2l( ¨ϕ cos ϕ − ˙ϕ 2 sin ϕ) = 0<br />

28


3.4 Lagrange-Formalismus mit Reibung<br />

Reibungskräfte sind wegabhängig und können nicht aus einem Potenzial V abgeleitet werden. Zu ihrer<br />

Beschreibung gehen wir von (3.7) für beliebige eingeprägte generalisierte Kräfte Qj aus (k holonome<br />

Zwangsbedingungen). Diejenigen Kräfte, die sich aus einem Potenzial ableiten lassen, berücksichtigen wir<br />

wieder in der Funktion L, und die Nicht-Potenzial-Kräfte bezeichnen wir mit Rj (diese müssen nicht<br />

notwendig Reibungskräfte sein). Wir erhalten dann eine erweiterte Gleichung (3.10):<br />

d ∂L<br />

dt ∂ ˙qj<br />

Für Reibungskräfte F (R)<br />

i , i = 1, . . . , N, ist nach (3.2)<br />

3.4.1 Einschub: Reibungstypen<br />

− ∂L<br />

− Rj = 0 , j = 1, . . . , 3N − k . (3.14)<br />

∂qj<br />

Rj ≡<br />

N<br />

i=1<br />

F (R)<br />

i<br />

· ∂ri<br />

. (3.15)<br />

∂qj<br />

1. Haftreibung: Die Haftreibungskraft hat einen maximalen Wert, bei dessen Überschreiten die Haftung<br />

endet und Gleiten beginnt.<br />

F (R)<br />

Haft ≤ f0N<br />

mit einer dimensionslose Haftreibungszahl f0 und der Normalkraft N, die z.B. die Zwangskraft<br />

N = | Z| sein kann.<br />

2. Gleitreibung: Der Betrag der Reibungskraft ist nahezu geschwindigkeitsunabhängig<br />

F (R) = −fN v<br />

v<br />

3. Reibung in Fluiden (also Gasen und Flüssigkeiten):<br />

F (R) = −cwA ϱ v<br />

v2<br />

2 v<br />

mit der Querschnittsfläche A des bewegten Objekts und der Dichte ϱ des Fluids. Der Widerstandsbeiwert<br />

cw ist für große Geschwindigkeiten konstant, so dass die Reibungskraft proportional zu<br />

v 2 ist, und diese Reibung tritt in Form von Wirbeln und Turbulenzen auf. Für kleine v ist cw<br />

proportional zu 1/v, so dass die Reibungskraft proportional zu v wird.<br />

3.4.2 Dissipationsfunktion<br />

Oft lassen sich Reibungskräfte auf das i-te Teilchen schreiben als<br />

Mit (3.15) folgt:<br />

F (R)<br />

i<br />

Rj = −<br />

= −<br />

vi<br />

= −hi(vi)<br />

N<br />

i=1<br />

N<br />

i=1<br />

vi<br />

hi(vi) vi<br />

·<br />

vi<br />

∂ri<br />

∂qj<br />

, vi ≡ |vi| i = 1, . . . , N . (3.16)<br />

(3.3)<br />

= −<br />

N<br />

i=1<br />

hi(vi) vi<br />

·<br />

vi<br />

∂vi<br />

∂ ˙qj<br />

hi(vi) ∂vi<br />

. (3.17)<br />

∂ ˙qj<br />

29


Für die letzte Gleichung wurde benutzt:<br />

vi · ∂vi<br />

∂ ˙qj<br />

= 1 ∂(vi · vi)<br />

2 ∂ ˙qj<br />

= 1 ∂v<br />

2<br />

2 i<br />

∂ ˙qj<br />

Die sogenannte Dissipationsfunktion P erfüllt die Beziehung<br />

d.h. mit (3.17):<br />

∂P<br />

∂ ˙qj<br />

≡<br />

N<br />

i=1<br />

hi(vi) ∂vi<br />

∂ ˙qj<br />

Nach (3.14) lautet die “Lagrange-Gleichung mit Reibung” dann<br />

d ∂L<br />

dt ∂ ˙qj<br />

∂vi<br />

= vi .<br />

∂ ˙qj<br />

j = 1, . . . , 3N − k , (3.18)<br />

Rj = − ∂P<br />

. (3.19)<br />

∂ ˙qj<br />

− ∂L<br />

+<br />

∂qj<br />

∂P<br />

∂ ˙qj<br />

Die Dissipationsfunktion P kann gemäß (3.18) geschrieben werden als<br />

d.h. mit (3.21) gilt<br />

und daher (3.18).<br />

∂P<br />

∂vi<br />

P =<br />

N<br />

i=1<br />

= hi(vi) ⇒ ∂<br />

P =<br />

∂ ˙qj<br />

vi<br />

0<br />

i=1<br />

= 0 . (3.20)<br />

hi(ˆvi)dˆvi , (3.21)<br />

N ∂P ∂vi<br />

∂vi ∂ ˙qj<br />

Wir betrachten ein Beispiel:<br />

Eine Masse m gleite mit Gleitreibung auf der (x, y)-Ebene.<br />

Es ist also F (R) = −fmg v<br />

v<br />

und damit h(v) = fmg. Also ist<br />

P =<br />

v<br />

0<br />

=<br />

N<br />

i=1<br />

h(ˆv)dˆv = fmgv = fmg ˙x 2 + ˙y 2<br />

Es ist<br />

L = T − V = T = m<br />

2 ( ˙x2 + ˙y 2 ) .<br />

Wir überprüfen noch die Gültigkeit von (3.20):<br />

d ∂L ∂L ∂P<br />

− +<br />

dt ∂ ˙x ∂x ∂ ˙x<br />

d ∂L ∂L ∂P<br />

− +<br />

dt ∂ ˙y ∂y ∂ ˙y<br />

= m¨x + fmg<br />

= m¨y + fmg<br />

30<br />

˙x<br />

˙x 2 + ˙y 2<br />

˙y<br />

˙x 2 + ˙y 2<br />

hi(vi) ∂vi<br />

∂ ˙qj<br />

= 0<br />

= 0


Wir wählen die x-Achse in v-Richtung, d.h. y = ˙y = ¨y = 0. Dann ist<br />

m¨x + fmg = 0 bzw. ¨x = −fg .<br />

Mit den Anfangsbedingungen x(0) = x0 und ˙x(0) = v0 ergibt sich<br />

x(t) = x0 + v0t − 1<br />

2 fgt2 ,<br />

wobei der maximale Wert von t, bei dem die Masse zur Ruhe kommt, durch die Bedingung ˙x(t) =<br />

v0 − fgt = 0 festgelegt ist, also tmax = v0<br />

fg .<br />

Aufgaben<br />

1. Betrachten Sie die Perle auf dem gebogenen rotierenden Draht (Abschnitt 2.1.1. aus dem Skript),<br />

die auch auf dem vorigen Übungsblatt behandelt wurde. Stellen Sie die Bewegungsgleichungen auf,<br />

indem Sie die 4 Schritte der Gebrauchsanweisung für den Lagrange-Formalismus durchgehen. Sie<br />

haben nun diese Aufgabe auf drei verschiedene Arten gelöst. Welche fanden Sie am einfachsten?<br />

2. Betrachten Sie ein Teilchen der Ladung e in einem homogenen E-Feld und B-Feld.<br />

(a) Drücken Sie die Kraft auf das Teilchen durch E und B und die Geschwindigkeit v des Teilchens<br />

aus.<br />

(b) Geben Sie die zugehörigen Potenziale φ und A der Elektrodynamik an, aus denen sich E und<br />

B ermitteln lassen. (Zur Erinnerung: Es ist E = − ∇φ − ∂ A/dt und B = ∇ × A.<br />

(c) Zeigen Sie, dass die drei Komponenten der Kraft auf das Teilchen sich schreiben lassen als<br />

Qj = −∂V/∂qj + (d/dt)(∂V/∂ ˙qj) mit V = e(φ −v · A). (Es reicht, wenn Sie das in kartesischen<br />

Koordinaten zeigen.)<br />

3. (= Aufgabe 2 Blatt 6 Berges-Uebungen) Eine Kugel mit Radius r und Masse m ist an einer Feder<br />

mit Federkonstante k befestigt und bewegt sich nur in z-Richtung. Die Kugel befinde sich in einer<br />

Flüssigkeit mit Viskosität η. Auf die Kugel wirkt die Stokessche Reibungskraft<br />

F (R) = −6πηr ˙z ,<br />

wobei ˙z die Geschwindigkeit der Kugel ist (der Auftrieb kann vernachlässigt werden). Auf die Kugel<br />

wirkt die Gewichtskraft in negativer z-Richtung.<br />

(a) Bestimmen Sie die Bewegungsgleichung der Kugel mit Hilfe des Lagrange-Formalismus mit<br />

Reibung.<br />

(b) Zum Zeitpunkt t = 0 befinde sich die Kugel im Abstand b von der Gleichgewichtslage in Ruhe.<br />

Lösen Sie die Bewegungsgleichung unter der Annahme<br />

k > (3πηr)2<br />

m<br />

31<br />

.


Kapitel 4<br />

Symmetrien und Erhaltungssätze;<br />

Noether-Theorem<br />

4.1 Forminvarianz der Lagrange-Gleichungen<br />

Die Lagrange-Gleichungen haben den großen Vorteil, dass sie für holonome Zwangsbedingungen wie geschaffen<br />

sind, und dass ihre Form immer dieselbe ist, egal welche Koordinaten und Bezugssysteme man<br />

verwendet. Dies ist bei den Newtonschen Gleichungen nicht so. Für die Bewegung in einem Zentralpotenzial<br />

lauten die Gleichungen in Polarkoordinaten nämlich nicht m¨r = −∂V/∂r und mr 2 ¨ϕ = −∂V/∂ϕ = 0,<br />

wie man bei Forminvarianz erwarten würde, sondern<br />

m(¨r − r ˙ϕ 2 ) = −∂V/∂r und mr(r ¨ϕ + 2 ˙r ˙ϕ) = 0 .<br />

(Herleitung geht am schnellsten über Lagrange, mit T = m( ˙r 2 + r 2 ˙ϕ 2 )/2 und V = V (r).) Auch beim<br />

d’Alembert-Prinzip müssen Beschleunigungen und Verrückungen umständlich auf die generalisierten Variablen<br />

umgerechnet werden.<br />

Wir zeigen jetzt explizit, dass die Lagrange-Gleichungen unter Punkttransformationen invariant sind,<br />

also dass sie in allen Koordinaten- und Bezugssystemen die gleiche Form haben: Wir betrachten die<br />

“alten” Koordinaten {qi}, für die die Lagrange-Gleichungen gelten sollen, und wir wechseln zu neuen<br />

Koordinaten {Qj}, die mit den alten Koordinaten über die Beziehungen qi = qi(Q, t) zusammenhängen.<br />

Wir verwenden im folgenden öfter die vereinfachte Schreibweise q bzw. Q für {qi} bzw. {Qj}. Es gilt<br />

˙qi =<br />

3N−k <br />

j=1<br />

∂qi<br />

∂Qj<br />

Daraus folgt die für das Folgende wichtige Beziehung<br />

∂ ˙qi<br />

∂ ˙ Qj<br />

˙Qj + ∂qi<br />

∂t .<br />

= ∂qi<br />

. (4.1)<br />

∂Qj<br />

Die Lagrange-Funktion in den neuen Koordinaten nennen wir L ′ (Q, ˙ Q, t), und sie hängt mit der “alten”<br />

Lagrange-Funktion zusammen über<br />

L ′ (Q, ˙ <br />

Q, t) = L q(Q, t), ˙q(Q, ˙ <br />

Q, t), t . (4.2)<br />

Wir müssen jetzt noch zeigen, dass auch mit der neuen Lagrange-Funktion und den neuen Koordinaten<br />

die Lagrange-Gleichungen gelten. Dazu berechnen wir<br />

∂L ′ 3N−k <br />

<br />

∂L ∂qi<br />

=<br />

+<br />

∂Qj ∂qi ∂Qj<br />

∂L<br />

<br />

∂ ˙qi<br />

∂ ˙qi ∂Qj<br />

i=1<br />

32


und<br />

und folglich<br />

∂L ′<br />

∂ ˙ Qj<br />

=<br />

d ∂L<br />

dt<br />

′<br />

∂ ˙ =<br />

Qj<br />

3N−k <br />

i=1<br />

3N−k <br />

i=1<br />

∂L<br />

∂ ˙qi<br />

∂ ˙qi<br />

∂ ˙ Qj<br />

(4.1)<br />

=<br />

<br />

d ∂L ∂qi<br />

dt ∂ ˙qi ∂Qj<br />

3N−k <br />

i=1<br />

∂L<br />

∂ ˙qi<br />

+ ∂L<br />

∂ ˙qi<br />

woraus die Lagrange-Gleichungen in den neuen Koordinaten folgen:<br />

d ∂L<br />

dt<br />

′<br />

∂ ˙ Qj<br />

− ∂L′<br />

∂Qj<br />

∂qi<br />

∂Qj<br />

<br />

∂ ˙qi<br />

,<br />

∂Qj<br />

= 0 , j = 1, . . . , 3N − k . (4.3)<br />

Die Forminvarianz der Lagrange-Gleichungen ist sehr nützlich. Dadurch kann man leicht und schnell<br />

die Bewegungsgleichungen in allen Koordinatensystemen und auch in beschleunigten Bezugssystemen<br />

aufstellen.<br />

Auch zur Konstruktion von Erhaltungsgrößen ist der Lagrange-Formalismus wie geschaffen. Kontinuierliche<br />

Transformationen, die die Lagrange-Funktion invariant lassen, deuten auf Erhaltungsgrößen hin,<br />

wie wir im nächsten Teilkapitel sehen werden.<br />

Darüber hinaus ist der Lagrange-Formalismus für die klassische Feldtheorie von großer Bedeutung.<br />

4.2 Zyklische Koordinaten und Erhaltungssätze<br />

Die Lösung der aufgestellten Bewegungsgleichungen erfordert für jede Gleichung, die zweiter Ordnung in<br />

der Zeit ist, zwei Integrationen. Bei vielen Problemen kann man mehrere erste Integrale der Bewegungsgleichungen<br />

sofort erhalten, d.h. Beziehungen der Form<br />

f(q1, q2, . . . ; ˙q1, ˙q2, . . . ; t) = konst<br />

für alle Lösungen qj(t) von (3.10). Dazu gehören die in Kapitel 1 abgeleiteten Erhaltungssätze.<br />

Ist L = T − V von einer bestimmten Koordinate nicht explizit abhängig, so findet man mit den<br />

Lagrange-Gleichungen zweiter Art sofort eine Erhaltungsgröße:<br />

d ∂L<br />

dt ∂ ˙qj<br />

− ∂L<br />

∂qj<br />

= d ∂L<br />

dt ∂ ˙qj<br />

= 0 ⇒ ∂L<br />

∂ ˙qj<br />

= konst . (4.4)<br />

Eine Koordinate qj heißt zyklisch, wenn ˙qj in L = T − V auftritt, nicht jedoch qj. Nach (4.4) ist also<br />

der sogenannte konjugierte Impuls (oder kanonische Impuls)<br />

pj ≡ ∂L<br />

∂ ˙qj<br />

eine Erhaltungsgröße, wenn qj eine zyklische Variable ist.<br />

Wir betrachten zwei Beispiele, eines mit und eines ohne zyklische Variablen:<br />

• Wurf: Es ist<br />

L = T − V = 1<br />

2 m( ˙x2 + ˙y 2 + ˙z 2 ) − mgz ,<br />

d.h. x und y sind zyklisch. Die entsprechenden Erhaltungsgrößen sind<br />

px = ∂L<br />

∂ ˙x = m ˙x , py = ∂L<br />

= m ˙y .<br />

∂ ˙y<br />

33<br />

(4.5)


• Pendel:<br />

Es ist<br />

und<br />

und damit<br />

T = 1<br />

2 m( ˙x2 + ˙y 2 ) = 1<br />

2 ml2 ˙ϕ 2<br />

V = mgy + konst = −mgl cos ϕ + konst<br />

L = 1<br />

2 ml2 ˙ϕ 2 + mgl cos ϕ + konst .<br />

Die einzige unabhängige Variable, ϕ, ist nicht zyklisch, und folglich ist der Drehimpuls pϕ =<br />

∂L/∂ ˙ϕ = ml 2 ˙ϕ nicht erhalten.<br />

Bemerkungen:<br />

(i) Ist qj keine kartesische Koordinate, so hat pj nicht notwendig die Dimension eines Impulses. Das<br />

Produkt pjqj hat aber immer dieselbe Dimension, nämlich die einer Wirkung, also kg m 2 s −1 .<br />

(ii) Für geschwindigkeitsabhängige Potenziale wird der konjugierte Impuls nicht mit dem üblichen mechanischen<br />

Impuls identisch sein. Für das Teilchen im elektromagnetischen Feld (3.13) gilt<br />

und damit<br />

L = 1<br />

2 m ˙ r 2 − eφ(r) + e A(r) · ˙ r (4.6)<br />

px = ∂L<br />

∂ ˙x = m ˙x + eAx . (4.7)<br />

Der letzte Term ist ein Zusatzterm, der den mechanischen Impuls vom kanonischen Impuls verschieden<br />

macht. Wenn φ und A unabhängig von r sind, so ist r zyklisch und (4.7) eine Erhaltungsgröße.<br />

(iii) Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Erhaltungsgrößen und Symmetrien. Ist ein physikalisches<br />

System invariant unter einer Verschiebung qj → q ′ j = qj + α, so hängt L nicht explizit<br />

von qj ab, und pj ist eine Erhaltungsgröße. So impliziert zum Beispiel eine Invarianz des Systems<br />

unter Translationen r → r ′ = r + αa die Impulserhaltung. (Siehe den Abschnitt 4.5 zum Noether-<br />

Theorem.)<br />

(iv) Zu L(q, ˙q, t) kann die totale zeitliche Ableitung einer Funktion addiert werden, ohne die Lagrange-<br />

Gleichungen zu ändern:<br />

L ′ (q, ˙q, t) = L(q, ˙q, t) + d<br />

f(q, t) . (4.8)<br />

dt<br />

Wir zeigen dies, indem wir nachrechnen, dass<br />

ist. Es ist nämlich<br />

d ∂ df ∂ df<br />

− = 0<br />

dt ∂ ˙qj dt ∂qj dt<br />

d ∂f<br />

f(q, t) = ˙qj +<br />

dt ∂qj j<br />

∂f<br />

∂t<br />

34


und damit<br />

und<br />

∂ df ∂f<br />

= und<br />

∂ ˙qj dt ∂qj<br />

d ∂ df ∂<br />

=<br />

dt ∂ ˙qj dt<br />

l<br />

2f ∂ql∂qj<br />

∂<br />

∂qj<br />

df <br />

=<br />

dt<br />

l<br />

∂ 2 f<br />

∂qj∂ql<br />

˙ql + ∂2f ,<br />

∂t∂qj<br />

˙ql + ∂2 f<br />

∂t∂qj<br />

was derselbe Ausdruck wie in der Zeile darüber ist. Koordinatentransformationen, die L bis auf<br />

eine totale Zeitableitung einer Funktion invariant lassen, heißen Symmetrietransformationen.<br />

4.3 Hamiltonfunktion<br />

Hängt L nicht explizit von der Zeit ab, ∂L/∂t = 0, dann gilt<br />

dL <br />

<br />

∂L<br />

= ˙qj +<br />

dt ∂qj<br />

∂L<br />

<br />

¨qj =<br />

∂ ˙qj<br />

<br />

<br />

d ∂L<br />

˙qj +<br />

dt ∂ ˙qj<br />

∂L<br />

<br />

¨qj =<br />

∂ ˙qj<br />

<br />

<br />

d ∂L<br />

˙qj .<br />

dt ∂ ˙qj<br />

j<br />

Also ist die sogenannte Hamiltonfunktion<br />

j<br />

H ≡ <br />

eine Erhaltungsgröße, d.h. dH/dt = 0, wenn ∂L/∂t = 0 ist.<br />

j<br />

j<br />

∂L<br />

˙qj − L (4.9)<br />

∂ ˙qj<br />

Als Beispiel betrachten wir eine gleitende Perle auf einem rotierenden, geraden Draht.<br />

Die Zwangsbedigung ϕ − ωt = 0 mit ω = konst ist rheonom. Wegen V = 0 gilt L = T = E. Die<br />

Lagrange-Funktion ist<br />

L = m<br />

2 ( ˙x2 + ˙y 2 ) = m<br />

2 <br />

2<br />

d<br />

d<br />

(r cos ϕ) + (r sin ϕ) =<br />

2 dt dt m<br />

2 ( ˙r2 + r 2 ω 2 ) = E = konst ,<br />

und die Hamiltonfunktion ist<br />

H = ∂L m<br />

˙r − L =<br />

∂ ˙r 2 ( ˙r2 − r 2 ω 2 ) = konst ,<br />

da ∂L/∂t = 0 ist.<br />

Wir können dies auch explizit nachrechnen: Aus den Lagrange-Gleichungen zweiter Art erhalten wir<br />

mit den Anfangsbedingungen r(0) = a und ˙r(0) = 0 die Lösung r(t) = a cosh(ωt) und ˙r(t) = aω sinh(ωt).<br />

Also ist<br />

E = m<br />

2 a2 ω 2 (sinh 2 (ωt) + cosh 2 (ωt)) = E(t)<br />

und<br />

H = m<br />

2 a2ω 2 (sinh 2 (ωt) − cosh 2 (ωt)<br />

<br />

=−1<br />

35<br />

) = konst .


4.4 Energieerhaltung<br />

Da Zwangskräfte in der Lagrangeschen <strong>Mechanik</strong> eliminiert sind, kann die reale Zwangsarbeit rheonomer<br />

Zwangsbedingungen nicht berücksichtigt werden. Folglich lässt sich für rheonome Zwangsbedingungen<br />

aus L nicht E = konst ableiten, wie das vorige Beispiel zeigt.<br />

Es gilt der folgende Satz: Wenn L nicht explizit zeitabängig ist, ist H konstant und entspricht für<br />

skleronome, holonome Zwangsbedingungen und konservative Kräfte der Gesamtenergie, d.h.,<br />

H = E = T + V . (4.10)<br />

Wir wir gesehen haben, sind aber im Allgemeinen die Bedingungen H = konst und H = E zwei<br />

verschiedene Sachverhalte.<br />

Wir zeigen, dass für konservative Kräfte und zeitunabhängiges L die Hamiltonfunktion H = T + V<br />

ist, indem wir benützen, dass ∂V/∂ ˙qj = 0 ist (woraus ∂L/∂ ˙qj = ∂T/∂ ˙qj folgt), und indem wir T durch<br />

die unabhängigen Koordinaten qj ausdrücken:<br />

T =<br />

Damit ist<br />

N<br />

i=1<br />

mi<br />

2 ˙ r 2 i =<br />

N<br />

i=1<br />

H = <br />

⎛<br />

mi ⎝<br />

2<br />

<br />

⎞2<br />

∂ri<br />

˙qj ⎠ =<br />

∂qj j<br />

1 N<br />

<br />

∂ri ∂ri<br />

mi ˙ql ˙qj =<br />

2<br />

∂ql ∂qj<br />

j i=1 l<br />

<br />

∂T/∂ ˙qj<br />

1 ∂T<br />

˙qj . (4.11)<br />

2 ∂ ˙qj j<br />

j<br />

∂L<br />

˙qj − L =<br />

∂ ˙qj<br />

∂T<br />

˙qj − L = 2T − L = T + V = E .<br />

∂ ˙qj j<br />

Nun haben wir genügend Werkzeuge erarbeitet, um mit Hilfe der Erhaltungsgrößen das Lösen der<br />

Bewegungsgleichungen zu vereinfachen. Wir nehmen wieder das Beispiel des Teilchens im Kreiskegel:<br />

Die Lagrange-Funktion hatten wir schon hergeleitet:<br />

L = T − V = m 2 2 2 2<br />

(1 + cot α) ˙r + r ˙ϕ<br />

2<br />

− mgr cot α .<br />

Sie hängt nicht explizit von ϕ ab, also ist ϕ eine zyklische Variable und<br />

pϕ = ∂L<br />

∂ ˙ϕ = mr2 ˙ϕ = konst (4.12)<br />

eine Erhaltungsgröße. Dies sieht man auch anhand der Bewegungsgleichung (2.15), die ja mr(2 ˙r ˙ϕ+r ¨ϕ) =<br />

d<br />

dt mr2 ˙ϕ = 0 lautet.<br />

Es gibt noch eine zweite Erhaltungsgröße, nämlich die Energie, deren Ausdruck sich von demjenigen<br />

für L nur durch das Vorzeichen des Potenzialterms unterscheidet:<br />

E = T + V = m 2 2 2 2<br />

(1 + cot α) ˙r + r ˙ϕ<br />

2<br />

+ mgr cot α = konst . (4.13)<br />

36


Auch diese Gleichung können wir aus den Bewegungsgleichungen herleiten, doch das ist umständlicher:<br />

Wir setzen (4.12) in (2.16) ein und multiplizieren mit ˙rm cot α und erhalten<br />

<br />

m (1 + cot 2 α) ˙r¨r − p2ϕ ˙r<br />

m2 <br />

+ g ˙r cot α =<br />

r3 d<br />

<br />

m<br />

dt 2 (1 + cot2 α) ˙r 2 + p2 <br />

ϕ<br />

+ gmr cot α = 0 .<br />

2mr2 Die zwei Gleichungen (4.12) und (4.13) sind Differenzialgleichungen erster Ordnung für die beiden<br />

unabhängigen Variablen r(t) und ϕ(t). Auflösen der Gleichung (4.13) nach dt und Integration ergibt<br />

t = ± 1<br />

<br />

dr<br />

. (4.14)<br />

sin α<br />

<br />

2<br />

m E − p2 ϕ<br />

2mr2 − mgr cot α<br />

Für Bahnbereiche, in denen r(t) wächst (fällt), ist das positive (negative) Vorzeichen zu nehmen. Diese<br />

Gleichung liefert r(t). Nach ihrer Berechnung kann ϕ(t) mit Hilfe der Gleichung (4.12) ermittelt werden:<br />

ϕ(t) = pϕ<br />

<br />

dt<br />

m r2 . (4.15)<br />

(t)<br />

Wir haben also gesehen, dass aufgrund der beiden Erhaltungsgrößen nur noch zwei Integrationen zur<br />

Berechnung des Bahnverlaufs nötig sind.<br />

Wir werden insbesondere im Zusammenhang mit der Planetenbewegung den Vorteil dieser Methode<br />

an weiteren Beispielen schätzen lernen.<br />

In dem betrachteten Beispiel gab es genauso viele Erhaltungsgrößen wie Freiheitsgrade, nämlich zwei,<br />

und dies ermöglichte es uns, explizite Ausdrücke für die Teilchenbahn zu ermitteln. Wir werden später<br />

sehen, dass ganz allgemein ein mechanisches System dann integrabel (also im Prinzip lösbar) ist, wenn<br />

die Zahl der unabhängigen Erhaltungsgrößen genauso groß ist wie die Zahl der Freiheitsgrade. Wenn die<br />

Zahl der Erhaltungsgrößen kleiner ist, ist das System nicht integrabel, sondern es führt auf chaotische<br />

Bewegung. Chaotische Systeme haben die Eigenschaft, dass sich ihr Zeitverlauf aus den Anfangsbedingungen<br />

nur begrenzt vorhersagen lässt, da winzige Veränderungen der Anfangsbedingungen schon nach<br />

kurzer Zeit zu einem völlig anderen Verhalten führen können.<br />

Leider gibt es für das Auffinden von Erhaltungsgrößen kein Patentrezept. Nur wenn Symmetrien vorliegen,<br />

können wir Erhaltungsgrößen auf einfach Weise finden, indem wir die generalisierten Koordinaten<br />

so wählen, dass mit der Symmetrie eine zyklische Variable verbunden ist. Im folgenden Teilkapitel sehen<br />

wir, dass ganz allgemein Symmetrien mit Erhaltungsgrößen verbunden sind.<br />

4.5 Das Noether-Theorem<br />

Wir haben gesehen, dass Koordinaten, deren Verschiebung<br />

qi → qi ′ = qi + α<br />

die Lagrange-Funktion nicht ändert, zyklisch sind, und dass die entsprechenden Impulse Erhaltungsgrößen<br />

sind.<br />

Wir wollen dieses Ergebnis jetzt verallgemeinern und zeigen, dass ein genereller Zusammenhang besteht<br />

zwischen dem Auftreten von Erhaltungsgrößen und Transformationen, die die Lagrange-Funktion<br />

nicht ändern, also invariant lassen. Zu diesem Zweck untersuchen wir die Koordinatentransformationen<br />

die invertierbar seien,<br />

qi → qi ′ = qi ′ (q1, . . . , q3N−k, t, α) , i = 1, . . . , 3N − k , (4.16)<br />

qi = qi(q ′ 1, . . . , q ′ 3N−k, t, α) , i = 1, . . . , 3N − k , (4.17)<br />

37


und in den kontinuierlichen Parametern α stetig differenzierbar sein müssen. Ferner soll für α = 0 die<br />

identische Transformation vorliegen,<br />

Wir schreiben verkürzt<br />

qi ′ (q1, . . . , q3N−k, t, α = 0) = qi , i = 1, . . . , 3N − k .<br />

qi ′ = qi ′ (q, t, α) und qi = qi(q ′ , t, α) .<br />

Wichtige Beispiele für solche Koordinatentransformationen sind Translationen<br />

und Rotationen um die z-Achse<br />

⎛<br />

⎝ x<br />

⎞ ⎛ ⎞<br />

y ⎠ → ⎠ =<br />

z<br />

⎝ x′<br />

y ′<br />

z ′<br />

⎛<br />

⎝<br />

r → r ′ = r + αa<br />

cos α − sin α 0<br />

sin α cos α 0<br />

0 0 1<br />

⎞ ⎛<br />

⎠ · ⎝ x<br />

⎞ ⎛<br />

y ⎠ = ⎝<br />

z<br />

x cos α − y sin α<br />

x sin α + y cos α<br />

z<br />

Die neue Lagrange-Funktion L ′ erhalten wir, indem wir in der alten Lagrange-Funktion die Ersetzung<br />

(4.17) machen:<br />

L ′ (q ′ , ˙q ′ <br />

, t, α) = L q(q ′ , t, α), d<br />

dt q(q′ <br />

, t, α), t . (4.18)<br />

Wir berechnen im Folgenden, wie L ′ sich mit α ändert und betrachten dann den Fall, dass L nicht<br />

von α abhängt. Dies wird uns einen Erhaltungssatz liefern.<br />

Es ist<br />

∂L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α)<br />

∂α<br />

=<br />

=<br />

3N−k <br />

i=1<br />

3N−k <br />

i=1<br />

= d<br />

dt<br />

<br />

∂L<br />

i=1<br />

∂qi(q ′ , t, α)<br />

∂α<br />

∂qi<br />

<br />

d ∂L ∂qi(q<br />

dt ∂ ˙qi<br />

′ , t, α)<br />

∂α<br />

<br />

3N−k ∂L ∂qi(q<br />

∂ ˙qi<br />

′ <br />

, t, α)<br />

.<br />

∂α<br />

+ ∂L ∂<br />

∂ ˙qi<br />

d<br />

dtqi(q ′ , t, α) <br />

∂α<br />

+ ∂L<br />

<br />

d<br />

∂ ˙qi dt<br />

∂qi(q ′ <br />

, t, α)<br />

∂α<br />

Diese Gleichung gilt für alle α. Wenn wir α = 0 setzen, gehen die qi ′ in die qi über. Es ist<br />

∂L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α)<br />

∂α<br />

<br />

<br />

<br />

α=0<br />

= d<br />

<br />

3N−k ∂L<br />

dt ∂ ˙qi i=1<br />

⎞<br />

⎠ .<br />

∂qi(q ′ <br />

, t, α)<br />

∂α<br />

.<br />

α=0<br />

(4.19)<br />

Bemerkung: Die partielle Ableitung bzgl. α ist bei festgehaltenen übrigen Argumenten der Funktion<br />

L ′ , also bei festen q ′ und ˙q ′ und t zu nehmen. Den Unterschied zwischen einer partiellen und einer<br />

totalen Ableitung wird deutlich, wenn man Gleichung (4.18) nach α ableitet: Während die Funktion L ′<br />

die Argumente q ′ , ˙q ′ , t, α hat, hat die Funktion L die Argumente q, ˙q, t. Weil q und ˙q widerum von α<br />

abhängen, können wir also schreiben<br />

∂L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α)<br />

∂α<br />

= dL(q, ˙q, t)<br />

dα<br />

wobei die Abhängigkeit von α auf der rechten Seite in den q und ˙q versteckt ist. Die Auswertung der<br />

rechten Seite erfolgt wie in der oben an (4.18) anschließenden Rechnung.<br />

Wir betrachten nun den Fall, dass die Koordinatentransformation (4.16) die Lagrange-Funktion invariant<br />

lässt:<br />

L(q, ˙q, t) (4.18)<br />

= L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α) Invarianz<br />

= L(q ′ , ˙q ′ , t) . (4.20)<br />

38


Dann haben die neuen Koordinaten qi ′ dieselbe Lagrange-Funktion und dieselben Bewegungsgleichungen<br />

wie die alten Koordinaten qi. Die neue Lagrange-Funktion hängt nicht vom Parameter α ab, also<br />

∂L ′<br />

<br />

<br />

= 0 .<br />

∂α<br />

i=1<br />

α=0<br />

Zusammen mit Gleichung (4.19) folgt damit das für die moderne Physik bedeutende Noether-Theorem:<br />

Die Funktion<br />

3N−k ∂L<br />

I(q, ˙q, t) =<br />

∂ ˙qi<br />

∂qi(q ′ <br />

, t, α) <br />

<br />

∂α<br />

(4.21)<br />

ist eine Erhaltungsgröße, wenn die Lagrange-Funktion unter der kontinuierlichen, stetig differenzierbaren<br />

Koordinatentransformation (4.16) invariant ist. Zu jeder Transformation (4.16), die die Lagrange-<br />

Funktion nicht ändert, gehört also eine Erhaltungsgröße, die durch (4.21) leicht ermittelt werden kann.<br />

Der Umkehrschluss gilt allerdings nicht: nicht zu jeder Erhaltungsgröße gibt es eine Symmetrietransformation<br />

der Lagrange-Funktion, wie wir im Zusammenhang mit der Planetenbewegung am Beispiel des<br />

Lenzschen Vektors sehen werden.<br />

Der Erhaltungssatz, der zu einer zyklischen Koordinate qi gehört, ist ein Spezialfall des Noether-<br />

Theorems, da die Unabhängigkeit der Lagrange-Funktion von qi die Invarianz von L unter Translation<br />

von qi zur Folge hat.<br />

Es gibt sogar auch dann eine Erhaltungsgröße, wenn die Lagrange-Funktion unter den Transformationen<br />

(4.16) nicht invariant ist, sondern einen zusätzlichen Term erhält, der die totale zeitliche Ableitung<br />

einer beliebigen Funktion F (q ′ , t, α) ist:<br />

Es folgt nämlich<br />

L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α) = L<br />

und folglich ist die Funktion<br />

eine Erhaltungsgröße.<br />

J(q, ˙q, t) =<br />

<br />

q(q ′ , t, α), d<br />

dt q(q′ <br />

, t, α), t<br />

∂L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α)<br />

∂α<br />

3N−k <br />

i=1<br />

<br />

<br />

<br />

∂L(q, ˙q, t)<br />

∂ ˙qi<br />

α=0<br />

= d<br />

dt<br />

∂qi(q ′ , t, α)<br />

∂α<br />

α=0<br />

= L(q ′ , ˙q ′ , t) + d<br />

dt F (q′ , t, α) . (4.22)<br />

∂F (q ′ , t, α)<br />

∂α<br />

<br />

<br />

<br />

α=0<br />

<br />

<br />

<br />

α=0<br />

− ∂F (q′ , t, α)<br />

∂α<br />

4.5.1 Die 10 Erhaltungsgrößen abgeschlossener N-Teilchensysteme<br />

,<br />

<br />

<br />

<br />

α=0<br />

(4.23)<br />

Wir leiten im Folgenden die im ersten Kapitel erwähnten 10 Erhaltungsgrößen abgeschlossener N-<br />

Teilchensysteme aus dem Noether-Theorem her. Wir beschränken uns auf den wichtigen Fall, dass die<br />

Zweiteilchenpotenziale nur vom Abstand der Teilchen abhängen. Die Lagrange-Funktion ist dann<br />

L =<br />

N<br />

i=1<br />

mi<br />

2 ˙ r 2 i −<br />

N<br />

Vij(|ri − rj|) .<br />

i


2. Die Lagrange-Funktion ist unter Drehungen invariant, denn sie hängt nur vom Betrag der Geschwindigkeits-<br />

und Abstandsvektoren ab, nicht von ihrer Richtung. Wir zeigen im Folgenden, dass aus<br />

Invarianz unter Drehungen um die z-Achse die Erhaltung von Lz folgt. Analog lässt sich die Erhaltung<br />

von Lx und Ly zeigen, so dass auch der Gesamtdrehimpuls<br />

zi<br />

L =<br />

N<br />

ri × pi<br />

i=1<br />

erhalten ist. Eine Rotation um die z-Achse entspricht der Transformation (vgl. die Gleichung vor<br />

(4.18))<br />

⎛<br />

⎝ xi<br />

⎞ ⎛<br />

⎞ ⎛<br />

′<br />

cos α sin α 0 xi<br />

yi ⎠ = ⎝ − sin α cos α 0 ⎠ · ⎝ yi<br />

0 0 1<br />

′<br />

zi ′<br />

⎞ ⎛<br />

⎠ = ⎝ xi ′ cos α + yi ′ sin α<br />

−xi ′ sin α + yi ′ ⎞<br />

cos α ⎠ .<br />

Also ist<br />

und<br />

Mit<br />

∂xi(r ′ , α)<br />

∂α<br />

∂yi(r ′ , α)<br />

∂α<br />

L ′ =<br />

N<br />

i=1<br />

ergibt sich die gesuchte Erhaltungsgröße zu<br />

N<br />

<br />

∂L<br />

i=1<br />

∂ ˙xi<br />

= −xi ′ sin α + yi ′ cos α = yi<br />

= −xi ′ cos α − yi ′ sin α = −xi .<br />

mi<br />

2 ˙ r ′ 2<br />

i −<br />

yi + ∂L<br />

<br />

(−yi) =<br />

∂ ˙yi<br />

N<br />

i


Die Erhaltungsgröße J(r, ˙ r, t) lautet<br />

N ∂L<br />

J =<br />

∂ ˙ r · ∂ri(r ′ <br />

, t, α)<br />

<br />

<br />

−<br />

∂α<br />

∂F<br />

<br />

<br />

<br />

∂α<br />

i=1<br />

α=0<br />

α=0<br />

=<br />

N<br />

(−pi · vt + miri · v) = (− P t + MrS) · v<br />

mit der Schwerpunktkoordinate rS und der Gesamtmasse M. Da J für jedes v eine Erhaltungsgröße<br />

ist, ist auch der Ausdruck in Klammern<br />

eine Erhaltungsgröße.<br />

i=1<br />

− P t + MrS<br />

Damit haben wir die 10 Erhaltungsgrößen bestimmt: E, L, P und − P t + MrS.<br />

Aufgaben<br />

1. Begründen Sie, dass ein eindimensionales mechanisches System m¨x = F (x), dessen Kraft nicht<br />

explizit zeitabhängig ist, nicht chaotisch sein kann.<br />

2. Betrachten Sie das Rollpendel.<br />

(a) Wieviele Freiheitsgrade und wieviele Erhaltungsgrößen hat dieses System? Schreiben Sie explizit<br />

die Erhaltungsgrößen hin. Nennen Sie diejenige Erhaltungsgröße, die nicht die Energie<br />

ist, px.<br />

(b) Berechnen Sie die Koordinaten (x2, y2) als Funktion von ϕ und zeigen Sie, dass sich m2 für<br />

px = 0 auf einer Ellipsenbahn bewegt.<br />

(c) Berechnen Sie den Zusammenhang zwischen ϕ und t in der Gestalt t = dϕ . . . .<br />

41


Kapitel 5<br />

Lagrange-Gleichungen erster Art<br />

5.1 Vorbemerkungen<br />

Die Lagrange-Gleichungen erster Art (Lagrange-I) sind den Lagrange-Gleichungen zweiter Art (Lagrange-<br />

II) recht ähnlich. Sie unterscheiden sich in drei Aspekten:<br />

1. In Lagrange-II wird die Lagrange-Funktion nur durch die 3N − k unabhängigen verallgemeinerten<br />

Koordinaten und die zugehörigen Geschwindigkeiten ausgedrückt. In Lagrange-I wird die Lagrange-<br />

Funktion durch alle 3N verallgemeinerten Koordinaten ausgedrückt. Man darf im Lagrange-I-<br />

Formalismus also keine Koordinaten mit Hilfe der Zwangsbedingungen eliminieren, wenn man die<br />

Lagrange-Funktion L = T − V aufstellt.<br />

2. Die Lagrange-I-Gleichungen sind den Lagrange-II-Gleichungen sehr ähnlich (s.u.), aber sie enthalten<br />

jeweils einen zusätzlichen Summanden, der von den Zwangskräften herrührt.<br />

3. Die Lagrange-I-Gleichungen gelten auch für nicht holonome Zwangsbedingungen, wenn diese sich<br />

in differenzieller Form schreiben lassen, während die Lagrange-II-Gleichungen nur für holonome<br />

Zwangsbedingungen gelten.<br />

Da in den Lagrange-I-Gleichungen die Zwangskräfte explizit drinstehen, ist es praktisch, sie zu verwenden,<br />

wenn man Zwangskräfte berechnen muss. Das Berechnen von Zwangskräften wird z.B. bei Gleitreibung<br />

nötig (weil F (R) = −f| Z|ˆv ist, siehe Abschnitt 3.4.1), bei der Berechnung der realen Zwangsarbeit<br />

bei rheonomen Zwangsbedingungen, oder auch bei der Dimensionierung von technischen Anlagen, z.B.<br />

Achterbahnen.<br />

Allerdings kann man bei holonomen Zwangsbedingungen die Zwangskräfte auch aus dem Lagrange-II-<br />

Formalismus herleiten. Wir demonstrieren dies im Folgenden, bevor wir dann den Lagrange-I-Formalismus<br />

vorstellen.<br />

Die Berechnung der Zwangskräfte über den Lagrange-II-Formalismus geht über die Beziehung (2.11),<br />

also<br />

Zi = mi ¨ ri − Fi .<br />

Wenn man die Lösung ri(t) bestimmt hat, hat man auch ¨ ri und damit Zi.<br />

Um diese Beziehung auf verallgemeinerte Koordinaten qj umzuschreiben (mit j = 1, . . . , 3N), definieren<br />

wir analog zu den verallgemeinerten Kräften Qj (siehe (3.2)) nun verallgemeinerte Zwangskräfte Zj<br />

als<br />

Zj<br />

≡<br />

(3.6)<br />

=<br />

N<br />

i=1<br />

d ∂T<br />

dt ∂ ˙qj<br />

Zi · ∂ri<br />

∂qj<br />

=<br />

N<br />

i=1<br />

mi ¨ ∂ri<br />

ri −<br />

∂qj<br />

N<br />

i=1<br />

Fi · ∂ri<br />

, j = 1, . . . , 3N<br />

∂qj<br />

− ∂T<br />

− Qj . (5.1)<br />

∂qj<br />

42


Falls sich die Kräfte Qj aus einem Potenzial gemäß (3.8) bzw. (3.12) ableiten lassen, so gilt mit<br />

L = T − V<br />

d ∂L<br />

−<br />

dt ∂ ˙qj<br />

∂L<br />

= Zj ,<br />

∂qj<br />

j = 1, . . . , 3N . (5.2)<br />

An dieser Stelle ist ganz wichtig, dass L nun eine Funktion von allen 3N Variablen ist und nicht nur der<br />

3N − k unabhängigen Variablen.<br />

Wir merken uns also den auch für das Folgende wichtigen Sachverhalt: Wenn man die Lagrange-<br />

Funktion durch alle 3N Variablen ausdrückt, steht bei den entsprechenden Lagrange-Gleichungen auf der<br />

rechten Seite nicht Null, sondern die jeweilige Komponente der verallgemeinerten Zwangskraft.<br />

(Man kann (5.2) wieder in die Lagrange-Gleichungen zweiter Art überführen, indem man mit den<br />

virtuellen Verrückungen δqj multipliziert und über j = 1, . . . , 3N summiert. Der Term mit den Zwangskräften<br />

verschwindet mit dem d’Alembert-Prinzip (2.21). Wenn man L nun als Funktion der 3N − k<br />

unabhängigen Variablen schreibt, verschwinden die Summanden für die abhängigen Variablen, und wir<br />

erhalten die Lagrange-II-Gleichungen (3.10) für die 3N − k unabhängigen Koordinaten.)<br />

Wir erhalten folgendes Rezept für die Berechnung der Zwangskräfte aus Lagrange-II bei holonomen<br />

Zwangsbedingungen:<br />

(i) Stelle L für die unabhängigen Koordinaten auf und löse Lagrange-II<br />

(ii) Drücke L durch alle 3N (abhängigen) Koordinaten aus und bestimme (5.2).<br />

Als Beispiel verwenden wir die gleitende Perle auf einem rotierenden, geraden Draht aus dem vorigen<br />

Kapitel.<br />

Zunächst stellen wir die Lagrange-Gleichungen zweiter Art auf und lösen sie:<br />

L = m<br />

2 ( ˙r2 + r 2 ω 2 ) ,<br />

¨r − rω = 0<br />

r(t) = a cosh(ωt) für r(t = 0) = a , ˙r(t = 0) = 0 .<br />

Dann nehmen wir die zweite Koordinate, ϕ, dazu und berechnen die Zwangskräfte:<br />

L = m<br />

2 ( ˙r2 + r 2 ˙ϕ 2 ) ,<br />

Zr = d ∂L ∂L<br />

−<br />

dt ∂ ˙r ∂r = m(¨r − r ˙ϕ2 ) = 0 ,<br />

Zϕ = d ∂L ∂L<br />

−<br />

dt ∂ ˙ϕ ∂ϕ = mr(2 ˙r ˙ϕ + r ¨ϕ) = ma2ω 2 sinh(2ωt) .<br />

Im letzten Schritt der Berechnung der Zwangskräfte haben wir jeweils r = a cosh(ωt) und ϕ = ωt<br />

eingesetzt und am Schluss das Additionstheorem 2 cosh(ωt) sinh(ωt) = sinh(2ωt) verwendet.<br />

43


5.2 Herleitung der Lagrange-Gleichungen erster Art<br />

Wir beginnen mit dem d’Alembert-Prinzip und (3.6), d.h.<br />

3N<br />

j=1<br />

<br />

d ∂T<br />

dt ∂ ˙qj<br />

− ∂T<br />

<br />

− Qj δqj = 0 ,<br />

∂qj<br />

bzw., falls die verallgemeinerten Kräfte Qj aus einem Potenzial V ableitbar sind,<br />

3N<br />

j=1<br />

<br />

d ∂L<br />

dt ∂ ˙qj<br />

− ∂L<br />

<br />

δqj = 0 . (5.3)<br />

∂qj<br />

Hierbei ist L eine Funktion von allen 3N Koordinaten und 3N Geschwindigkeiten.<br />

Ein solches “Variationsproblem” (nämlich die Bestimmung der qj(t) mit Nebenbedingungen – den<br />

Zwangsbedingungen) löst man mit Hilfe von sogenannten Lagrange-Multiplikatoren. Wir schreiben für<br />

die Zwangsbedingungen wie in (2.8)<br />

3N<br />

j=1<br />

Da für virtuelle Verrückungen dt = 0 ist, gilt<br />

Also gilt auch<br />

aijdqj + bidt = 0 , i = 1, . . . , k .<br />

3N<br />

j=1<br />

aijδqj = 0 , i = 1, . . . , k .<br />

k<br />

3N<br />

λi<br />

i=1 j=1<br />

aijδqj = 0 (5.4)<br />

mit zunächst beliebigen Lagrange-Multiplikatoren λi, die i.A. eine Funktion der qj und ˙qj und von t sind.<br />

Wenn man die Gleichungen gelöst und folglich q(t) bestimmt hat, hat man auch λi als Funktion der Zeit.<br />

Subtraktion von (5.3) und (5.4) gibt<br />

3N<br />

j=1<br />

<br />

d ∂L<br />

dt ∂ ˙qj<br />

− ∂L<br />

−<br />

∂qj<br />

k<br />

i=1<br />

λiaij<br />

<br />

δqj = 0 . (5.5)<br />

Nun kommt der entscheidende gedankliche Schritt: Wir können die λi so wählen, dass jede der Klammern<br />

in (5.5) verschwindet. Wir können nämlich die k Funktionen λi so wählen, dass k Klammern (sagen wir:<br />

Nummer 3N − k + 1 bis 3N) in (5.5) verschwinden. Dann haben wir noch eine verbleibende Summe<br />

über 3N − k Terme, in denen aber nun die δqj unabhängig voneinander gewählt werden können, weil<br />

wir ja 3N − k unabhängige Variablen haben. Also müssen auch die verbleibenden 3N − k Klammern<br />

verschwinden.<br />

Wir erhalten somit die Lagrange-Gleichungen erster Art:<br />

d ∂L<br />

dt ∂ ˙qj<br />

= ∂L<br />

+<br />

∂qj<br />

k<br />

λiaij , j = 1, . . . , 3N . (5.6)<br />

i=1<br />

Dies sind 3N Gleichungen für 3N +k Unbekannte (die qj und die λi), die zusammen mit den k Gleichungen<br />

für die Zwangsbedingungen alle Unbekannten festlegen.<br />

44


ist.<br />

Durch Vergleich mit (5.2) erkennen wir, dass<br />

k<br />

λiaij = Zj , j = 1, . . . , 3N (5.7)<br />

i=1<br />

Die Gebrauchsanweisung für Lagrange-Gleichungen erster Art ist die folgende:<br />

(i) Wähle 3N Koordinaten und stelle die Zwangsbedingungen in differenzieller Form auf.<br />

(ii) Schreibe L = T − V als Funktion der 6N Variablen qj, ˙qj.<br />

(iii) Stelle die 3N Lagrange-I-Gleichungen auf und löse sie zusammen mit den Zwangsbedingungen.<br />

Bemerkung: In der Praxis verwendet man auch gerne eine Variante mit weniger Koordinaten. Die eben<br />

durchgeführte Herleitung der Lagrange-I-Gleichungen kann auch mit n < 3N generalisierten Koordinaten<br />

durchgeführt werden, wobei n > 3N − k ist. Die Zahl der Lagrange-Parameter in (5.4) reduziert sich<br />

hierbei auf k + n − 3N. In der Gleichung (5.6) ist dann i nur bis k + n − 3N zu summieren, und j läuft<br />

von 1 bis n.<br />

5.3 Beispiele<br />

5.3.1 Teilchen im Kreiskegel<br />

x<br />

z<br />

ϕ<br />

r<br />

g<br />

y<br />

Wir wählen als Koordinaten die Zylinderkoordinaten z, r, ϕ. Die Zwangsbedingung ist f(z, r, ϕ) =<br />

r − z tan α = 0, bzw. in differenzieller Form:<br />

Die Lagrange-Funktion ist<br />

Die Lagrange-I-Gleichungen sind also<br />

∂f ∂f<br />

dz + dr = − tan α dz + dr = 0 .<br />

∂z ∂r<br />

L = T − V = m<br />

2 ( ˙z2 + ˙r 2 + r 2 ˙ϕ 2 ) − mgz .<br />

d ∂L ∂L<br />

− = λ∂f ⇒ m¨z + mg = −λ tan α<br />

dt ∂ ˙z ∂z ∂z<br />

d ∂L ∂L<br />

− = λ∂f<br />

dt ∂ ˙r ∂r ∂r ⇒ m¨r − mr ˙ϕ2 = λ<br />

d ∂L ∂L ∂f<br />

− = λ<br />

dt ∂ ˙ϕ ∂ϕ ∂ϕ ⇒ mr2 ¨ϕ + 2mr ˙r ˙ϕ = 0 .<br />

45


Wir haben also drei Lagrange-I-Gleichungen und eine Zwangsbedingung zur Bestimmung der 4 Unbekannten<br />

z(t), r(t), ϕ(t), λ(t). Wenn man die Unbekannten bestimmt hat, hat man auch die Zwangskräfte:<br />

Zz = −λ(t) tan α Zr = λ(t) , Zϕ = 0 .<br />

Zur Lösung dieser Gleichungen kann man zunächst die Zwangskraft samt einer der drei Variablen (z.B.<br />

z) eliminieren und die Bewegungsgleichungen für die nun unabhängigen verbleibenden Variablen r und ϕ<br />

lösen. Hierzu kann man die Zwangsbedingung in der Form ¨z = ¨r cot α in die erste Lagrange-I-Gleichung<br />

einsetzen (das gibt m(¨r cot α + g) = −λ tan α) und dann hierzu die mit tan α multiplizierte zweite<br />

Lagrange-I-Gleichung addieren. Dies gibt<br />

(tan α + cot α)¨r − r ˙ϕ 2 tan α + g = 0 .<br />

Zusammen mit der dritten Lagrange-I-Gleichung haben wir wieder die schon bekannten Bewegungsgleichungen<br />

ermittelt. Wenn man r(t) und ϕ(t) berechnet hat, kann man dann über die Zwangsbedingung<br />

auch z(t) bestimmen und über eine der drei Lagrange-I-Gleichungen dann λ(t). Dann hat man auch Zz<br />

und Zϕ.<br />

5.3.2 Rollpendel<br />

Im Folgenden stellen wir die Lagrange-Gleichungen erster Art für das Rollpendel auf und bestimmen einen<br />

Zusammenhang zwischen der Zwangskraft, die die Schiene ausübt, und der Zwangskraft, die der Faden<br />

ausübt. Die Lagrange-Gleichungen zweiter Art für das Rollpendel haben wir in Abschnitt 3.3 aufgestellt.<br />

Die beiden Zwangsbedingungen lauten<br />

und<br />

f1(x1, y1, r, ϕ) = y1 = 0<br />

f2(x1, y1, r, ϕ) = r − l = 0 .<br />

Nur zwei der insgesamt 8 partiellen Ableitungen der beiden Zwangsbedingungen nach den 4 Variablen<br />

sind von Null verschieden. Diese partiellen Ableitungen entsprechen den Koeffizienten aij aus (2.8), und<br />

die beiden von Null verschiedenen Koeffizienten sind<br />

Die Lagrange-Funktion ist<br />

T − V = m1<br />

2<br />

∂f1<br />

∂y1<br />

= a12 = 1 und ∂f2<br />

∂r = a23 = 1 .<br />

2<br />

˙x 1 + ˙y 2 m2 2<br />

1 + ˙x 2 + ˙y<br />

2<br />

2 2 − m1gy1 − m2gy2 ,<br />

bzw ausgedrückt durch die verallgemeinerten Koordinaten r und ϕ statt x2 = x1 + r sin ϕ und y2 =<br />

y1 − r cos ϕ:<br />

L = m1 + m2<br />

2<br />

2<br />

˙x 1 + ˙y 2 m2 2 2 2<br />

1 + ˙r + r ˙ϕ + 2 ˙r ( ˙x1 sin ϕ − ˙y1 cos ϕ) + 2r ˙ϕ ( ˙x1 cos ϕ + ˙y1 sin ϕ)<br />

2<br />

−m1gy1−m2g(y1−r cos ϕ) .<br />

Die Lagrange-Gleichungen lauten nach Einsetzen der Zwangsbedingungen:<br />

Lx1 : (m1 + m2)¨x1 + m2l( ¨ϕ cos ϕ − ˙ϕ 2 sin ϕ) = 0 (5.8)<br />

Ly1 : m2l( ¨ϕ sin ϕ + ˙ϕ 2 cos ϕ) + (m1 + m2)g = λ1 = ZSchiene (5.9)<br />

Lr : m2(¨x1 sin ϕ − l ˙ϕ 2 − g cos ϕ) = λ2 = −ZF aden (5.10)<br />

Lϕ : m2l(¨x1 cos ϕ − l ¨ϕ + g sin ϕ) = 0 . (5.11)<br />

Die erste und letzte dieser Gleichungen sind die Bewegungsgleichungen für x1 und ϕ, die wir schon früher<br />

hergeleitet haben. Für den Fall px1 = 0 berechnen wir in den Übungen eine Lösung (Aufgabe 2 zu Kapitel<br />

46


4). Wenn man eine Lösung hat, kann man mit Hilfe der zweiten und dritten Gleichung die Zwangskräfte<br />

ermitteln.<br />

Wir bestimmen jetzt noch einen Zusammenhang der beiden verallgemeinerten Zwangskräfte: ZSchiene<br />

lässt sich mit der vierten Lagrange-Gleichung umrechnen:<br />

ZSchiene = (m1 + m2 cos 2 ϕ)g + m2(l ˙ϕ 2 − ¨x1 sin ϕ) cos ϕ = m1g + ZF aden cos ϕ .<br />

Dieses Ergebnis ist anschaulich plausibel, da die Schiene zum einen die Gewichtskraft der Masse m1 und<br />

zum anderen die Zugkraft des Fadens kompensieren muss.<br />

5.3.3 Ein Beispiel mit Reibung<br />

Als weiteres Beispiel betrachten wir eine Perle auf einem ruhenden, parabelförmigen Draht mit Gleitreibung,<br />

Die Dissipationsfunktion (3.21) ist<br />

F (R) = −f| Z|ˆv = −f| ( ˙x, ˙y)<br />

Z| <br />

˙x 2 + ˙y 2 .<br />

P =<br />

v<br />

0<br />

f| Z|dˆv = f| Z| ˙x 2 + ˙y 2 .<br />

Die Zwangsbedingung lautet f(x, y) = y − ax 2 = 0, bzw. df = dy − 2ax dx.<br />

Die Lagrange-Funktion ist<br />

L = T − V = m<br />

2 ( ˙x2 + ˙y 2 ) − mgy ,<br />

und die Lagrange-I-Gleichungen sind<br />

und<br />

d ∂L ∂L ∂P<br />

− +<br />

dt ∂ ˙x ∂x ∂ ˙x<br />

d ∂L ∂L ∂P<br />

− +<br />

dt ∂ ˙y ∂y ∂ ˙y<br />

= λ∂f<br />

∂x ⇒ m¨x + f| ˙x<br />

Z| = −2axλ = Zx<br />

˙x 2 + ˙y 2<br />

= λ∂f<br />

∂y ⇒ m¨y + mg + f| ˙y<br />

Z| <br />

˙x 2 + ˙y 2 = λ = Zy .<br />

Wir verwenden die Zwangsbedingung, um y zu eliminieren: y − ax 2 = 0 ⇒ ˙y = 2ax ˙x , ¨y = 2a( ˙x 2 + x¨x).<br />

Der Betrag der Zwangskraft ist | Z| =<br />

<br />

Z 2 x + Z 2 y = λ √ 4a 2 x 2 + 1, er ist also von y unabhängig.<br />

Dies ist in die beiden Lagrange-I-Gleichungen einzusetzen, aus denen dann λ eliminiert werden kann.<br />

Das Vorzeichen der Wurzel und damit die Richtung der Zwangskraft hängt davon ab, ob die Perle sich<br />

gerade nach rechts bewegt (positives ˙x) oder nach links (negatives ˙x). Es ergibt sich für ˙x > 0:<br />

m¨x + fλ√ 4a 2 x 2 + 1 ˙x<br />

√ ˙x 2 + 4a 2 x 2 ˙x 2<br />

= −2axλ ⇒ m¨x + fλ = −2axλ<br />

47


und<br />

2ma( ˙x 2 + x¨x) + mg + fλ√ 4a 2 x 2 + 1 2ax ˙x<br />

√ ˙x 2 + 4a 2 x 2 ˙x 2 = λ ⇒ 2ma( ˙x2 + x¨x) + mg + 2axfλ = λ .<br />

Elimination von λ führt nach elementaren Rechenschritten auf<br />

Für ˙x < 0 ergibt sich entsprechend<br />

(1 + 4a 2 x 2 )¨x + (2ax + f)(2a ˙x 2 + g) = 0 .<br />

(1 + 4a 2 x 2 )¨x + (2ax − f)(2a ˙x 2 + g) = 0 .<br />

Damit haben wir sowohl die Zwangskräfte, als auch die Bewegungsgleichungen bestimmt.<br />

Aufgaben<br />

1. In dem Beispiel mit der Leiter an der Wand (s. Ende von Kapitel 2) wurde die Kraft F auf ein Seil,<br />

das die Leiter an ihrem Ort festhält, mit Hilfe des d’Alembert-Prinzips errechnet. Bestimmen Sie<br />

die Zwangskraft F nun mit den Lagrange-Gleichungen erster Art.<br />

2. Berechnen Sie die Lagrange-Gleichungen erster Art und die Ausdrücke für die verallgemeinerte<br />

Zwangskraft für ein gewöhnliches Pendel, also für eine Masse m an einem Faden der Länge l, das<br />

nur in der x − y-Ebene schwingen kann.<br />

3. (Aufgabe 2 der Bachelor-Klausur von 2005)<br />

48


Ein Massepunkt (1) bewegt sich auf der x-Achse und ein zweiter Massepunkt (2) bewegt sich auf<br />

der y-Achse. Beide Massepunkte haben gleiche Massen m und sind durch eine masselose Stange<br />

der Länge b miteinander verbunden. Die Bewegung sei reibungsfrei und die Schwerkraft wirke in<br />

Richtung der Winkelhalbierenden der x-Richtung und y-Richtung.<br />

(a) Stellen Sie die lagrangeschen Bewegungsgleichungen erster Art für x1 und y2 auf.<br />

(b) Drücken Sie x1 und y2 durch den Winkel ϕ der Stange mit der x-Achse aus und berechnen Sie<br />

die Bewegungsgleichung für ϕ.<br />

(c) Bestimmen Sie die Gleichgewichtslagen.<br />

(d) Berechnen Sie die Frequenz ω0 der Schwingung für kleine Auslenkungen aus der stabilen Gleichgewichtslage.<br />

49


Kapitel 6<br />

Hamiltonsches Prinzip<br />

Das von W. R. Hamilton (1805 - 1864) im Alter von 18 Jahren entdeckte Hamiltonsche Prinzip ist gleichwertig<br />

mit den Lagrange-Formalismen. Letztere können sehr effizient aus dem Hamiltonschen Prinzip<br />

abgeleitet werden. Das Hamiltonsche Prinzip ist ein Extremalprinzip. Wir werden also eine Größe definieren,<br />

die durch die klassischen Bahnen minimiert oder maximiert wird oder dort einen Sattelpunkt<br />

hat. Diese Größe ist die sogenannte “Wirkung”. Solche Extremalprinzipien stecken nicht nur hinter den<br />

Bewegungsgleichungen der klassischen <strong>Mechanik</strong>, sondern treten auch in anderen Gebieten der Physik<br />

auf. Ein Beispiel hierfür ist das Prinzip der Strahlenoptik, dass die Lichtstrahlen den zeitlich kürzesten<br />

Weg nehmen.<br />

6.1 Variationsrechnung (ohne Nebenbedingungen)<br />

Bevor wir das Hamiltonsche Prinzip behandeln, befassen wir uns zunächst allgemein mit der Variationsrechnung.<br />

Bei der Variationsrechnung geht es darum, eine Funktion zu finden, die eine bestimmte Größe<br />

maximiert oder minimiert. Wir formulieren diese Aufgabe folgendermaßen:<br />

Gegeben sei eine Funktion F = F (y(x), y ′ (x), x) mit stetig differenzierbarem y(x) und mit y ′ (x) ≡<br />

dy/dx. Gegeben seien außerdem zwei Punkte P1 und P2 mit den Koordinaten (x1, y1) und (x2, y2). Für<br />

welche Kurve y(x) zwischen P1 und P2 wird das Integral<br />

x2<br />

I ≡ F (y(x), y ′ (x), x) dx (6.1)<br />

extremal?<br />

x1<br />

Zur Lösung dieser Aufgabe betrachten wir alle Kurven in der Umgebung der gesuchten Lösung: Sei<br />

y(x) die gesuchte Kurve und η(x) eine beliebige Funktion mit η(x1) = η(x2) = 0. Dann heißt<br />

die variierte Kurve. ε ist ein kleiner Parameter, und<br />

heißt Variation der Kurve y(x). Es gilt<br />

d.h. Variation und Differentiation sind vertauschbar.<br />

ˆy(x) = y(x) + εη(x) (6.2)<br />

δy(x) ≡ εη(x) (6.3)<br />

d<br />

dx δy(x) = εη′ (x) ≡ δy ′ (x) = δ d<br />

y(x) , (6.4)<br />

dx<br />

50


Nach diesen Definitionen und Vorüberlegungen betrachten wir jetzt das Integral I, wobei wir für y(x)<br />

den Ansatz (6.2) einsetzen und I als Funktion von ɛ ansehen:<br />

x2<br />

I(ε) ≡ F (y + εη, y ′ + εη ′ , x) dx . (6.5)<br />

Wir suchen ein Extremum von I. Das bedeutet, dass<br />

x2<br />

dI <br />

′<br />

<br />

∂F (y, y , x)<br />

dε =<br />

ε=0 x1 ∂y<br />

x1<br />

η(x) + ∂F (y, y′ , x)<br />

∂y ′ η ′ (x)<br />

<br />

dx = 0 (6.6)<br />

sein muss für alle Funktionen η(x).<br />

Wir formen den zweiten Summanden durch partielle Integration um:<br />

x2<br />

∂F (y, y<br />

x1<br />

′ , x)<br />

∂y ′ η ′ x2<br />

partielle Integration d ∂F (y, y<br />

(x)dx = −<br />

x1 dx<br />

′ <br />

, x)<br />

η(x) dx +<br />

∂y<br />

∂F (y, y′ , x)<br />

∂y ′<br />

x2<br />

<br />

η(x) <br />

. (6.7)<br />

x1<br />

<br />

Eingesetzt in (6.6) ergibt sich<br />

x2<br />

x1<br />

∂F (y, y ′ , x)<br />

∂y<br />

− d<br />

dx<br />

Dies ist genau dann für alle möglichen Funktionen η(x) erfüllt, wenn<br />

null, da η(x1)=η(x2)=0<br />

∂F (y, y ′ , x)<br />

∂y ′<br />

<br />

η(x)dx = 0 (6.8)<br />

d ∂F ∂F<br />

− = 0 (6.9)<br />

dx ∂y ′ ∂y<br />

ist. (Das folgt aus dem “Fundamental-Lemma der Variationsrechnung ohne Nebenbedingungen”.)<br />

Wir haben also die Aufgabe, das Integral I zu maximieren (oder minimieren), zurückgeführt auf die<br />

Aufgabe, die Differenzialgleichung (6.9) zu lösen.<br />

Hängt der Integrand F (y, y ′ ) nicht explizit von x ab, ist es zur Lösung konkreter Aufgaben zweckmäßig,<br />

die Bedingung (6.9) auf die Bedingung<br />

′ ∂F<br />

H ≡ F − y = konst (6.10)<br />

∂y ′<br />

umzuschreiben.<br />

Test: H = konst bedeutet dH/dx = 0, und dies sieht man anhand von<br />

<br />

dH ∂F ∂F ∂F d ∂F ∂F d ∂F<br />

= y′ + y′′ − y′′ − y′ = y′ −<br />

dx ∂y ∂y ′ ∂y ′ dx ∂y ′ ∂y dx ∂y ′<br />

<br />

= 0 .<br />

<br />

=0 nach Gl. (6.9)<br />

Also ist H = konst genau dann erfüllt, wenn Gl. (6.9) erfüllt ist.<br />

6.2 Beispiel: Brachistochronen-Problem<br />

Als Beispiel für die Variationsrechnung mit einer Variablen betrachten wir das sogenannte Brachistochronen-<br />

Problem. Dieses in der Geschichte der Mathematik berühmte Problem wurde 1696 von Johann Bernoulli<br />

gestellt und begründete die Variationsrechnung: Ein Massepunkt mit Anfangsgeschwindigkeit Null soll<br />

im Gravitationsfeld reibungsfrei von P1 = (x1, 0) nach P2 = (x2, y2) laufen. (Es zeige die y-Achse in<br />

Richtung der Gravitationskraft, so dass y2 > 0 ist.) Gesucht ist diejenige Zwangsfläche, die die hierfür<br />

benötigte Zeit minimiert.<br />

51


Wir beschreiben die Zwangsfläche, auf der die Masse rutscht, durch die Kurve y(x), wobei y(x1) = 0<br />

und y(x2) = y2 ist. Die Laufzeit ist gegeben durch<br />

mit<br />

x2<br />

T =<br />

ds 2 = dx 2 + dy 2 und 1<br />

2 mv2 = mgy(x) .<br />

(Beim letzten Schritt haben wir den Energieerhaltungssatz mit v0 = 0 verwendet.) Also ist<br />

T = 1<br />

<br />

<br />

x2<br />

1 + y<br />

√<br />

2g x1<br />

′2<br />

dx .<br />

y<br />

Ein Extremum von T zu finden bedeutet, Gl. (6.9) mit F = (1 + y ′2 )/y zu lösen, bzw. die Gleichung<br />

(6.10) H = konst mit H = F − y ′ ∂F/∂y ′ zu lösen.<br />

Letzteres führt auf <br />

1<br />

(1 + y ′2 = c<br />

)y<br />

bzw. mit der Ersetzung r0 = 1/(2c 2 )<br />

Mit der Substitution<br />

wird dies zu<br />

x2 − x1 = 2r0<br />

ϕ2<br />

ϕ1<br />

2 ϕ<br />

sin<br />

2<br />

cos ϕ<br />

2<br />

<br />

1 − sin<br />

2 ϕ<br />

2<br />

x1<br />

ds<br />

v<br />

x2 y2<br />

y<br />

dx =<br />

dy .<br />

2r0 − y<br />

x1<br />

y1<br />

2 ϕ<br />

y = 2r0 sin<br />

2 = r0(1 − cos ϕ)<br />

ϕ2<br />

ϕ2<br />

2 ϕ<br />

dϕ = 2r0 sin dϕ = r0<br />

2<br />

ϕ1<br />

ϕ1<br />

(1 − cos ϕ)dϕ = r0(ϕ − sin ϕ)| ϕ2<br />

ϕ1 .<br />

Zur Vereinfachung setzen wir x1 = 0. Außerdem ist wegen y1 = 0 auch ϕ1 = 0. Dann gilt<br />

y2 = r0(1 − cos ϕ2) und x2 = r0(ϕ2 − sin ϕ2) .<br />

Diese beiden Gleichungen legen die Parameter r0 und ϕ2 fest, weil ja x2 und y2 gegeben sind. Wenn wir<br />

als obere Integrationsgrenze nicht x2 und y2 bzw. ϕ2 wählen, sondern einen beliebigen Wert zwischen<br />

dem Anfangs- und Endpunkt, erhalten wir die gesamte Form der Zwangsfläche:<br />

y = r0(1 − cos ϕ) und x = r0(ϕ − sin ϕ) .<br />

Man nennt dies eine Zykloide. Die Steigung y ′ = dy/dx bekommt man, indem man dy/dϕ und dx/dϕ<br />

berechnet und durcheinander dividiert. Dies ergibt<br />

dy sin ϕ<br />

=<br />

dx 1 − cos ϕ ,<br />

was für ϕ < π positiv ist und für ϕ > π negativ wird. Wenn also x2/y2 so groß ist, dass ϕ > π wird,<br />

hat die Zwangsfläche ein Minimum, d.h. der tiefste Punkt liegt tiefer als der Endpunkt. Dies tritt auf für<br />

x2 > y2π/2.<br />

52


6.3 Verallgemeinerung auf mehrere Variablen<br />

Wenn F von mehreren Funktionen yi(x) und ihren Ableitungen abhängt, also F = F (y1, ..., yn; y ′ 1, ..., y ′ n; x),<br />

dann erhalten wir ganz analog<br />

d ∂F ∂F<br />

− = 0 , i = 1, ..., n . (6.11)<br />

dx ∂yi<br />

′ ∂yi<br />

Diese Gleichungen werden als Euler-Lagrange-Gleichungen bezeichnet. Wir definieren wieder ˆyi(x) =<br />

yi(x) + δyi(x) mit δyi(x) = ɛiηi(x). Die Variation δI des Integrals (6.1) auf den Kurven yi(x) ist definiert<br />

als<br />

δI =<br />

n<br />

i=1<br />

εi<br />

<br />

x2<br />

∂I <br />

n<br />

<br />

<br />

∂F<br />

∂εi<br />

=<br />

−<br />

ε1=...=εn=0 x1 ∂yi<br />

d ∂F<br />

dx ∂yi ′<br />

<br />

δyidx . (6.12)<br />

I heißt stationär falls δI = 0 ist für alle ηi(x), also wenn die Euler-Lagrange-Gleichungen erfüllt sind.<br />

Wenn I stationär ist, heißt das allerdings noch nicht, dass ein Maximum oder Minimum von I vorliegt.<br />

Es kann auch eine Art “Sattelpunkt” vorliegen. Aber für das folgende Hamiltonsche Prinzip ist die Frage,<br />

ob I extremal ist oder “nur” stationär, irrelevant, da in seiner Formulierung nur erwähnt wird, dass I<br />

stationär ist. Es wird keine Aussage darüber gemacht, dass I einen Extremwert annehmen muss.<br />

6.4 Hamiltonsches Prinzip<br />

Die Euler-Lagrange-Gleichungen haben genau die Form der Lagrange-Gleichungen zweiter Art. Dies sehen<br />

wir, wenn wir die Ersetzungen x → t, y → q, F → L machen. Die Funktion I nennen wir jetzt S.<br />

Das Hamiltonsche Prinzip lautet folgendermaßen: Die Bewegung eines mechanischen Systems zwischen<br />

den Zeiten t1 und t2 verläuft derart, dass die Wirkung<br />

Das bedeutet, dass<br />

i=1<br />

t2<br />

S ≡ L (q, ˙q, t) dt stationär ist. (6.13)<br />

t1<br />

δS = 0 (6.14)<br />

ist, was auch das Prinzip der stationären Wirkung genannt wird. In der Formulierung (6.13) ist dieses<br />

Prinzip für alle Systeme gültig, deren Kräfte sich gemäß (3.8) oder (3.12) aus einem Potenzial ableiten<br />

lassen und deren Zwangsbedingungen holonom bzw. differentiell sind.<br />

Wenn es k holonome Zwangsbedingungen gibt, ist L = L (q1, ..., q3N−k; q1, ˙ ..., ˙q3N−k; t) und<br />

t2<br />

δS =<br />

t1<br />

3N−k <br />

j=1<br />

<br />

∂L<br />

−<br />

∂qj<br />

d<br />

<br />

∂L<br />

δqjdt = 0 . (6.15)<br />

dt ∂qj ˙<br />

Hier repräsentiert δqi(t) eine Variation von qi(t) zum Zeitpunkt t. Das entspricht der in Kapitel 2 definierten<br />

virtuellen Verrückung. Mit (6.15) ist nach dem Fundamental-Lemma der Variationsrechnung das<br />

Hamiltonsche Prinzip zu den Lagrange-Gleichungen zweiter Art (3.10) äquivalent.<br />

Mit dem Hamiltonschen Prinzip lässt sich auf elegante Art die “Eichinvarianz” der Lagrange-Gleichungen<br />

zeigen, also dass die zwei Lagrange-Funktionen L(q, ˙q, t) und L ′ (q, ˙q, t) mit<br />

L ′ (q, ˙q, t) = cL(q, ˙q, t) + d<br />

f(q, t) (6.16)<br />

dt<br />

auf dieselben Lagrange-Gleichungen führen. Wir haben dies schon in Anschluss an (4.8) gezeigt, und wir<br />

53


zeigen dies jetzt nochmal auf eine andere Art:<br />

t2<br />

δ Ldt = 0<br />

t1<br />

t2<br />

⇒ δ<br />

t1<br />

L ′ t2<br />

dt = δ c<br />

t2<br />

= δ<br />

= 0<br />

t1<br />

t1<br />

t2<br />

Ldt +<br />

da an den Endpunkten keine Variation durchgeführt wird.<br />

t1<br />

<br />

d<br />

f(q, t)dt<br />

dt<br />

d<br />

dt f(q, t)dt = δ (f (q(t2), t2) − f (q(t1), t1))<br />

6.5 Variation mit Nebenbedingungen und Lagrange-Gleichungen<br />

erster Art<br />

Die Lagrange-Gleichungen erster Art (5.6) lassen sich durch die Methode der Lagrange-Multiplikatoren<br />

ableiten. Die Lagrange-Funktion wird jetzt in Abhängigkeit von allen 3N verallgemeinerten Koordinaten<br />

aufgestellt. Die Gleichung (6.15) wird also dahingehend geändert, dass eine Summation über alle 3N<br />

verallgemeinerten Koordinaten auftritt,<br />

t2<br />

t1<br />

3N<br />

j=1<br />

<br />

∂L<br />

−<br />

∂qj<br />

d<br />

<br />

∂L<br />

δqjdt = 0 . (6.17)<br />

dt ∂qj ˙<br />

Die virtuellen Verrückungen δqi(t) sind Zwangsbedingungen unterworfen und nicht unabhängig. Es gilt<br />

wieder<br />

3N<br />

aijδqj = 0 , i = 1, . . . , k .<br />

Wir addieren nun einen Term<br />

zu (6.17) und erhalten<br />

t2<br />

t1<br />

3N<br />

j=1<br />

j=1<br />

t2<br />

t1<br />

3N<br />

j=1 i=1<br />

<br />

∂L<br />

−<br />

∂qj<br />

d ∂L<br />

+<br />

dt ∂qj ˙<br />

k<br />

λiaijδqjdt = 0<br />

k<br />

i=1<br />

λiaij<br />

<br />

δqjdt = 0 . (6.18)<br />

Die Lagrangeschen Multiplikatoren λi werden so gewählt, dass die Terme in den k runden Klammern, die<br />

vor den k abhängigen δqj stehen, Null ergeben. Die restlichen 3N − k Klammern verschwinden ebenfalls,<br />

da die zugehörigen δqj unabhängig sind. Es ergeben sich also wieder die Lagrange-Gleichungen erster Art<br />

(5.6).<br />

6.6 Beispiele<br />

Als erstes Beispielsystem betrachten wir einen harmonischen Oszillator. Hier werden wir zeigen, dass die<br />

Wirkung nicht immer minimal ist, sondern dass sie für Zeiten, die größer als die halbe Schwingungsperiode<br />

sind, einen Sattelpunkt hat.<br />

Die Wirkung des harmonischen Oszillators ist<br />

t2<br />

m<br />

S[x] =<br />

2 ˙x2 − D<br />

2 x2<br />

<br />

dt .<br />

t1<br />

54


Wir setzen in Folgenden t1 = 0 und x(t1) = 0. Die Lösung der Bewegungsgleichungen ist x(t) = A sin ωt<br />

mit ω = D/m, und sie ist die Lösung der Bedingung δS = 0. Wir betrachten nun eine variierte Bahn<br />

ˆx(t) = x(t) + ɛη(t)<br />

mit η(0) = η(t2) = 0. Für diese Bahn lautet die Wirkung<br />

t2<br />

S[x + ɛη] = S[x] + ɛ [m ˙x ˙η − Dxη]dt + ɛ2<br />

2<br />

0<br />

t2 2 2<br />

m ˙η − Dη dt .<br />

Wir integrieren jeweils den ersten Term in den eckigen Klammern partiell und verwenden η(0) = η(t2) = 0.<br />

Dies führt auf<br />

t2<br />

S[x + ɛη] = S[x] − ɛ [m¨x + Dx]ηdt −<br />

0<br />

<br />

=0<br />

ɛ2<br />

t2<br />

[m¨η + Dη] ηdt ≡ S[x] + ∆S .<br />

2 0<br />

Wir entwickeln die Abweichungen η(t) in eine Fourierreihe,<br />

0<br />

η(t) =<br />

∞<br />

k=1<br />

<br />

kπ<br />

bk sin t<br />

t2<br />

und benutzen die Orthogonalitätsrelationen<br />

<br />

t2<br />

kπ lπ<br />

sin t sin t dt =<br />

t2 t2<br />

t2<br />

2 δkl ,<br />

woraus<br />

m¨η + Dη =<br />

folgt. Also ist<br />

∆S = − ɛ2<br />

∞<br />

<br />

2<br />

kπ<br />

D − m<br />

2<br />

Für<br />

k,l=1<br />

t2<br />

bkbl<br />

∞<br />

<br />

2 <br />

kπ<br />

kπ<br />

D − m bk sin t<br />

t2<br />

t2<br />

k=1<br />

t2<br />

0<br />

<br />

kπ lπ<br />

sin t sin t dt = −<br />

t2 t2<br />

ɛ2 t2<br />

2 2<br />

<br />

m π<br />

t2 > π = =<br />

D ω0<br />

T<br />

2<br />

0<br />

∞<br />

<br />

2<br />

kπ<br />

D − m<br />

gibt es ein k0 so, dass die eckigen Klammern für k < k0 positiv und für k > k0 negativ sind. Also ist für<br />

das ∆S negativ, also S[x] > S[x + ɛη1]. Für<br />

k0 <br />

<br />

kπ<br />

η1(t) ≡ bk sin t<br />

t2<br />

η2(t) ≡<br />

k=1<br />

∞<br />

k=k0+1<br />

<br />

kπ<br />

bk sin t<br />

t2<br />

dagegen ist ∆S positiv, also S[x] < S[x+ɛη2]. Folglich ist S[x] für t2 > T/2 weder minimal noch maximal.<br />

Als zweite Anwendung betrachten wir eine schwingende Saite. Hier ist unser Ziel, aus dem Prinzip<br />

der stationären Wirkung die Wellengleichung für diese Saite abzuleiten. Wir bezeichnen die Länge der<br />

Saite mit l und ihre Massenbelegung mit ϱ (das hat die Einheit kg/m). Die Saite werde an beiden Enden<br />

55<br />

k=1<br />

t2<br />

b 2 k .


festgehalten und mit einer konstanten Kraft F vorgespannt. Die Auslenkung an der Stelle x wird mit<br />

y(x, t) bezeichnet. Wir gehen davon aus, dass die Auslenkung so klein ist, dass dadurch F nicht verändert<br />

wird. Gegenüber der bisher betrachteten Situation sind die y jetzt keine diskreten Variablen (wie es die qj<br />

waren), sondern sie hängen kontinuierlich von x ab. Man hat also statt den Summen über j ein Integral<br />

über x in der Lagrange-Funktion.<br />

Wir berechnen zuerst die Lagrange-Funktion L = T − V . Es ist<br />

T = ϱ<br />

l<br />

˙y<br />

2<br />

2 (x, t)dx<br />

und<br />

<br />

V = F δl = F<br />

0<br />

<br />

ds − l = F<br />

<br />

l <br />

1 + y ′2dx − l .<br />

An geeigneter Stelle werden wir uns daran erinnern, dass y ′ eine kleine Größe ist. Variation der Wirkung<br />

ergibt<br />

<br />

<br />

t2 l <br />

ϱ<br />

δ Ldt = δ<br />

t1 0 2 ˙y2 − F 1 + y ′2<br />

<br />

<br />

dx + F l dt<br />

t2 <br />

l<br />

˙y<br />

= ϱ ˙yδ ˙y − F <br />

1 + y ′2 δy′<br />

t2 l<br />

dxdt [ϱ ˙yδ ˙y − F ˙yδy ′ ] dxdt<br />

=<br />

=<br />

t1<br />

l<br />

0<br />

0<br />

ϱ ˙yδy| t2<br />

t1 dx − F<br />

t2<br />

t1<br />

y ′ δy| l t2<br />

0 dt −<br />

t1<br />

t1<br />

0<br />

0<br />

l<br />

[ϱ¨y − F y ′′ ] δy dx dt<br />

0<br />

l<br />

t2<br />

ϱ ˙y[δy(x, t2) − δy(x, t1)]dx − F y ′ t2 l<br />

[δy(l, t) − δy(0, t)]dt − [ϱ¨y − F y ′′ ] δy dx dt .<br />

0<br />

t1<br />

Die Variation verschwindet am Anfang und am Ende der Zeit, also ist δy(x, t1) = δy(x, t2) = 0 für alle<br />

x. Außerdem verschwindet die Variation an den Rändern der Saite, und es ist δy(0, t) = δy(l, t) = 0 für<br />

alle t. Damit bleibt nur der dritte Term übrig, und es folgt<br />

t2 l<br />

δS = − [ϱ¨y − F y ′′ ] δy dx dt .<br />

t1<br />

0<br />

Da die Variationen δy(x, t) beliebig sind, kann das Doppelintegral nur verschwinden, wenn der Term in<br />

der eckigen Klammer Null ist. Damit haben wir die Wellengleichung<br />

erhalten. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Welle ist c = F/ϱ.<br />

1<br />

c 2 ¨y(x, t) = y′′ (x, t) (6.19)<br />

Bemerkung: Man kann die Bewegungsgleichung der Saite auch direkt aus den Lagrange-Gleichungen<br />

zweiter Art erhalten, wenn man die Saite diskretisiert. Wir unterteilen die Saite in N = l/∆x kleine<br />

Abschnitte der Länge ∆x. Wir schreiben also<br />

und machen die Ersetzung <br />

Damit ist<br />

xj = j∆x , yj = y(xj) , y ′ = yj+1 − yj<br />

∆x<br />

dxf(x, t) → <br />

∆xf(xj, t) .<br />

L = ϱ<br />

N−1 <br />

˙y<br />

2<br />

j=0<br />

2 j (t)∆xj − F<br />

2<br />

j<br />

56<br />

N−1 <br />

j=0<br />

yj+1 − yj<br />

(∆xj) 2 ∆xj ,<br />

t1<br />

0


wobei wir wieder 1 + y ′2 durch 1+y ′2 /2 ersetzt haben. Die Lagrange-Gleichungen zweiter Art sind also<br />

<br />

d ∂L<br />

yj − yj−1<br />

= ϱ¨yj∆xj = F<br />

+<br />

dt ∂ ˙yj<br />

∆x<br />

yj<br />

<br />

− yj+1<br />

=<br />

∆x<br />

∂L<br />

.<br />

∂yj<br />

Das führt auf<br />

ϱ¨yj = F 2yj − yj+1 − yj−1<br />

(∆x) 2<br />

und schließlich, wenn wir wieder zum Kontinuum gehen, auf<br />

Aufgaben<br />

ϱ¨y = F y ′′ .<br />

1. Seifenhaut: Eine Seifenhaut, die zwischen zwei an den Positionen x1 und x2 um die x-Achse zentrierten<br />

Kreisen mit den Radien y1 und y2 eingespannt ist, nimmt eine minimale Fläche ein.<br />

(a) Stellen Sie eine Bedingung für diese Fläche auf.<br />

(b) Berechnen Sie die Kurve y(x), die die minimale Fläche beschreibt. Gehen Sie dabei aus von<br />

′ ∂F F − y ∂y ′ = konst. ≡ a (siehe Gleichung (6.10) im Skript). In Ihrem Ergebnis für y(x) darf<br />

die Konstante a drinstehen. Erklären Sie am Ende, durch welche Bedingung der Wert von a<br />

festgelegt wird. (Hinweis: Vielleicht brauchen Sie folgende Beziehung: cosh 2 (x)−1 = sinh 2 (x).)<br />

2. Weisen Sie nach, dass sich ein Teilchen, das infolge von Zwangskräften auf einer gekrümmten Fläche<br />

laufen muss, ansonsten aber kräftefrei ist, auf einer Geodäten (also der kürzest möglichen Verbindung<br />

zwischen zwei Punkten) bewegt. (Statt der gekrümmten Fläche kann man auch einen gekrümmten<br />

Raum betrachten - das findet bei der Allgemeinen Relativitätstheorie eine Anwendung.)<br />

3. Hochspannungsleitung: Gegeben ist ein Kabel, das an den Enden xA und xB auf derselben Höhe<br />

yA = yB aufgehängt ist und nicht den Boden berühren kann. Im Folgenden soll schrittweise die<br />

Form des Kabels berechnet werden, indem die potenzielle Energie minimiert wird.<br />

(a) Stellen Sie die potenzielle Energie in der Form Upot = F (y, y ′ ) dx auf, wobei y(x) die Form<br />

des Kabels beschreibt.<br />

(b) Das Kabel habe die Länge L (wobei der Abstand der beiden Pfosten xB − xA < L sei).<br />

Schreiben Sie diese Nebenbedingung in Form eines Integrals g(y, y ′ ) dx − L = 0.<br />

(c) Um die Variation mit Nebenbedingungen zu lösen, soll eine erweiterte Funktion ˜ F aufgestellt<br />

werden, die die Nebenbedingungen enthält: ˜ F = F + λg mit λ ∈ R.<br />

Gehen Sie nun von der Beziehung ˜ F − y ′ ∂ ˜ F<br />

∂y ′ = konst. ≡ a (analog zu Gleichung (6.10) im<br />

Skript) aus, um aus der erweiterten Funktion ˜ F eine Lösung für die Kurve des Kabels y(x) zu<br />

bestimmen. Ihr Ergebnis für y(x) darf von a und λ abhängen. (Hinweis: Vielleicht brauchen<br />

Sie folgende Beziehung: cosh 2 (x) − 1 = sinh 2 (x).)<br />

(d) Geben Sie die beiden Beziehungen an, durch die a und λ festgelegt sind.<br />

57


Kapitel 7<br />

Zentralkraft<br />

In diesem und den folgenden drei Kapiteln behandeln wir Anwendungen des bisher behandelten Stoffs.<br />

In diesem Kapitel diskutieren wir das Problem zweier Körper, die sich unter dem Einfluss einer wechselseitigen<br />

Zentralkraft bewegen. Zentralkräfte zeigen in Richtung der Verbindungslinie der beiden Körper.<br />

Wir beschränken uns wie in Abschnitt 1.5 auf konservative Zentralkräfte, deren Betrag nur vom Betrag<br />

des Abstands der beiden Körper abhängt, aber nicht von der Richtung. Wir betrachten zwei Teilchen mit<br />

den Massen m1, m2 und der Kraft F = F (r, t) zwischen ihnen, wobei r ≡ r1 − r2 ist:<br />

m1 ¨ r1 = F (r, t) , m2 ¨ r2 = − F (r, t) (7.1)<br />

7.1 Allgemeine Lösung der Bewegungsgleichungen<br />

Unser Ziel ist es, diese Bewegungsgleichungen zu lösen. Da dies ein abgeschlossenes Zweiteilchensystem<br />

ist, ist es zweckmäßig, einen Koordinatenwechsel zu Schwerpunkts- und Relativkoordinaten vorzunehmen.<br />

Von der Schwerpunktbewegung wissen wir nämlich schon, dass für sie die Erhaltung von Impuls und<br />

Drehimpuls gilt.<br />

Der Schwerpunkts-Vektor ist<br />

R = m1r1 + m2r2<br />

.<br />

m1 + m2<br />

Addition der beiden Gleichungen in (7.1) führt auf (vgl. (1.17))<br />

m1 ¨ r1 + m2 ¨ r2 = 0 ⇒ ¨ m1<br />

R = ¨ r1 + m2 ¨ r2<br />

= 0 . (7.2)<br />

m1 + m2<br />

Die Bewegung des Schwerpunkts ist also gleichförmig.<br />

Subtraktion der aus (7.1) durch Multiplikation mit den Massen erhaltenen Gleichungen<br />

ergibt<br />

mit der sogenannten reduzierten Masse<br />

m2m1 ¨ r1 = m2 F , m1m2 ¨ r2 = −m1 F<br />

m1m2<br />

m1 + m2<br />

¨r = F (r, t) (7.3)<br />

m ≡ m1m2<br />

. (7.4)<br />

m1 + m2<br />

Aus Gleichungen (7.2) und (7.3) erkennen wir, dass die Schwerpunktsbewegung und die Relativbewegung<br />

völlig voneinander entkoppelt sind, also dass die Gleichung für R nicht von der für r abhängt und<br />

umgekehrt.<br />

58


Im Folgenden betrachten wir nur noch die Relativbewegung. Wir sehen an Gleichung (7.3), dass die<br />

Relativbewegung zweier Massen, die von außen nicht beeinflusst werden, zur Bewegung eines Einteilchensystems<br />

mit reduzierter Masse m äquivalent ist:<br />

m ¨ r = F (r, t) (7.5)<br />

Zentralkräfte zeigen immer auf einen bestimmten Punkt, das sog. Kraftzentrum, den wir o.B.d.A. in den<br />

Ursprung des Koordinatensystems legen.<br />

Ein Beispiel hierfür ist die Gravitationskraft zwischen zwei Massen (1.13)<br />

m ¨ r = −G m1m2<br />

r 2<br />

wobei M ≡ m1 + m2.<br />

Nach (1.21) ist der Drehimpuls konstant, d.h.<br />

r<br />

= −GmM<br />

r r2 r<br />

r<br />

L = r × p = konst.<br />

Dies folgt auch aus dem Noether-Theorem, da eine Rotationsinvarianz vorliegt: weder die kinetische,<br />

noch die potenzielle Energie ändern sich bei einer Rotation des Koordinatensystems. Das Problem besitzt<br />

Kugelsymmetrie, d.h. Drehungen um irgendeine feste Achse haben keinen Einfluss auf die Lösungen.<br />

Da der Ortsvektor senkrecht zum konstanten Drehimpuls steht,<br />

r · L = r · (r × p) = 0 ,<br />

verlaufen Zentralkraftbewegungen in einer Ebene. (Für den Spezialfall L = 0 ist r ˙ r, d.h. die Bewegung<br />

verläuft sogar längs einer Linie.)<br />

Konservative Zentralkräfte lassen sich ausdrücken als<br />

F (r) = f(r) r<br />

(r)<br />

, f(r) = −dV , (7.6)<br />

r dr<br />

wobei das Potenzial V (r) nur von r ≡ |r| abhängt (Vgl. Abschnitt 1.5).<br />

Weil die Bewegung in einer Ebene stattfindet, reicht es, das System durch zwei Freiheitsgrade zu<br />

beschreiben. Wir wählen Polarkoordinaten und verwenden den Lagrange-Formalismus:<br />

L = m<br />

2<br />

Die entsprechenden Bewegungsgleichungen sind<br />

und<br />

˙r 2 + r 2 ˙ϕ 2 − V (r) . (7.7)<br />

m¨r = − dV<br />

dr<br />

+ mr ˙ϕ2<br />

mr(r ¨ϕ + 2 ˙r ˙ϕ) = 0 .<br />

Wegen der zweiten Zeitableitungen sind zur Lösung eigentlich vier Integrationen nötig. Unter Verwendung<br />

der Erhaltungsgrößen können wir dies auf zwei Integrationen reduzieren.<br />

Die Variable ϕ ist zyklisch, also ist<br />

pϕ = ∂L<br />

∂ ˙ϕ = mr2 ˙ϕ = konst (7.8)<br />

eine Erhaltungsgröße. Dies ist der Drehimpuls.<br />

Außerdem sind alle zu Beginn von Abschnitt 4.4 genannten Bedingungen dafür erfüllt, dass die Energie<br />

eine Erhaltungsgröße ist. Insbesondere ist L nicht explizit zeitabhängig. Es gilt also<br />

E = m<br />

2<br />

˙r 2 + r 2 ˙ϕ 2 + V (r) (7.8)<br />

= m<br />

59<br />

2 ˙r2 + p2ϕ 2mr<br />

2 + V (r) = konst . (7.9)


Wir gehen weiterhin so vor wie beim Lösen der Aufgabe mit dem Teilchen im Kreiskegel (Abschnitt 4.4).<br />

Auflösen von (7.9) nach ˙r ergibt<br />

˙r ≡ dr<br />

<br />

<br />

2<br />

= ± E − V (r) −<br />

dt m<br />

p2ϕ 2mr2 <br />

. (7.10)<br />

Die beiden Vorzeichen gelten jeweils für verschiedene Bahnabschnitte, nämlich für diejenigen, bei denen<br />

r mit der Zeit zunimmt, und für diejenigen, bei denen r mit der Zeit abnimmt. Der Ausdruck unter der<br />

Wurzel in Gleichung (7.10) darf nicht negativ sein. Wenn er Null wird, also wenn<br />

˙r = 0 bzw. V (r) + p2ϕ = E (7.11)<br />

2mr2 ist, hat die Bewegung dort einen Umkehrpunkt. Damit es einen minimalen Abstand gibt, muss −V (r)<br />

im Limes r → 0 negativ werden, oder, wenn es positiv ist, langsamer anwachsen als p2 ϕ/2mr2 . Wenn es<br />

auch einen maximal möglichen Abstand gibt, nennt man die Bewegung “gebunden”.<br />

Es bleiben jetzt noch zwei Integrationen übrig, denn die Gleichungen erster Ordnung (7.8),(7.10) sind<br />

noch zu lösen. Integration von (7.10) mit r0 ≡ r(t = 0) ergibt<br />

dt<br />

dr<br />

= ± <br />

2<br />

m<br />

1<br />

<br />

E − V (r) − p2 ϕ<br />

2mr 2<br />

<br />

r<br />

⇒ t = ± <br />

r0<br />

2<br />

m<br />

dr ′<br />

<br />

E − V (r ′ ) − p2 ϕ<br />

2mr ′2<br />

. (7.12)<br />

Die Radialbewegung r = r(t) ergibt sich aus der Umkehrung von (7.12) für vorgegebene V (r), E, pϕ. Diese<br />

Lösungen gelten jeweils für Abschnitte, bei denen ˙r ein festes Vorzeichen hat. An den Umkehrpunkten<br />

werden die Lösungen zu verschiedenen Vorzeichen aneinander gefügt.<br />

Mit (7.8), d.h. ˙ϕ = dϕ<br />

dt<br />

= pϕ<br />

mr 2 (t) und ϕ0 ≡ ϕ(t = 0) ist<br />

ϕ(t) = pϕ<br />

t<br />

m 0<br />

dt ′<br />

r 2 (t ′ ) + ϕ0 . (7.13)<br />

Damit ist das Problem formal auf Integrale mit vier (Integrations-)konstanten pϕ, E, r0, ϕ0 zurückgeführt.<br />

Wenn man sich nur für die Bahngestalt, und nicht für den zeitlichen Ablauf interessiert, bestimmt<br />

man die geometrische Bahn r(ϕ) bzw. ϕ(r) statt der beiden Größen r(t), ϕ(t). Die Berechnung geht so:<br />

1) dt (7.8)<br />

= mr2<br />

dϕ , 2) dt (7.10)<br />

= ± <br />

1),2)<br />

pϕ<br />

mr<br />

⇒ 2<br />

dϕ = ± <br />

pϕ<br />

2<br />

m<br />

⇒ ϕ(r) = ± pϕ<br />

r<br />

m r0<br />

dr<br />

<br />

E − V (r) − p2 ϕ<br />

2mr 2<br />

dr ′<br />

<br />

r ′2<br />

<br />

2<br />

m E − V (r ′ ) − p2ϕ 2mr ′2<br />

7.2 Das zweite Keplersche Gesetz<br />

2<br />

m<br />

dr<br />

<br />

E − V (r) − p2 ϕ<br />

2mr 2<br />

⇔ dϕ = ±pϕ<br />

m<br />

r 2<br />

<br />

2<br />

m<br />

<br />

dr<br />

<br />

E − V (r) − p2 ϕ<br />

2mr 2<br />

+ ϕ0 . (7.14)<br />

Das zweite Keplersche Gesetz besagt, dass der “Fahrstrahl”, also die Verbindungslinie von der Sonne zu<br />

dem betrachteten Planeten, in gleicher Zeit gleiche Flächen überstreicht. Historisch betrachtet hat Kepler<br />

dieses Gesetz vor seinen beiden anderen Gesetzen gefunden, als er die Bahn des Planeten Mars genau<br />

untersuchte und feststellte, dass die Geschwindigkeit des Planeten schneller ist, wenn der Planet näher<br />

an der Sonne ist.<br />

60


Dieses Gesetz folgt direkt aus der Drehimpulserhaltung und gilt für alle konservativen Zentralkräfte,<br />

nicht nur für Kräfte der Form f(r) ∝ 1/r 2 . Wir bezeichnen die überstrichene Fläche mit A, und für die<br />

Änderung von A gilt<br />

dA = 1<br />

r rdϕ<br />

2<br />

⇒ dA<br />

dt<br />

=<br />

1 dϕ (7.8) pϕ<br />

r2 = = konst .<br />

2 dt 2m<br />

(7.15)<br />

Also ist 1<br />

2 r2 ˙ϕ die Flächengeschwindigkeit, d.h. die Fläche, die vom Radiusvektor pro Zeiteinheit<br />

überstrichen wird, und sie ist identisch mit dem Drehimpuls.<br />

7.3 Das effektive Potenzial<br />

Für Potenziale vom Typ V (r) = ar n+1 , d.h. Kräfte F ∝ r n , führen die Bewegungsgleichungen für<br />

n = 1, −2, −3 auf elementare Integrale und für n = 5, 3, 0, −4, −5, −7 auf die sogenannten elliptischen<br />

Funktionen (siehe z.B. Goldstein S.81-83). Berechnungen und Ergebnisse sind i.A. kompliziert. Qualitative<br />

Aussagen über die radiale Bewegung lassen sich aber durch Betrachtung des effektiven Potenzials Veff(r)<br />

machen. Wir schreiben die Gesamtenergie (7.9) als<br />

mit dem sogenannten “effektiven Potenzial”<br />

E = m<br />

2 ˙r2 + Veff(r) (7.16)<br />

Veff(r) ≡ V (r) +<br />

p 2 ϕ<br />

2mr 2<br />

<br />

Zentrifugalpotenzial<br />

. (7.17)<br />

Dieses setzt sich zusammen aus dem zur Zentralkraft gehörenden Potenzial und dem “Zentrifugalpotenzial”,<br />

aus dessen Ableitung nach r sich die Zentrifugalkraft ergibt.<br />

Als Beispiel betrachten wir den harmonischen Oszillator, der durch das Potenzial<br />

definiert ist, also ist die Kraft<br />

V (r) = 1<br />

2 fr2<br />

F (r) = −fr<br />

eine lineare Rückstellkraft, wie z.B. bei einem Pendel mit kleiner Auslenkung oder einer Masse an einer<br />

elastischen Feder.<br />

61


Das effektive Potenzial geht sowohl für r → 0 als auch für r → ∞ gegen Unendlich und hat dazwischen<br />

irgendwo ein Minimum. Die Energie muss mindestens so groß wie das effektive Potenzial an diesem<br />

Minimum sein, damit eine Lösung (7.10) existiert. Die Bewegung hat zwei Umkehrpunkte, die sich aus<br />

der Bedingung E = Veff(r) ergeben. Die Bewegung ist also “gebunden”.<br />

Für pϕ = 0 gilt Veff = V , und die Bewegung verläuft längs einer Geraden, z.B. längs der x-Achse. Die<br />

lineare Rückstellkraft Fx = −fx führt dann auf eine einfache harmonische Schwingung.<br />

Für pϕ = 0 geht die Bewegung nicht durch das Kraftzentrum. An der komponentenweisen Darstellung<br />

Fx = −fx und Fy = −fy sehen wir, dass die Bewegung die Resultierende zweier harmonischer Schwingungen<br />

im rechten Winkel zueinander mit gleicher Frequenz ist. Dies führt i.A. auf elliptische Bahnen.<br />

(Wenn die Frequenzen nicht gleich wären, ergäben sich Lissajous-Figuren.)<br />

Wenn E den minimal möglichen Wert hat, nämlich den des Minimums von Veff(r), dann liegt eine<br />

Kreisbahn vor. Das Minimum von Veff ergibt sich aus der Gleichung<br />

0 = dVeff<br />

dr = fr − p2ϕ ,<br />

mr3 und der Radius der Kreisbahn ergibt sich folglich zu<br />

r0 =<br />

1/4 2 pϕ .<br />

mf<br />

7.4 Geschlossene und offene Bahnen<br />

Für eine gebundene Bewegung zwischen zwei Umkehrpunkten r1, r2 ändert sich ϕ bei einem vollen Zyklus<br />

r1 → r2 → r1 mit (7.14) um<br />

Die Bahn heißt geschlossen, falls<br />

∆ϕ = + pϕ<br />

r2<br />

m r1<br />

− pϕ<br />

r1<br />

m r2<br />

= 2 pϕ<br />

r2<br />

m r1<br />

dr ′<br />

r ′2<br />

<br />

2<br />

m E − V (r ′ ) − p2ϕ 2mr ′2<br />

dr ′<br />

r ′2<br />

<br />

2<br />

m E − V (r ′ ) − p2 ϕ<br />

2mr ′2<br />

dr ′<br />

r ′2<br />

<br />

2<br />

m E − V (r ′ ) − p2 ϕ<br />

2mr ′2<br />

<br />

<br />

.<br />

∆ϕ = m<br />

2π (7.18)<br />

n<br />

62


ist mit ganzen Zahlen m und n, d.h. wenn n Radialzyklen m Umläufe ergeben, so dass sich die Kurve<br />

nach m Umfäufen schließt.<br />

Sonst ist die Bahn offen. Nur der harmonische Oszillator, V = f<br />

2 r2 , und das Keplerpotenzial, V = − α<br />

r ,<br />

haben finite geschlossene Bahnen für alle Anfangsbedingungen.<br />

7.5 Kepler-Potenzial<br />

Das wichtigste Zentralkraftpotenzial, das Kepler-Potenzial<br />

V (r) = −G m1m2<br />

r<br />

≡ −α<br />

r<br />

(7.19)<br />

der Planetenbewegung, wird im Folgenden ausführlich behandelt. Das effektive Potenzial für Bewegungen<br />

im Gravitationsfeld ist nach (7.17)<br />

Veff(r) = − α<br />

r + p2ϕ .<br />

2mr2 Damit ist<br />

E = Veff(r) + 1<br />

2 m ˙r2 ,<br />

was genau derselbe Ausdruck ist, den man in einem eindimensionalen System hätte, in dem das Potenzial<br />

dem Veff entspricht.<br />

Folgende Fälle sind zu unterscheiden:<br />

1) E = E1 ≥ 0: Da das effektive Potenzial für r → 0 gegen +∞ geht, gibt es einen minimalen Abstand<br />

r1 der Masse m vom Kraftzentrum. Dieser ist durch die Bedingung Veff(r1) = E1 festgelegt. Da Veff<br />

für genügend große r negativ ist, gibt es keinen äußeren Umkehrpunkt. Die Bahn ist infinit und<br />

beschreibt einen Streuvorgang, d.h. ein aus dem Unendlichen ankommendes Teilchen wird aufgrund<br />

des Zentrifugalpotenzials zurückgestoßen und wandert wieder ins Unendliche. Nur für pϕ = 0 stürzt<br />

das Teilchen ins Kraftzentrum. Wir werden später herausfinden, dass für pϕ = 0 und E1 > 0 eine<br />

Hyperbelbahn und für E1 = 0 eine Parabelbahn vorliegt.<br />

2) Wenn E negativ ist, ist die Bewegung gebunden, weil Veff für r → ∞ gegen Null geht, also für<br />

genügend große r über dem Wert von E liegt. Es gibt also zwei Umkehrpunkte, diese seien bei den<br />

Radien r2 (innen) und r3 (außen). Wir bezeichnen mit E2 die Energie Veff(r2) und mit E3 den<br />

minimalen Wert von Veff. Wenn E3 < E = E2 < 0 ist, ist die Bahn finit und beschreibt einen<br />

gebundenen Zustand. Das Teilchen läuft zwischen den Umkehrpunkten r2 und r3 hin und her.<br />

3) Die Energie entspricht dem Minimum von Veff. Die Bahn bildet einen Kreis mit Radius<br />

63


dVeff<br />

dr<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

r<br />

= r0 = α<br />

r2 −<br />

0<br />

p2ϕ mr3 0<br />

= 0 ⇒ r0 = p2ϕ . (7.20)<br />

mα<br />

Wir berechnen nun noch die geometrische Bahn ϕ(r). (7.19) in (7.14) eingesetzt ergibt:<br />

r<br />

ϕ(r) = ±<br />

Substitution u ′ = 1<br />

r ′ ⇒ du ′ = − 1<br />

r ′2 dr ′ ergibt<br />

Unter Benutzung von<br />

r0<br />

dr ′<br />

<br />

r ′2<br />

− 1<br />

r ′2 + 2mα<br />

p2 ϕr′ + 2mE<br />

p2 ϕ<br />

u<br />

du<br />

ϕ(u) = ∓<br />

u0<br />

′<br />

<br />

−u ′2 2mα + p2 u<br />

ϕ<br />

′ + 2mE<br />

p2 ϕ<br />

<br />

dx<br />

√ ax 2 + bx + c =<br />

für a < 0 , b 2 − 4ac > 0 ergibt sich<br />

+ ϕ0 . (7.21)<br />

+ ϕ0 .<br />

<br />

1<br />

2ax + b<br />

√ arccos √<br />

−a b2 − 4ac<br />

⎛<br />

−2u + 2mα<br />

p2 ϕ<br />

2 ⎜<br />

ϕ(u) = ∓ arccos ⎜<br />

⎝<br />

<br />

<br />

2mα<br />

p2 +<br />

ϕ<br />

8mE<br />

p2 ⎟<br />

⎠ + ˆϕ0 (7.22)<br />

ϕ<br />

⎛<br />

p2<br />

ϕ<br />

1 −<br />

= ∓ arccos ⎝ mαu ⎞<br />

⎠ + ˆϕ0 . (7.23)<br />

<br />

1 + 2Ep2 ϕ<br />

mα 2<br />

Auflösen von (7.22) nach u ergibt mit cos (±(ϕ − ˆϕ0)) = cos(ϕ − ˆϕ0) dann<br />

1 mα<br />

≡ u =<br />

r p2 <br />

1 − 1 +<br />

ϕ<br />

2Ep2 <br />

ϕ<br />

cos(ϕ − ˆϕ0) .<br />

mα2 Wir wählen ϕ0 ≡ ˆϕ0 + π. Mit cos(ϕ − ϕ0 + π) = − cos(ϕ − ϕ0) lautet dann die Bahngleichung<br />

Wir definieren die Exzentrizität ε der Bahn<br />

1<br />

r = C (1 + ε cos(ϕ − ϕ0)) . (7.24)<br />

ε ≡<br />

<br />

1 + 2Ep2ϕ . (7.25)<br />

mα2 C −1 = p2<br />

ϕ<br />

mα heißt “Parameter” der Bahn, der Winkel ϕ0 das Perihel. (Bei ϕ = ϕ0 ist die Bahn dem<br />

Koordinatenursprung am nächsten.)<br />

Die Bahngleichung (7.24) ist die Gleichung eines Kegelschnittes, dessen einer Brennpunkt im Koordinatenursprung<br />

(Kraftzentrum) liegt. Für die betrachteten Fälle in der Diskussion des effektiven Potenzials<br />

ergeben sich die folgenden Bahneigenschaften:<br />

1) E = E1 ≥ 0:<br />

a) E = E1 > 0 (7.25)<br />

⇒ ε > 1, d.h. die Bahn ist eine Hyperbel<br />

b) E = E1 = 0 ⇒ ε = 1, d.h. die Bahn ist eine Parabel<br />

64<br />


2) E3 < E = E2 < 0 ⇒ 0 < ε < 1, d.h. die Bahn ist eine Ellipse. Dass die Planetenbahnen Ellipsen<br />

sind, ist das Erste Keplersche Gesetz.<br />

Perihel-Abstand: rp<br />

Aphel-Abstand: rA<br />

(7.25) mit cos(ϕp−ϕ0)=1<br />

=<br />

cos(ϕA−ϕ0)=−1<br />

=<br />

1<br />

C(1 − ε)<br />

1<br />

C(1 + ε) ,<br />

vom Koordinatenursprung. Die große Halbachse a der Ellipse ist definiert als<br />

a = rP + rA<br />

2<br />

(7.26)<br />

=<br />

1<br />

C(1 − ε2 (7.25) p<br />

= −<br />

)<br />

2 ϕ<br />

mα<br />

mα 2<br />

2Ep 2 ϕ<br />

= − α<br />

2E .<br />

(7.26)<br />

Also ist<br />

E = − α<br />

,<br />

2a<br />

(7.27)<br />

d.h. die Energie des Teilchens auf der Ellipsenbahn hängt nur von a ab.<br />

Zur Bestimmung der kleinen Halbachse b setzen wir ϕ0 = 0. Der Abstand c des Kraftzentrums vom<br />

Ellipsenmittelpunkt ist<br />

ɛ<br />

c = a − rP =<br />

C(1 − ɛ2 ) .<br />

Die kleine Halbachse schneidet die Ellipse bei einem Winkel ϕ, der durch die Bedingung r(ϕ) cos(ϕ) =<br />

−c gegeben ist. Dies ergibt cos(ϕ) = −ɛ und r −1 = C(1 − ɛ 2 ). Die Länge der kleinen Halbachse ist<br />

gegeben durch die Bedingung b 2 = r 2 − c 2 , was schließlich<br />

ergibt.<br />

1<br />

b =<br />

C √ 1 − ɛ2 Damit können wir das dritte Keplersche Gesetz herleiten: Die Fläche der Ellipse ist<br />

1<br />

A = πab = π<br />

C2 (1 − ɛ2 )<br />

√ C .<br />

3/2 = πa3/2<br />

Außerdem ist die Fläche A wegen dem zweiten Keplerschen Gesetz (7.15) identisch mit pϕT/2m,<br />

wobei T die Umlaufdauer ist. Gleichsetzen dieser beiden Ausdrücke für A und Einsetzen der Konstanten<br />

ergibt das Dritte Keplersche Gesetz<br />

wobei wir seit Newton auch den Wert der Konstanten kennen,<br />

a3 = konst , (7.28)<br />

T 2<br />

konst = α<br />

4mπ2 = G(m1 + m2)<br />

4π2 .<br />

Da die Masse eines Planenten sehr viel kleiner ist als die Sonnenmasse, kann die Summe der beiden<br />

Massen durch die Sonnenmasse genähert werden. Dann ist das Verhältnis a 2 /T 3 weder von der<br />

Planetenmasse, noch von seiner Energie oder seienm Drehimpuls abhängig. Also ist dieses Verhältnis<br />

für alle Planeten gleich.<br />

65


3) E = E3 ≡ Veff<br />

<br />

p<br />

= 2<br />

<br />

(7.20) ϕ<br />

r0 mα<br />

= − mα2<br />

p2 +<br />

ϕ<br />

<br />

−α/r<br />

mα2<br />

2p2 ϕ<br />

<br />

p2 ϕ /(2mr2 = −<br />

)<br />

mα2<br />

2p2 ϕ<br />

(7.25)<br />

⇒ ε = 0 , d.h. die Bahn ist ein Kreis; aus (7.24) für ε = 0 folgt:<br />

r0 = C −1 = p2 ϕ<br />

mα<br />

⇒ E = − α<br />

2r0<br />

D.h., für r0 = a sind die Energien für Kreis- und Ellipsenbahnen gleich.<br />

Aufgaben<br />

1. Betrachten Sie das Teilchen im Kreiskegel. Gehen Sie aus von der Rechnung in Abschnitt 4.4.<br />

(7.29)<br />

(a) Schreiben Sie durch Einführen einer modifizierten Masse und eines modifizierten Winkels die<br />

Lagrange-Funktion so um, dass sie genau wie diejenige eines Zentralpotenzials aussieht.<br />

(b) Was ist das effektive Potenzial?<br />

(c) Skizzieren Sie Veff(r) und begründen Sie hieraus, dass die Bewegung gebunden ist. Zeichnen<br />

Sie in Ihrer Skizze den minimalen und den maximalen Radius ein.<br />

(d) Für welches r resultiert eine Kreisbahn?<br />

(e) Erwarten Sie, dass die Bahnen geschlossen sind?<br />

2. Lenz-Vektor: Für die Bahn r(t) im Kepler-Potenzial definieren wir den Lenzschen Vektor Λ als<br />

Zeigen Sie<br />

(a) Λ ist eine Erhaltungsgröße, d.h. d Λ/dt = 0.<br />

(b) | Λ| ist gleich der Exzentrizität ɛ.<br />

Λ = m<br />

α ˙ r × (r × ˙ r) − r<br />

r = p × L r<br />

−<br />

αm r .<br />

(c) Λ zeigt zum Perihel, also Λ rP . (rP ist der Vektor vom Kraftzentrum zum Perihel.)<br />

66


Kapitel 8<br />

Streuung im Zentralkraftfeld<br />

Eine wichtige Anwendung von Zentralkraftfeldern ist die Streutheorie. Streuphänomene werden in vielen<br />

Bereichen der Physik untersucht, um die Eigenschaften der Materie auf verschiedensten Längen- und<br />

Energieskalen zu ergründen, von Femtometern (und GeV) in der Teilchenphysik bis zu Nanometern (und<br />

meV) in der Festkörperphysik. Wegen der Wellennatur von Teilchen muss die Energie der Geschosse um<br />

so höher sein, je kleiner die Struktur ist, die man anhand ihres Streuverhaltens untersuchen möchte. Die<br />

Berechnungen müssen deshalb in der Regel im Rahmen der Quantentheorie durchgeführt werden. Trotzdem<br />

ist die Methode der Streutheorie in der klassischen <strong>Mechanik</strong> und der Quantenmechanik weitgehend<br />

gleich, und teilweise werden Aussagen der klassischen Streutheorie zumindest approximativ in der Quantenmechanik<br />

bestätigt. Die Bilder und Formeln im folgenden Text sind für den Fall eines abstoßenden<br />

Potenzials gemacht. Streuung in einem anziehenden Potenzial geht analog.<br />

8.1 Stoßparameter<br />

Als erstes wichtiges Konzept definieren wir den Stoßparameter s. Wir gehen davon aus, dass die Kraft im<br />

Unendlichen auf Null geht, so dass das Teilchen zunächst mit Geschwindigkeit v0 auf einer geraden Bahn<br />

angeflogen kommt, dann durch das Kraftzentrum abgelenkt wird, und sich nach dem Stoß wieder einer<br />

(anderen) geraden Bahn annähert. Verlängert man diese asymptotischen geraden Bahnen am Kraftzentrum<br />

vorbei, dann ist der Stoßparameter s der geringste Abstand dieser Geraden vom Kraftzentrum.<br />

Der Drehimpuls der einlaufenden Teilchen bzgl. des Kraftzentrums lässt sich durch s ausdrücken:<br />

pϕ = mv0s = √ 2mE s , E = 1<br />

2 mv2 0 = konst<br />

wobei v0 die Anfangsgeschwindigkeit für große Abstände vom Kraftzentrum ist und die Kraft für große<br />

Abstände gegen Null gehen soll.<br />

Im Zentralkraftfeld ist die Bewegung symmetrisch bzgl. des Perihels P . Daher ist der Streuwinkel<br />

θ = π − 2ϕ0 .<br />

67


Der Winkel ϕ0 im Perihel der Bahn ist nach (7.14):<br />

ϕ0 = ϕ(r∞) − ϕ(rmin)<br />

= pϕ<br />

m<br />

∞<br />

rmin<br />

r 2<br />

<br />

2<br />

m<br />

dr<br />

<br />

E − V (r) − p2 ϕ<br />

2mr 2<br />

Durch die Substitution u = 1/r und mit p 2 ϕ = 2mEs 2 ergibt sich für den Streuwinkel:<br />

umax<br />

du<br />

θ(s) = π − 2s . (8.1)<br />

0 1 − s2u2 − V (1/u)/E<br />

8.2 Differentieller Wirkungsquerschnitt<br />

Um genügend Statistik zu erhalten, schießt man nicht nacheinander einzelne Teilchen auf das Target,<br />

sondern verwendet “homogene” Teilchenstrahlen mit möglichst großer Teilchendichte. Die Intensität I ist<br />

die Zahl der Teilchen, die pro Sekunde durch eine Einheitsfläche senkrecht zur Teilchengeschwindigkeit<br />

laufen (Einheit von I: s −1 m −2 ).<br />

Der Teilchenstrahl enthält also Teilchen mit verschiedenen Stoßparametern. Die Zahl der pro Zeiteinheit<br />

einfallenden Teilchen mit einem Stoßparameter, der zwischen s und s + ds liegt, beträgt<br />

2πsds<br />

<br />

I .<br />

Fläche<br />

Dies muss gleich der Anzahl der Teilchen sein, die in einen Raumwinkel dΩ = 2π sin θdθ zwischen<br />

θ und θ + dθ gestreut werden (vorausgesetzt der Zusammenhang zwischen θ und s ist eindeutig). Den<br />

Zusammenhang zwischen dem Stoßparameter s und dem Streuwinkel θ schreiben wir als<br />

2πsds I = −σ(θ)<br />

<br />

2π sin<br />

<br />

θdθ<br />

<br />

I .<br />

dΩ<br />

Das negative Vorzeichen kommt daher, dass für größere s eine geringere Kraft auf das Teilchen wirkt,<br />

d.h. der Streuwinkel wird kleiner. Der Proportionalitätsfaktor σ(θ) ≡ dσ/dΩ mit der Einheit Fläche wird<br />

als differentieller Wirkungsquerschnitt bezeichnet:<br />

σ(θ) = − s ds<br />

, 0 ≤ θ ≤ π .<br />

sin θ dθ<br />

Integriert man den Wirkungsquerschnitt über den gesamten Raumwinkel, der zu dem Bereich θ > θ0<br />

gehört, so erhält man diejenige Querschnittsfläche des einfallenden Teilchenstrahls, deren Teilchen um<br />

68


mindestens den Winkel θ0 gestreut werden. Für den Wirkungsquerschnitt hat sich die Einheit “Barn”<br />

eingebürgert. Ein Barn ist 10 −28 Quadratmeter. Das englische Wort “barn” bedeutet “Scheune”. Bei<br />

Streuexperimenten mit Atomkernen maß man überraschend große Wirkungsquerschnitte für die Streuung<br />

mit Streuwinkeln größer als 90 Grad, verglichen mit der Querschnittsfläche der Atomkerne. So kam es zu<br />

der Namensgebung.<br />

8.3 Rutherford-Streuung<br />

Wir betrachten die Streuung geladener Teilchen im Coulomb-Feld, mit einem abstoßenden Potenzial der<br />

Form<br />

V (r) = + K<br />

r ,<br />

d.h. die Energie ist immer größer als Null, und es treten nur infinite Bahnen auf. Das Coulomb-Potenzial<br />

hat genau dieselbe Form wie das Gravitationspotenzial, das wir im vorigen Kapitel ausführlich behandelt<br />

haben. Wir müssen nur den Parameter α durch −K ersetzen. Also erhalten wir die (7.24) entsprechende<br />

Bahngleichung, indem wir das Vorzeichen von C umkehren:<br />

wobei ɛ definiert ist als (vgl. (7.25))<br />

1<br />

r = C (−1 + ε cos(ϕ − ϕ0)) ,<br />

<br />

ε ≡ 1 + 2Ep2ϕ mK .<br />

Im Gegensatz zum vorigen Kapitel verschieben wir ϕ0 nicht um π, da wir ϕ0 wieder so definieren wollen,<br />

dass bei diesem Winkel das Perihel ist. Also ist r minimal für ϕ = ϕ0. Wir wählen ϕ0 so, dass ϕ(r∞) = 0<br />

ist. Also ist<br />

0 = 1<br />

= C (−1 + ε cos(0 − ϕ0))<br />

r∞<br />

⇔ cos ϕ0 = 1<br />

ε .<br />

Für den Streuwinkel θ gilt 0 ≤ θ ≤ π und<br />

Mit pϕ = √ 2mE s ergibt Auflösen von<br />

nach s:<br />

s = K<br />

<br />

2E<br />

mK 2 , C−1 = p2 ϕ<br />

θ ≡ π − 2ϕ0 ⇒ sin θ<br />

≡ sin<br />

2<br />

1<br />

2 θ sin 2<br />

Also ist der Wirkungsquerschnitt<br />

− 1<br />

sin θ 1<br />

=<br />

2 ε =<br />

1/2<br />

<br />

<br />

π<br />

<br />

− ϕ0 = cos ϕ0 .<br />

2<br />

1<br />

1 + 2Es<br />

K<br />

2<br />

= K θ<br />

cot<br />

2E 2 mit sin2 1<br />

x =<br />

1 + cot2 x .<br />

σ(θ) = − s<br />

cot<br />

ds<br />

sin θ dθ<br />

′ ( θ<br />

2 )=− 1 1<br />

2 sin2 θ 2<br />

=<br />

2 K<br />

cot<br />

2E<br />

θ 1<br />

2 sin θ<br />

sin θ=2 sin θ θ<br />

2 cos 2<br />

=<br />

2 1 K<br />

4 2E<br />

1<br />

4 . θ sin 2<br />

1<br />

2 θ 2 sin 2<br />

1906 bis 1913 führten Rutherford, Geiger und Marsden Streuexperimente durch, bei denen sie α-Teilchen<br />

auf eine nur ca einen µm dicke Goldfolie schossen. Für die Auswertung der Experimente war die exakte<br />

Übereinstimmung von klassischem und (erst später berechneten) quantenthereotischem Wirkungsquerschnitt<br />

ein glücklicher Umstand.<br />

69


8.4 Totaler Wirkungsquerschnitt<br />

Der totale Wirkungsquerschnitt ist definiert als<br />

<br />

σtot = σ(θ)dΩ = 2π<br />

π<br />

0<br />

σ(θ) sin θ dθ . (8.2)<br />

In der Rutherford-Streuung ist der totale Wirkungsquerschnitt unendlich. Dies kommt daher, dass das<br />

Coulomb-Potenzial eine unendliche Reichweite hat. Der totale Wirkungsquerschnitt ist die Zahl aller<br />

Teilchen, die pro Sekunde in alle Richtungen gestreut werden, dividiert durch die einfallende Intensität<br />

I. Wegen der unendlichen Reichweite des Potenzials werden auch noch solche Teilchen gestreut, die einen<br />

großen Stoßparameter haben. Die Gesamtzahl der pro Zeiteinheit gestreuten Teilchen divergiert also. Nur<br />

wenn das Potenzial für große Abstände schnell genug abfällt, ist der totale Wirkungsquerschnitt endlich.<br />

8.5 Streuung an einer ideal reflektierenden Kugel<br />

Wir wählen eine feststehende Kugel vom Radius R als Streuzentrum und streuen Massepunkte elastisch<br />

an ihr. Den Einfallswinkel senkrecht zur Kugeloberfläche, der mit dem Ausfallswinkel identisch ist, nennen<br />

wir γ. Er hängt mit dem Stoßparameter s über die Beziehung<br />

zusammen. Also ist der Streuwinkel θ<br />

Der Zusammenhang zwischen s und θ ist also<br />

sin γ = s<br />

R<br />

θ = π − 2γ = π − 2 arcsin s<br />

R .<br />

s = R sin<br />

π − θ<br />

2<br />

= R cos θ<br />

2 .<br />

Daraus ergibt sich der differenzielle Wirkungsquerschnitt<br />

σ(θ) = s<br />

<br />

<br />

<br />

ds <br />

<br />

s R θ<br />

sin θ dθ<br />

= sin<br />

sin θ 2 2<br />

Er ist also unabhängig vom Winkel θ.<br />

Für den totalen Wirkungsquerschnitt erhalten wir<br />

<br />

σtot = σ(θ)dΩ = 2π<br />

π<br />

0<br />

θ R cos 2 R θ R2<br />

= sin =<br />

sin θ 2 2 4 .<br />

σ(θ) sin θdθ = πR 2 .<br />

Dies entspricht der Querschnittsfläche der Kugel, was zu erwarten war.<br />

8.6 Streuung im Laborsystem<br />

Bisher wurde nur die Streuung im Feld eines im Koordinatenursprung verankerten Kraftzentrums untersucht.<br />

In der Praxis aber werden Teilchen nicht auf ein ortsfestes Kraftzentrum geschossen, sondern<br />

auf andere Teilchen, die entweder durch den Stoß in Bewegung versetzt werden oder sich von Anfang an<br />

ebenfalls bewegen.<br />

Der im Laborsystem gemessene Streuwinkel θL ist nicht identisch mit dem Streuwinkel θ im Schwerpunktsystem.<br />

Wir müssen daher eine Beziehung zwischen den Winkeln θ und θL aufstellen. Wir beschränken<br />

uns dabei auf den Fall, dass das Targetteilchen mit der Masse m2 vor der Streuung im Laborsystem<br />

ruht. Wir bezeichnen die Geschwindigkeiten vor der Streuung mit v und nach der Streuung mit<br />

70


u. Im Laborsystem geben wir allen Ortsvektoren und Geschwindigkeiten den Index L, und im Schwerpunktsystem<br />

geben wir ihnen keinen Index.<br />

Da das Teilchen 2 vor dem Stoß ruht, ist die Geschwindigkeit des Schwerpunkts im Laborsystem<br />

gegeben durch<br />

vSL =<br />

m1<br />

v1L .<br />

m1 + m2<br />

Die Geschwindigkeit nach der Streuung erfüllt die Gleichung<br />

u1L sin θL = u1 sin θ ,<br />

da die Geschwindigkeitskomponenten senkrecht zur Schwerpunktsbewegung in beiden Bezugssystemen<br />

gleich sind. Außerdem gilt<br />

u1L cos θL = u1 cos θ + vSL .<br />

Division der ersten durch die zweite Gleichung führt auf<br />

sin θ<br />

tan θL =<br />

cos θ + m1 . (8.3)<br />

vL1<br />

m1+m2 u1<br />

Wegen der Energieerhaltung ist im Schwerpunktsystem die Geschwindigkeit u1 des Teilchens 1 nach der<br />

Streuung gleich der Geschwindigkeit v1L − vSL des Teilchens 1 vor der Streuung:<br />

Einsetzen in (8.3) ergibt<br />

u1 = v1L − vSL = v1L −<br />

tan θL =<br />

m1<br />

m1 + m2<br />

sin θ<br />

cos θ + m1<br />

m2<br />

v1L =<br />

m2<br />

v1L .<br />

m1 + m2<br />

. (8.4)<br />

Der Streuwinkel im Laborsystem ist also stets kleiner als im Schwerpunktsystem.<br />

Quadrieren der Gleichung (8.4) führt auf eine quadratische Gleichung für cos θ. Von den beiden<br />

Lösungen dieser Gleichung ist diejenige zu nehmen, für die im Fall m1 ≪ m2 der Streuwinkel im Laborund<br />

Schwerpunktsystem fast gleich ist. Man erhält also<br />

cos θ = − m1<br />

m2<br />

2<br />

1 − cos θL + cos θL<br />

<br />

1 −<br />

m1<br />

m2<br />

2<br />

(1 − cos 2 θL) . (8.5)<br />

Wir haben also unter Verwendung des Energie- und des Impulssatzes die Beziehung zwischen dem Streuwinkel<br />

θ im Schwerpunktsystem und dem Streuwinkel θL im Laborsystem gefunden.<br />

Der Streuwinkel ψL des Targetteilchens kann durch eine ähnliche Rechnung ermittelt werden. Das<br />

Ergebnis ist<br />

ψL =<br />

π − θ<br />

2<br />

. (8.6)<br />

Es ist noch interessant, den Fall m1 = m2 zu betrachten. Gleichung (8.4) liefert<br />

Daraus folgt<br />

tan θL =<br />

sin θ θ<br />

= tan . (8.7)<br />

1 + cos θ 2<br />

θL = θ<br />

2 .<br />

Da θ nicht größer als 180 o sein kann, ist der Streuwinkel θL < 90 o . Wenn Projektil und Targetteilchen<br />

gleich schwer sind, erfolgt die Streuung im Laborsystem also in Vorwärtsrichtung. Die Gleichungen (8.6)<br />

und (8.7) ergeben zusammen<br />

ψL + θL = π<br />

2 .<br />

71


Also laufen gleich schwere Teilchen nach der elastischen Streuung unter einem Winkel von 90 o im Laborsystem<br />

auseinander (wenn der Stoß nicht so zentral ist, dass die erste Kugel nach dem Stoß liegenbleibt).<br />

Dieses Ergebnis ist jedem Billardspieler bekannt und setzt vier Bedingungen voraus: Der Stoß ist elastisch,<br />

beide Teilchen sind gleich schwer, die Masse m2 ruht vor dem Stoß und die Kräfte beim Stoß wirken in<br />

radialer Richtung.<br />

Nicht nur der Streuwinkel, auch die differenziellen Wirkungsquerschnitte sind in beiden Bezugssystemen<br />

verschieden. Im Laborsystem ist die Intensität der einfallenden Teilchen größer als im Schwerpunktsystem,<br />

weil ihre Geschwindigkeit größer ist. Wir bezeichnen diese Intensität mit IL. Der differenzielle<br />

Wirkungsquerschnitt im Laborsystem wird durch folgende Beziehung definiert:<br />

σL(θL)dΩL = σL(θL)2π sin θLdθL = Zahl der pro Sekunde in den Raumwinkel dΩL gestreuten Teilchen<br />

.<br />

Intensität IL der einfallenden Teilchen<br />

(8.8)<br />

Die Zahl der Teilchen, die pro Sekunde mit einem Stoßparameter im Intervall [s, s + ds] einlaufen, ist<br />

gleich der Zahl der Teilchen, die pro Sekunde in den Winkelbereich [θL, θL + dθL] gestreut werden:<br />

Daraus folgt<br />

σL(θL) = s<br />

sin θL<br />

<br />

<br />

<br />

ds <br />

<br />

dθL<br />

<br />

IL · 2πs|ds| = IL · σL(θL)2π sin θL|dθL| .<br />

= s<br />

sin θ<br />

<br />

<br />

<br />

ds <br />

<br />

dθ<br />

<br />

· sin θ<br />

sin θL<br />

<br />

<br />

<br />

dθ <br />

<br />

dθL<br />

<br />

= σ(θ) sin θ<br />

sin θL<br />

<br />

<br />

<br />

dθ <br />

<br />

dθL<br />

= σ(θ) <br />

d cos θ <br />

<br />

d<br />

cos θL<br />

.<br />

Wenn wir für cos θ die rechte Seite von (8.5) einsetzen, ergibt sich nach einer kurzen Rechnung<br />

⎡<br />

⎢<br />

σL(θL) = σ(θ) ⎣2 m1<br />

2 m1<br />

1 + cos (2θL)<br />

m2<br />

cos θL + <br />

m2<br />

2<br />

m1<br />

1 − sin 2 ⎤<br />

⎥<br />

⎦ . (8.9)<br />

θL<br />

Für den Streuwinkel θ im Laborsystem in dieser Formel ist Gleichung (8.5) zu nehmen.<br />

Wir betrachten wieder den Spezialfall m1 = m2. Dann ist wegen (8.7) θL = θ/2 und folglich<br />

<br />

<br />

1 + cos(2θL)<br />

σL(θL) = σ(θ) · 2 cos θL + = 4σ(2θL) cos θL . (8.10)<br />

cos θL<br />

Aufgaben<br />

1. Berechnen Sie den differenziellen Wirkungsquerschnitt σ(θ) im Zentralkraftfeld V (r) = β/r 2 mit<br />

β > 0.<br />

(a) Stellen Sie eine Beziehung für den Streuwinkel in Abhängigkeit vom Stoßparameter, also für<br />

θ(s), in Form eines Integrals auf.<br />

(b) Welche Beziehung besteht zwischen dem minimalen Abstand rmin und dem Stoßparameter s?<br />

(c) Lösen Sie das unter a) erhaltene Integral für θ(s). (Hinweis: Für das Kepler-Potenzial haben<br />

wir in Kap. 7 bereits ein ähnliches Integral gelöst.)<br />

(d) Stellen Sie nun den differentiellen Wirkungsquerschnitt σ(θ) auf.<br />

2. Betrachten Sie zwei identische Kugeln der Masse m1 und des Radius R1. Die eine Kugel sei am<br />

Anfang ruhend, und die andere wird an ihr elastisch gestreut. Berechnen Sie den differenziellen und<br />

den totalen Wirkungsquerschnitt im Laborsystem.<br />

72<br />

m2


Kapitel 9<br />

Starrer Körper<br />

In diesem Kapitel betrachten wir die Bewegung starrer Körper. Ein starrer Körper ist ein Körper mit<br />

fest vorgegebener Massenverteilung ϱ(r), dessen Gestalt sich nicht ändert. Seine Masse ist<br />

<br />

M = d 3 rϱ(r) .<br />

In diesem Kapitel werden keine Deformationen betrachtet. Der starre Körper kann also nur seine Lage<br />

und seine Orientierung ändern, d.h. er hat 6 Freiheitsgrade, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben.<br />

Wir betrachten zwei verschiedene Koordinatensysteme: Ein raumfestes Koordinatensystem K (Laborsystem)<br />

mit den Achsen x, y, z, und ein fest im Schwerpunkt S des starren Körpers verankertes<br />

intrinsisches Koordinatensystem K mit den Achsen x1, x2, x3. Im System K ist die Massenverteilung ϱ<br />

unabhängig von der Zeit, ganz gleich, welche Bewegung der Körper ausführt.<br />

9.1 Kinetische Energie und Trägheitstensor<br />

Um die kinetische Energie zu ermitteln, beginnen wir mit der Betrachtung infinitesimaler Verrückungen<br />

des Körpers. Der Punkt P habe die Position r in K und die Position x = r − rS in K. Verschiebt und<br />

rotiert man den starren Körper ein wenig, so gilt für P :<br />

Die Richtung<br />

dr = drS + dϕ × x . (9.1)<br />

ˆn = dϕ<br />

|dϕ|<br />

ist die Rotationsachse (Rotation im Uhrzeigersinn wenn man in Achsenrichtung schaut), und |dϕ| ist<br />

der Winkel, um den der Körper gedreht wird bei festgehaltenem S. Die Drehung ist im folgenden Bild<br />

veranschaulicht:<br />

Wir verwenden |dx| = |x| sin (α)|dϕ| und dx ⊥ ˆn, x, und erhalten somit dx = dϕ × x.<br />

Wir dividieren die Gleichung (9.1) durch dt<br />

dr<br />

dt<br />

|dϕ|<br />

ˆn<br />

= drs<br />

dt<br />

73<br />

dx<br />

x<br />

α<br />

+ dϕ<br />

dt<br />

× x<br />

(9.2)


und schreiben dies in der Form<br />

v = V + ω × x . (9.3)<br />

V ist die Geschwindigkeit des Schwerpunkts S.<br />

Als nächstes bestimmen wir den Ausdruck für die kinetische Energie. Im körperfesten Koordinatensystem<br />

ist <br />

d 3 x xϱ(x) = 0 , (9.4)<br />

da der Ursprung im Schwerpunkt liegt.<br />

Die kinetische Energie ist dann<br />

T = 1<br />

<br />

d<br />

2<br />

3 =<br />

2 xϱ(x) V + ω × x<br />

1<br />

2 V 2<br />

<br />

d 3 xϱ(x) +<br />

<br />

M<br />

1<br />

2 <br />

V × ω d 3 x xϱ(x) +<br />

<br />

0<br />

1<br />

<br />

2<br />

d 3 xϱ(x)(ω × x) 2 . (9.5)<br />

Den letzten Summanden schreiben wir unter Verwendung der Beziehung (a × b) 2 = a 2 b 2 − (a · b) 2 als<br />

mit<br />

1<br />

2 ωjJjkωk<br />

<br />

Jjk := d 3 xϱ(x) x 2 δjk − xjxk . <br />

Hier haben wir die “Einsteinsche Summenkonvention” verwendet, d.h. es wird über doppelt auftretende<br />

Indizes summiert.<br />

Also haben wir die kinetische Energie in zwei Beiträge zerlegt, die wir unter Verwendung der Matrixschreibweise<br />

für den Trägheitstensor schreiben können als<br />

(9.6)<br />

T = Ttrans + Trot = 1<br />

2 M V 2 + 1<br />

2 ωt Jω . (9.7)<br />

Das Trägheitsmoment bezgl. eines anderen Koordinatensystems, dessen Ursprung nicht im Schwerpunkt<br />

ist, erhalten wir mit dem<br />

Satz von Steiner:<br />

Sei J der Trägheitstensor, wie er im körperfesten System K berechnet wird, das im Schwerpunkt S<br />

zentriert ist, und sei K ′ ein zu K achsenparalleles System, das gegenüber diesem um a verschoben ist.<br />

Dann ist der in K ′ berechnete Trägheitstensor<br />

<br />

=<br />

(9.8)<br />

J ′ ij<br />

d 3 x ′ ϱ(x ′ ) x ′2 δij − x ′ ix ′ <br />

j<br />

x ′ =x+a<br />

↓<br />

= Jij + M a 2 <br />

δij − aiaj<br />

(denn alle in x linearen Terme verschwinden wegen der Schwerpunktbedingung).<br />

74<br />

(9.9)


Hauptträgheitsachsensystem:<br />

Da der Trägheitstensor reell und symmetrisch ist, lässt er sich durch eine orthogonale Transformation auf<br />

Diagonalform bringen:<br />

R J R<br />

0 −1<br />

0<br />

=<br />

⎛<br />

J = ⎝<br />

0 I1 0<br />

0 I2<br />

0 0<br />

<br />

0<br />

0<br />

I3<br />

⎞<br />

⎠<br />

= d 3 ⎛<br />

⎞<br />

yϱ(y)<br />

⎠ (9.10)<br />

⎝ y2 2 + y 2 3 0 0<br />

0 y 2 3 + y 2 1 0<br />

0 0 y 2 1 + y 2 2<br />

Hierzu bestimmt man die Eigenwerte Ii und Eigenvektoren ω (i) :<br />

Jω (i) = Iiω (i) . (9.11)<br />

R −1<br />

0 hat als Spalten die ω(i) . I1, I2, I3 sind die (Haupt-)Trägheitsmomente des starren Körpers. Sie sind<br />

positiv und erfüllen die Ungleichung<br />

I1 + I2 ≥ I3<br />

(und analog unter zyklischer Vertauschung der Indizes). Dasjenige körperfeste System, in dem der Trägheitstensor<br />

diagonal ist, heißt Hauptträgheitsachsensystem. (Bei Entartung der Eigenwerte gibt es eine Wahlfreiheit.)<br />

Als Beispiel berechnen wir das Trägheitsmoment einer homogenen Kugel der Dichte ϱ und des Radius<br />

R: Es ist I1 = I2 = I3 aus Symmetriegründen, und das Hauptachsensystem ist im Kugelzentrum<br />

verankert. Es ist<br />

Mit ϱ = 3M<br />

4πR 3 erhalten wir daraus<br />

<br />

I1 + I2 + I3 = 3I = 2ϱ<br />

r 2 d 3 x = 8πϱ<br />

R<br />

0<br />

r 4 dr = 8πϱR5<br />

5<br />

I = 2<br />

5 MR2 . (9.12)<br />

9.2 Drehimpuls und Bewegungsgleichung des starren Körpers<br />

Wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, setzt sich der Drehimpuls zusammen aus dem Bahndrehimpuls und<br />

dem Eigendrehimpuls. Wenn wir den Ursprung des Laborsystems in den Schwerpunkt des Körpers legen,<br />

verschwindet der Bahndrehimpuls. Es bleibt also<br />

Also ist<br />

L =<br />

=<br />

<br />

<br />

d 3 xϱ(x)x × ˙ x<br />

˙x=ω×x<br />

↓<br />

=<br />

d 3 xϱ(x) x 2 ω − (x · ω)x = Jω .<br />

<br />

d 3 xϱ(x)x × (ω × x)<br />

L = Jω . (9.13)<br />

L hat im allgemeinen nicht dieselbe Richtung wie ω. Es hat nur dann dieselbe Richtung, wenn ω parallel<br />

zu einer Hauptachse ist.<br />

Die Rotationsenergie können wir nun auch durch den Drehimpuls ausdrücken: Aus (9.7) und (9.13)<br />

erhalten wir<br />

Trot = 1<br />

2 ω · L . (9.14)<br />

75<br />

.


Wenn ω zur i-ten Hauptachse parallel ist, vereinfachen sich die beiden letzten Gleichungen zu<br />

und<br />

L = Iiω (9.15)<br />

Trot = 1<br />

2 Iiω 2 . (9.16)<br />

Eine zeitliche Änderung des Drehimpulses wird durch ein Drehmoment verursacht (siehe (1.20)),<br />

d L<br />

dt<br />

9.3 Kräftefreier Kreisel<br />

= <br />

i<br />

ri × F (ex)<br />

i<br />

= <br />

Ni .<br />

Wir betrachten einen rotationssymmetrischen starren Körper (Kreisel) in Abwesenheit von äußeren<br />

Kräften. Sei die x3-Achse die Symmetrieachse, so dass I1 = I2 = I3 ist. Weiterhin sei L vorgegeben<br />

und bilde den Winkel θ = 0 mit der Symmetrieachse. Wir legen die x1-Achse in die von L und der Symmetrieachse<br />

aufgespannte Ebene. Dann steht die x2-Achse senkrecht auf dieser Ebene, und L2 = ω2 = 0.<br />

Also liegt ω in der (1, 3)-Ebene. Diese Situation ist in der folgenden Abbildung am Beispiel eines ellipsoidförmigen<br />

Kreisels dargestellt, wobei die (1, 3)-Ebene die Papierebene ist:<br />

x1<br />

L<br />

ωPr<br />

ω<br />

ωl<br />

Wie schon erwähnt, liegen die Vektoren L, ω und die Symmetrieachse in einer Ebene, und da man diese<br />

Betrachtung zu jedem Zeitpunkt anstellen kann, liegen sie folglich immer in einer Ebene.<br />

In unserem Beispiel ist I1 > I3. Deshalb liegt der Vektor L näher an der x1-Achse als der Vektor ω. Die<br />

Symmetrieachse x3 bewegt sich nach ” hinten“ (also senkrecht zur Papierebene). Sie rotiert gleichförmig<br />

um die Richtung des raumfesten L. Man nennt dies die ” reguläre Präzession“. Die Frequenz der regulären<br />

Präzession erhalten wir durch Aufspalten von ω in eine Komponente ωl parallel zur x3-Achse und eine<br />

Komponente ωP r parallel zu L:<br />

ω = ωl + ωP r .<br />

ωl ist irrelevant für die Präzessionsbewegung. Wir berechnen daher ωP r = |ωP r|: Aus<br />

und<br />

erhalten wir<br />

i<br />

x3<br />

ω1 = ωP r sin (θ) (9.17)<br />

L1 = | L| sin (θ) = I1ω1 = I1ωP r sin (θ) (9.18)<br />

ωP r = | L|<br />

. (9.19)<br />

ω überstreicht bei der regulären Präzession den ” Spurkegel“, die Symmetrieachse den ” Nutationskegel“:<br />

76<br />

I1


L<br />

Die Winkelgeschwindigkeit um die Symmetrieachse können wir auch durch den Drehimpuls und die<br />

Trägheitsmomente ausdrücken: Es ist<br />

ω3 = L3<br />

I3<br />

ω<br />

x3<br />

= | L| cos(θ)<br />

I3<br />

9.4 Starre Körper mit nur einem Freiheitsgrad<br />

. (9.20)<br />

Nun betrachten wir starre Körper mit äußeren Kräften und beschränken uns zunächst auf Systeme mit<br />

nur einem Freiheitsgrad. Es ist zum Beispiel der Körper fest auf einer Rotationsachse montiert, oder er<br />

rollt auf einer Unterlage in nur einer Richtung. In beiden Fällen behält die Rotationsachse ihre Richtung<br />

bei, und wir können den Winkel ϕ als Freiheitsgrad wählen.<br />

Wir wählen die z-Richtung parallel zur Rotationsachse. Die kinetische Energie im Laborsystem hat<br />

dann die Beiträge<br />

Trot = 1<br />

2 Jzz ˙ϕ 2<br />

(9.21)<br />

Ttrans = 1<br />

2 M V 2 = 1<br />

2 M ˙ r 2 s , (9.22)<br />

wobei ˙ rs die Geschwindigkeit des Schwerpunkts längs seiner Bahnkurve ist.<br />

Als Beispiel betrachten wir eine Walze auf einer schiefen Ebene:<br />

y<br />

Die Walze habe den Radius R, die Masse M und die Länge l. Der Schwerpunkt der Walze sei in der Mitte<br />

der Walze. Der Zusammenhang zwischen der Position y auf der Ebene und dem Rollwinkel ϕ ist<br />

und die Lagrange-Funktion ist<br />

Die Lagrange-Gleichung<br />

führt auf<br />

ϕ<br />

α<br />

˙y = R ˙ϕ , (9.23)<br />

L = 1<br />

2 Jzz<br />

2 ˙y<br />

+<br />

R<br />

1<br />

2 M ˙y2 + Mg sin (α)y . (9.24)<br />

d ∂L ∂L<br />

=<br />

dt ∂ ˙y ∂y<br />

(9.25)<br />

Mg sin (α)<br />

¨y = Jzz<br />

R2 . (9.26)<br />

+ M<br />

77


Wenn die Massenverteilung homogen ist, ist ϱ konstant und M = R 2 πϱl und<br />

l R 2π<br />

Jzz = ϱ dz dr r dϕ r 2<br />

0<br />

= ϱl2π R4<br />

4<br />

0<br />

0<br />

= 1<br />

2 MR2 . (9.27)<br />

Also ist<br />

¨y = 2<br />

g sin α .<br />

3<br />

(9.28)<br />

Im Unterschied hierzu lautet die Bewegungsgleichung, wenn die Walze reibungsfrei gleitet ohne zu rollen<br />

¨y = g sin α .<br />

9.5 Die Eulerschen Gleichungen<br />

Nun heben wir die Beschränkung auf einen Freiheitsgrad auf. Wir bestimmen die Bewegungsgleichungen<br />

bezogen auf das körperfeste System K, dessen Ursprung im Schwerpunkt liegt. Hierbei ist es wichtig sich<br />

bewusst zu machen, dass auch K ein Inerzialsystem sein soll. Wenn wir also die Zeitableitung diverser<br />

Größen bestimmen, betrachten wir die Basisvektoren des Systems K als konstant. Man wählt sozusagen<br />

zu jedem Zeitpunkt ein neues Inerzialsystem, bzgl. dessen alle Größen angegeben werden. Im Kuypers<br />

werden die so berechneten Zeitableitungen “körperfeste Zeitableitungen” genannt.<br />

Wir hatten<br />

N = d<br />

dt L<br />

und<br />

˙x = ω × x<br />

und<br />

<br />

L = d 3 x ϱ(x)x × (ω × x) .<br />

Bemerkung: Wir verstehen alle Größen auf dieser Seite (Vektoren, Tensoren) im System K, aber schreiben<br />

keine Querstriche über die Größen.<br />

Wir erhalten<br />

und somit<br />

d L<br />

dt =<br />

<br />

Dabei haben wir benutzt, dass<br />

ist. Denn die linke Seite ist<br />

und die rechte Seite ist<br />

d 3 <br />

xϱ(x) (ω × x) × (ω × x) + x × ( ˙ <br />

ω × x) + x × (ω × (ω × x))<br />

= 0 + J · ˙ <br />

ω +<br />

ω × (x × (ω × x))ϱ(x)d 3 x<br />

N = J · ˙ ω + ω × L . (9.29)<br />

a × ( b × (a × b)) = b × (a × (a × b))<br />

a × (a · b 2 − b(a · b)) = −(a × b)(a · b) = ( b × a)(a · b)<br />

b × (a(a · b) − ba 2 ) = ( b × a)(a · b) = linke Seite .<br />

78


Wenn J diagonal ist, lauten die Eulerschen Gleichungen<br />

N =<br />

⎛<br />

⎝ I1 ˙ω1<br />

I2 ˙ω2<br />

I3 ˙ω3<br />

⎞<br />

⎠ +<br />

⎛<br />

⎝ ω1<br />

ω2<br />

ω3<br />

⎞<br />

⎠ ×<br />

⎛<br />

⎝ I1ω1<br />

I2ω2<br />

I3ω3<br />

⎞<br />

⎠ =<br />

⎛<br />

⎝ I1 ˙ω1 + ω2ω3(I3 − I2)<br />

I2 ˙ω2 + ω3ω1(I1 − I3)<br />

I3 ˙ω3 + ω1ω2(I2 − I1)<br />

⎞<br />

⎠ . (9.30)<br />

Diese Gleichungen sind nichtlinear und führen damit im Allgemeinen auf komplizierte Bewegungen.<br />

Wir kommen nun zum Kreisel zurück und betrachten daher noch einmal einen rotationssymmetrischen<br />

starren Körper ohne äußere Kräfte (wie in 9.3). Es ist also N = 0 und I1 = I2. Aus der dritten Euler-<br />

Gleichung folgt sofort, dass ˙ω3 = 0 ist. Wenn wir die erste Euler-Gleichung nach der Zeit ableiten und<br />

˙ω2 durch die zweite Euler-Gleichung ausdrücken, erhalten wir<br />

Wir definieren<br />

und erhalten damit<br />

und<br />

(I1 − I3)<br />

¨ω1 + ω1<br />

2ω2 3<br />

I2 1<br />

ω 2 0 = (I1 − I3) 2 ω 2 3<br />

I 2 1<br />

= 0 .<br />

ω1 = A sin(ω0t − φ) (9.31)<br />

ω2 = −A cos(ω0t − φ) , (9.32)<br />

wobei A und φ durch die Anfangsbedingungen festzulegen sind. Die Vektoren ω und L rotieren mit<br />

Frequenz ω0 um die Symmetrieachse. Dies wird in der Literatur auch “Nutation” genannt. Die Frequenz<br />

ω0 ist verschieden von der Präzessionsfrequenz ωP r aus Gleichung (9.19), mit der die Symmetrieachse im<br />

Laborsystem um den Drehimpuls rotiert.<br />

9.6 Der Schwere Kreisel<br />

O<br />

S<br />

Der Kreisel im Schwerefeld ist ein anspruchsvolles Thema der theoretischen <strong>Mechanik</strong>, und wir beschränken<br />

uns hier auf eine Berechnung der wesentlichen Phänomene. Der Kreisel sei rotationssymmetrisch<br />

um die x3-Achse, und wir definieren<br />

l = OS ,<br />

wobei O der Punkt ist, in dem der Kreisel gestützt wird. Da der Punkt O fest ist, bleiben von den 6<br />

Freiheitsgraden des starren Körpers nur 3 übrig.<br />

Wir wählen 3 Winkel als Freiheitsgrade, die sogenannten “Eulerschen Winkel”:<br />

• θ : Winkel zwischen z-Achse und x3-Achse;<br />

• φ: Winkel zwischen Projektion der x3-Achse auf den Boden und der x-Achse des Laborsystems;<br />

• ψ: Winkel zwischen x1-Achse und der Verbindungslinie von S zur z-Achse (Linie ⊥ x3-Achse) .<br />

79<br />

x3


z<br />

θ<br />

S<br />

x1<br />

x3<br />

x2<br />

y<br />

O −φ<br />

Also gibt θ die Neigung des Kreisels an, man nennt θ auch den “Nutationswinkel”. Der Winkel φ wird<br />

“Präzessionswinkel” genannt, und er gibt die Orientierung der auf den Boden projizierten Kreiselachse<br />

an. Der Winkel ψ ist der “Eigenrotationswinkel”.<br />

Die kinetische Energie ausgedrückt durch die 3 Winkel ist<br />

Die potenzielle Energie ist<br />

T = 1<br />

2 (I1 + Ml 2 )<br />

<br />

I ′ <br />

˙θ 2<br />

+ ˙2 2<br />

φ sin θ<br />

1<br />

<br />

V = Mgl cos (θ) .<br />

x<br />

+ 1<br />

2 I3<br />

2 ˙ψ + φ˙ cos θ<br />

= 0 und ∂L<br />

∂φ<br />

(9.33)<br />

Die Lagrange-Funktion L = T − V erfüllt die Gleichungen ∂L<br />

∂ψ<br />

zyklische Variablen, und<br />

Pψ ≡<br />

= 0. Also sind ψ und φ<br />

∂L<br />

∂ ˙ ψ<br />

(9.34)<br />

und<br />

Pφ ≡ ∂L<br />

∂ ˙ φ<br />

(9.35)<br />

sind Erhaltungsgrößen. Außerdem ist auch die Gesamtenergie E = T + V eine Erhaltungsgröße. Wir<br />

haben folglich genauso viele Erhaltungsgrößen wie Freiheitsgrade und können die Lösung der Bewegungsgleichungen<br />

finden.<br />

Wir drücken zunächst ˙ φ und ˙ ψ durch die Erhaltungsgrößen aus:<br />

<br />

˙ψ + φ˙ cos θ<br />

(9.36)<br />

Pψ = I3<br />

Pφ = I ′ 1 sin 2 θ + I3 cos 2 θ ˙ φ + I3 ˙ ψ cos θ (9.37)<br />

⇒ ˙ φ = Pφ − Pψ cos θ<br />

I ′ 1 sin2 θ<br />

(9.38)<br />

˙ψ = Pψ<br />

− ˙ φ cos θ . (9.39)<br />

I3<br />

Dies wird in den Ausdruck für die Energie eingesetzt:<br />

E = T + V = 1<br />

<br />

I<br />

2<br />

′ <br />

2<br />

˙θ 2<br />

1 + φ˙ 2 2<br />

sin θ + I3<br />

˙ψ + φ˙ cos θ + Mgl cos θ<br />

= 1<br />

2 I′ 1 ˙ θ 2 + P 2 ψ<br />

+ Mgl +<br />

2I3<br />

(Pφ − Pψ cos θ) 2<br />

2I ′ 1 sin2 − Mgl (1 − cos θ)<br />

θ<br />

<br />

≡Ueff (θ)<br />

Weil E eine Erhaltungsgröße ist, ist auch<br />

. (9.40)<br />

E ′ ≡ E − P 2 ψ<br />

− Mgl =<br />

2I3<br />

1<br />

2 I′ 1 ˙ θ 2 + Ueff (θ) (9.41)<br />

80


eine Erhaltungsgröße. Der Ausdruck für E ′ ist der eines gewöhnlichen eindimensionalen Problems mit<br />

der Variablen θ und dem Potenzial Ueff .<br />

Wir diskutieren die Dynamik des Kreisels im Folgenden qualitativ:<br />

• Es ist E ′ > Ueff (so wie beim Zentralkraftproblem E ≥ Veff gilt).<br />

• Wenn Pφ = Pψ ist: limθ→0 Ueff = limθ→π Ueff = ∞<br />

• Definiere u(t) = cos θ(t). Dann ist<br />

und<br />

mit<br />

Wir unterscheiden drei Fälle:<br />

f(u) = 1 − u 2 2E ′<br />

+ 2Mgl(1 − u)<br />

I ′ 1<br />

˙θ 2 = ˙u2<br />

1 − u 2<br />

˙u 2 = f(u)<br />

I ′ <br />

1<br />

u ∈ [−1, 1] und f(u) ≥ 0 .<br />

1. u = 1 entspricht Pφ = Pψ und ˙u = 0 (stehender Kreisel)<br />

2. u = −1 bedeutet Pφ = −Pψ und ˙u = 0 (hängender Kreisel)<br />

3. −1 < u < 1: schiefer Kreisel<br />

− (Pφ − Pψu) 2<br />

I ′2<br />

1<br />

(9.42)<br />

• f(u) ist positiv zwischen zwei Werten u1, u2 ∈] − 1, 1[. Also bewegt sich θ(t) zwischen zwei Werten<br />

θ1 und θ2.<br />

Betrachte<br />

(mit u0 = Pψ<br />

Pφ )<br />

zusätzlich zu ˙ θ bzw. ˙u:<br />

˙φ = Pφ<br />

I ′ u0 − u<br />

1 1 − u2 Man muss 3 Fälle unterscheiden, je nachdem wie u0 relativ zu u1 und u2 liegt:<br />

1. u0 > u2 (bzw. u0 < u1):<br />

⇒ ˙ φ hat stets dasselbe Vorzeichen. Die Bewegung des Durchstoßpunktes der x3-Achse durch eine<br />

Kugelschale (in deren Mittelpunkt der Auflagepunkt ist) sieht folgendermaßen aus:<br />

2. u1 < u0 < u2 ⇒ ˙ φ hat am oberen Breitengrad ein anderes Vorzeichen als am unteren:<br />

81


3. u0 = u1 oder u0 = u2<br />

˙φ verschwindet an einem Breitenkreis.<br />

Aufgaben<br />

1. Wir betrachten ein Jojo (Masse M, Trägheitmoment Jzz bzgl. Symmetrie-Achse, Fadenlänge L,<br />

Faden sei masselos). Der Radius der Achse, um die der Faden gewickelt ist, sei R (siehe Bild), und<br />

der Schwerpunkt S sei in der Mitte der Achse.<br />

(a) Bestimmen Sie die Lagrangefunktion.<br />

(b) Bestimmen Sie die Bewegungsgleichungen.<br />

ex<br />

(c) Am untersten Punkt, wenn der Faden vollständig abgewickelt ist, wird das Jojo elastisch<br />

reflektiert. Was ist folglich die Schwingungsperiode?<br />

2. Ein Halbkreiszylinder (d.i. ein längs der Symmetrieachse halbierter Zylinder) mit dem Radius R<br />

und der Masse M (mit homogener Massenverteilung) führt auf einer horizontalen Ebene unter dem<br />

Einfluss der Schwerkraft eine Wippbewegung aus (er rollt also auf dem runden Teil seiner Berandung<br />

hin und her).<br />

(a) Bestimmen Sie die Trägheitsmomente IA, IS, IP um die Zylinderachse A, die Schwerpunktsachse<br />

S und den Auflagepunkt P .<br />

(b) Bestimmen Sie die Bewegungsgleichung für den Kippwinkel ϕ.<br />

(c) Was ist die Schwingungsperiode im Grenzfall kleiner Kippwinkel?<br />

(d) Schreiben Sie die drei verschiedenen Möglichkeiten hin, die kinetische Energie in einen Translationsund<br />

einen Rotationsanteil zu zerlegen, indem Sie jede der drei in a) erwähnten Achsen einmal<br />

als Rotationsachse verwenden.<br />

82


Kapitel 10<br />

Schwingungen<br />

In diesem vierten Kapitel zur Anwendung der Lagrange-<strong>Mechanik</strong> befassen wir uns mit Schwingungen.<br />

Wir betrachten hier in erster Linie kleine Schwingungen um eine stabile Gleichgewichtslage. Allgemein<br />

ist die Schwingungstheorie eine der bedeutendsten Anwendungen der <strong>Mechanik</strong>. Sie bildet eine wichtige<br />

Grundlage des Maschinenbaus und der Elektrotechnik, deren Schwingkreise ähnlichen Differenzialgleichungen<br />

unterliegen wie mechanische Schwinger. Der harmonische Oszillator spielt eine zentrale Rolle,<br />

da er nicht nur in der klassischen <strong>Mechanik</strong> auftritt, sondern auch für die theoretische Formulierung der<br />

Quantenmechanik und der Quantenfeldtheorie eine bedeutende Rolle spielt.<br />

10.1 Schwingungen mit einem Freiheitsgrad<br />

Dieses Unterkapitel behandelt zwei wichtige Beispiele als Vorbereitung auf die Behandlung von Schwingungen<br />

mit mehreren Freiheitsgraden: den gedämpften harmonischen Oszillator und den durch eine harmonische<br />

Kraft erregten, gedämpften harmonischen Oszillator.<br />

10.1.1 Gedämpfter harmonischer Oszillator<br />

Die Bewegungsgleichung des gedämpften harmonischen Oszillators mit der Auslenkung x(t) lautet<br />

m¨x + d ˙x + Dx = 0 .<br />

Dies beschreibt ein Federpendel mit masseloser Feder und eingehängter Masse m sowie Federkonstante<br />

D. Wir definieren ω 2 0 = D/m und γ = d/(2m) und erhalten dann<br />

¨x + 2γ ˙x + ω 2 0x = 0 . (10.1)<br />

Diese lineare, homogene Differenzialgleichung führt mit dem bekannten Ansatz<br />

auf die charakteristische Gleichung<br />

mit den beiden Wurzeln<br />

Drei Fälle sind zu unterscheiden:<br />

x(t) = ce λt<br />

(10.2)<br />

λ 2 + 2λγ + ω 2 0 = 0 (10.3)<br />

<br />

λ1 = −γ + γ2 − ω2 0 , λ2<br />

<br />

= −γ − γ2 − ω2 0 . (10.4)<br />

83


1. γ 2 < ω 2 0 (gedämpfte Schwingung)<br />

Mit ω ≡ ω 2 0 − γ2 ergibt sich die allgemeine Lösung<br />

Die reellen Anfangsbedingungen x(0) = x0, ˙x(0) = ˙x0 führen auf<br />

mit<br />

c1 = x0<br />

x(t) = e −γt c1e iωt + c2e −iωt . (10.5)<br />

2 + γx0 + ˙x0<br />

, c2 = c<br />

2iω<br />

∗ 1 = x0<br />

2 − γx0 + ˙x0<br />

2iω<br />

⇒ x(t) = e −γt<br />

<br />

x0 cos ωt + γx0<br />

<br />

+ ˙x0<br />

sin ωt<br />

ω<br />

A =<br />

<br />

x 2 0 +<br />

(10.6)<br />

= Ae −γt sin(ωt + ϕ0) (10.7)<br />

γx0 + ˙x0<br />

ω<br />

2 , tan ϕ0 = x0ω<br />

. (10.8)<br />

γx0 + ˙x0<br />

Bei einer gedämpften, harmonischen Schwingung nimmt demnach die Amplitude exponentiell ab,<br />

und die Eigenfrequenz ω der gedämpften Schwingung ist kleiner als die Eigenfrequenz ω0 der ungedämpften<br />

Schwingung.<br />

2. γ 2 > ω 2 0 (Kriechfall)<br />

Wir definieren κ = γ2 − ω2 0 . Die Lösung sieht genauso aus wie im vorigen Fall, nur dass wir statt<br />

iω jetzt überall ein κ schreiben.<br />

Die allgemeine Lösung ist also<br />

mit<br />

Dies gibt<br />

c1 = x0<br />

x(t) = e −γt c1e κt + c2e −κt<br />

2 + γx0 + ˙x0<br />

, c2 =<br />

2κ<br />

x0<br />

2 − γx0 + ˙x0<br />

.<br />

2κ<br />

(10.9)<br />

x(t) = e −γt<br />

<br />

x0 cosh κt + γx0<br />

<br />

+ ˙x0<br />

sinh κt . (10.10)<br />

κ<br />

Dies beschreibt keine Schwingung, sondern eine so genannte aperiodische Kriechbewegung. Die<br />

aperiodische Auslenkung geht für große Zeiten gegen Null.<br />

3. γ 2 = ω 2 0 (aperiodischer Grenzfall) Diesen Fall lösen wir am einfachsten, indem wir im Ergebnis<br />

(10.10) den Grenzübergang κ → 0 machen. Wir erhalten also<br />

x(t) = e −γt (x0 + (γx0 + ˙x0)t) . (10.11)<br />

Die asymptotische Annäherung an die Nulllage ist hier schneller als im Fall b). Deshalb arbeiten<br />

Zeigermessinstrumente im aperiodischen Grenzfall.<br />

Die drei Fälle sind in der folgenden Graphik skizziert:<br />

84


10.1.2 Periodisch getriebener gedämpfter harmonischer Oszillator<br />

Wir betrachten für die erzwungene Schwingung eines gedämpften harmonischen Oszillators die Bewegungsgleichung<br />

¨x + 2γ ˙x + ω 2 0x = f0e iΩt . (10.12)<br />

Nach der Theorie der linearen Differenzialgleichungen ergibt sich die allgemeine Lösung der linearen,<br />

inhomogenen Differenzialgleichung (10.12), indem man zur Lösung der homogenen Gleichung (10.1) eine<br />

spezielle Lösung der inhomogenen Gleichung addiert.<br />

Wie wir gesehen haben, geht die homogene Lösung mit der Zeit gegen Null. Wir erwarten daher, dass<br />

nach Abklingen der homogenen Lösung nur eine spezielle Lösung übrig bleibt, die keinen gedämpften<br />

Beitrag enthält, und dass dann der Oszillator mit der erregenden Frequenz Ω schwingt. Zur Berechnung<br />

dieser speziellen ungedämpften Lösung der inhomogenen Gleichung wählen wir den Ansatz<br />

xs(t) = Ase i(Ωt−ϕs) , (10.13)<br />

mit konstanter, reeller Amplitude As und Phase ϕs. Einsetzen in (10.12) ergibt<br />

As(−Ω 2 + 2iγΩ + ω 2 0) = f0e iϕs = f0(cos ϕ + i sin ϕ) . (10.14)<br />

Diese Gleichung ist erfüllt, wenn auf beiden Seiten die absoluten Beträge<br />

<br />

As<br />

(ω 2 0 − Ω2 ) 2 + 4γ 2 Ω 2 = f0<br />

85<br />

(10.15)


und die Quotienten aus den imaginären und reellen Anteilen gleich sind<br />

tan ϕs = 2γΩ<br />

ω2 . (10.16)<br />

0 − Ω2<br />

Für γ 2 < ω 2 0 (gedämpfte Schwingung), d.h. mit (10.7), und dem Realteil der speziellen Lösung (10.13)<br />

ist die allgemeine Lösung<br />

x(t) = Ae −γt sin<br />

<br />

ω2 0 − γ2 <br />

t + ϕ0 + As cos (Ωt − ϕs) . (10.17)<br />

Die angeregte Schwingung setzt sich demnach aus einem gedämpften und einem ungedämpften Anteil<br />

zusammen. Der gedämpfte Anteil beschreibt die Einschwingung, auch Transiente genannt. Für große<br />

Zeiten (t ≫ 1/γ) bleibt nur die stationäre Lösung übrig, die hier gerade der speziellen Lösung xs(t)<br />

entspricht. Wir schreiben die Schwingungsamplitude As der stationären Lösung durch Umformen von<br />

(10.15) als<br />

As = <br />

<br />

f0/ω2 0<br />

1 − Ω2<br />

ω2 2 + 4<br />

0<br />

γ2<br />

ω2 Ω<br />

0<br />

2<br />

ω2 0<br />

Für γ2 /ω2 0 ≤ 1/2 hat As als Funktion von Ω ein Maximum; für größere γ hat sie kein Maximum, sondern<br />

fällt mit wachsendem Ω monoton ab. Im ersten Fall spricht man von einer Resonanzkurve. Das Maximum<br />

ist bei Amax = f0/ 2γ ω2 <br />

0 − γ2 bei der Resonanzfrequenz ΩR = ω2 0 − 2γ2 . Die Phasendifferenz ϕs<br />

zwischen der erregenden Kraft und der erzwungenen Schwingung ist nach (10.16)<br />

ϕs = arctan<br />

ω 2 0<br />

2γΩ<br />

(+π) ,<br />

− Ω2<br />

wobei der letzte Summand π nur für Ω > ω0 auftritt, so dass dann π<br />

2 < ϕ (Ω > ω0) < π ist.<br />

Die folgenden Überlegungen machen den Summanden +π klar: ϕs muss stetig von Ω abhängen. Außerdem<br />

ist zu erwarten, dass die Phasendifferenz zwischen treibender Kraft und Schwingung des Oszillators<br />

umso größer wird, je schneller die treibende Kraft oszilliert. Für die weitere Analyse betrachten wir ein<br />

paar spezielle Fälle: Für Ω ≪ ω0 sind Oszillator und äußere Kraft praktisch in Phase; Der Oszillator folgt<br />

der einwirkenden Kraft mit nur geringer Verzögerung, d. h. ϕs 0. Für Ω = ω0 ist die Phasendifferenz<br />

stets π/2, weil die linke Seite von (10.14) rein imaginär ist. Für Ω ≫ ω0 schwingt der Oszillator im<br />

Gegentakt zur äußeren Kraft, d. h. ϕs π. Dies kann man z.B. daraus folgern, dass für Ω → ∞ die<br />

linke Seite von (10.14) gegen Minus Unendlich läuft. Eine weitere spezielle Situation ist der Fall γ → 0.<br />

Dann ist wird die linke Seite von (10.14) reell und wechselt bei Ω = ω0 das Vorzeichen. Also springt die<br />

Phasendifferenz von ϕ = 0 für Ω < ω0 auf ϕ = π für Ω > ω0. Die folgende Graphik zeigt den Verlauf<br />

für verschiedene Werte von γ, wobei die Kurven mit einer größeren Steigung bei ω0 größere Werte von γ<br />

haben.<br />

86<br />

.


10.2 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden<br />

Wir betrachten nun ein System aus N miteinander wechselwirkenden Teilchen, die zusammen eine stabile<br />

Gleichgewichtslage haben. Wenn wir nur kleine Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage betrachten,<br />

wird das zu einem System aus N gekoppelten Oszillatoren, die um die Gleichgewichtslage schwingen und<br />

nahezu linearen Rückstellkräften unterliegen. Das System sei konservativ. Eventuell gibt es k holonome,<br />

skleronome Zwangsbedingungen. Es folgt, dass die kinetische Energie eine quadratische Funktion der<br />

n = 3N − k generalisierten Geschwindigkeiten ist (vgl. (4.11)):<br />

T = 1<br />

2<br />

n<br />

i,j=1<br />

Tij(q1, ..., qn) qi ˙ qj, ˙<br />

(10.18)<br />

mit symmetrischen Koeffizienten Tij = Tji. Die Koordinaten der Gleichgewichtslage q0i legen wir in<br />

den Koordinatenursprung, so dass die qi (mit i = 1, ..., n), die Auslenkungen aus dem Gleichgewicht<br />

bezeichnen.<br />

Entwicklung in eine Taylorreihe um die Gleichgewichtslage ergibt<br />

Tij(q1, ..., qn) ≡ Tij(q) = Tij(0) +<br />

Für genügend kleine Auslenkungen beträgt die kinetische Energie mit (10.18)<br />

T 1<br />

2<br />

n<br />

<br />

∂Tij(q) <br />

ql + ... (10.19)<br />

∂ql<br />

l=1<br />

0<br />

n<br />

Tij ˙qi ˙qj , Tij ≡ Tij(0). (10.20)<br />

i,j=1<br />

Da die ˙qi ebenso wie die qi kleine Größen sind, ist dieser führende Term der Taylorentwicklung für unsere<br />

Betrachtungen ausreichend.<br />

Für ein konservatives System existiert eine potenzielle Energie V . Wir machen auch für V eine Taylorentwicklung:<br />

V (q) = V (0)<br />

<br />

irrelevant<br />

+<br />

n<br />

<br />

∂V (q) <br />

qi<br />

∂qi<br />

+<br />

i=1<br />

0<br />

<br />

=0<br />

1<br />

2<br />

n ∂2 <br />

V (q) <br />

qiqj + ... (10.21)<br />

∂qi∂qj<br />

Der 2. Term ist 0 für die Gleichgewichtslage, da die potenzielle Energie dort minimal ist.<br />

Folglich ist das Potenzial in der Umgebung der Gleichgewichtslage ungefähr gleich<br />

V (q) 1<br />

2<br />

n<br />

i,j=1<br />

∂2 <br />

V <br />

<br />

∂qi∂qj<br />

0<br />

i,j=1<br />

qiqj ≡ 1<br />

2<br />

Die Matrizen V und T sind symmetrisch und positiv definit.<br />

Die Lagrange-Funktion<br />

L(q, ˙q) = 1<br />

n<br />

2<br />

ergibt die Bewegungsgleichungen<br />

Der Ansatz<br />

i,j=1<br />

0<br />

n<br />

Vijqiqj . (10.22)<br />

i,j=1<br />

(Tij ˙qi ˙qj − Vijqiqj) (10.23)<br />

n<br />

(Tij ¨qj + Vijqj) = 0 , i = 1, ..., n. (10.24)<br />

j=1<br />

qj(t) = Caje iωt , j = 1, ..., n (10.25)<br />

87


löst die n Differenzialgleichungen (10.24), wie wir gleich sehen werden. Dabei ist C ein zweckmäßiger<br />

Skalenfaktor. Einsetzen ergibt<br />

n<br />

j=1<br />

In Matrix-Schreibweise lautet (10.26)<br />

(Vij − ω 2 Tij)aj = 0 , i = 1, ..., n. (10.26)<br />

(V − ω 2 T )a = 0, (10.27)<br />

wobei V und T die (n × n)-Matrizen mit den Einträgen Vij bzw. Tij sind.<br />

Das lineare System (10.26) bzw. (10.27) hat nur dann nichttriviale Lösungen, d.h. aj = 0 für mindestens<br />

ein j, wenn die Determinante verschwindet:<br />

det(V − ω 2 T ) = 0 . (10.28)<br />

Diese Bedingung legt die möglichen Werte von ω 2 fest. Sie ist eine charakteristische Gleichung in Form<br />

eines Polynoms vom Grad n in der Variablen ω 2 . V , T sind beide reell, symmetrisch und positiv definit,<br />

d.h.alle n Lösungen ω 2 sind positiv,<br />

ω 2 1, ω 2 2, ..., ω 2 n > 0. (10.29)<br />

(Einige der Lösungen können gleich sein. Diese so genannten Entartungen betrachten wir nicht.)<br />

Seien ar die Eigenvektoren des verallgemeinerten Eigenwertproblems (10.27), deren Normierung wir<br />

etwas weiter unten festlegen. Wir benutzen diese Eigenvektoren für einen Wechsel des Koordinatensystems,<br />

ähnlich wie bei der Hauptachsentransfomationin Kapitel 9). Die ar sind definiert durch die<br />

Bedingung<br />

V ar = ω 2 rTar, r = 1, ..., n. (10.30)<br />

Ähnlich wie bei gewöhnlichen Eigenwertproblemen mit symmetrischen Matrizen können wir für die ar eine<br />

Art Orthogonalitätsbeziehung erhalten. Wir betrachten zwei Eigenvektoren a1 und a2 zu den Eigenwerten<br />

ω 2 1 und ω 2 2. Weil die Matrizen T und V symmetrisch sind, gelten die folgenden Beziehungen:<br />

V a1 = ω 2 1Ta1 ;<br />

a t 2V a1 = ω 2 1a t 2Ta1 und analog mit der Vertauschung von 1 und 2;<br />

a t 2V a1 = a t 1V a2 = ω 2 2a t 1Ta2 = ω 2 2a t 2Ta1 .<br />

Die zweite und dritte Zeile sind nur dann miteinander verträglich, wenn a t 2Ta1 = 0 ist, wenn die Eigenvektoren<br />

a1 und a2 verschieden sind. Dies führt uns mit einer entsprechend gewählten Normierung der<br />

ar und mit der Definition<br />

A = (a1,a2, ...,an)<br />

auf die Beziehung<br />

Unter Verwendung von (10.30) folgt daraus<br />

⎛<br />

A t ⎛<br />

1<br />

⎜<br />

T A = ⎜<br />

⎝<br />

1<br />

. ..<br />

⎞<br />

0<br />

⎟ ≡ 1.<br />

⎠<br />

(10.31)<br />

0 1<br />

A t ⎜<br />

V A = ⎜<br />

⎝<br />

ω 2 1<br />

ω 2 2<br />

. ..<br />

0<br />

0 ω 2 n<br />

88<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ ≡ Ω2 , (10.32)


d.h. die Matrix A diagonalisiert simultan V und T .<br />

Die Normalkoordinaten Qr sind definiert über die Beziehungen<br />

q ≡<br />

n<br />

arQr ≡ A Q. (10.33)<br />

r=1<br />

Einsetzen von (10.33) in die Lagrange-Funktion (10.23) ergibt:<br />

L = 1<br />

2 ( ˙ q t T ˙ q − q t V q)<br />

= 1<br />

2 ((A ˙ Q) t ˙<br />

T (A Q) − (AQ) t<br />

V (AQ)) <br />

= 1<br />

2 ( ˙ Q t t ˙<br />

A T A Q − Q t t<br />

A V AQ) <br />

= 1<br />

2 ( ˙ Q t Q ˙<br />

− Q t 2<br />

Ω Q) .<br />

≡ 1<br />

2<br />

n<br />

( ˙ Q 2 r − ω 2 rQ 2 r). (10.34)<br />

r=1<br />

Gl. (10.34) zeigt, dass die Normalkoordinaten n entkoppelte harmonische Oszillatoren mit Eigenfrequenzen<br />

ωr beschreiben, mit den Lagrange-Gleichungen<br />

¨Qr + ω 2 rQr = 0, r = 1, ..., n. (10.35)<br />

Wir haben also ein Problem mit n Freiheitsgraden auf n Probleme mit je einem Freiheitsgrad reduziert.<br />

10.3 Beispiel 1: Zwei gekoppelte, ungedämpfte Oszillatoren<br />

Wir betrachten zwei identische harmonische Oszillatoren, die durch eine Feder mit der Federkonstanten<br />

D12 verbunden sind und die sich nur auf einer horizontalen Geraden bewegen können. Die kinetische und<br />

potenzielle Energie und die Lagrangfunktion sind also<br />

mit<br />

T = m<br />

2 ( ˙q2 1 + ˙q 2 2), V = D<br />

2 q2 1 + D<br />

2 q2 2 + D12<br />

2 (q2 − q1) 2<br />

⇒ L = 1<br />

2<br />

2<br />

(Tij ˙qi ˙qj − Vijqiqj) ≡ 1<br />

2 ( ˙ q t T ˙ q − q t V q)<br />

i,j=1<br />

<br />

1 0<br />

T = m<br />

0 1<br />

<br />

D + D12<br />

, V =<br />

−D12<br />

−D12<br />

D + D12<br />

Die Eigenfrequenzen ω1 und ω2 und die Eigenvektoren a1 und a2 erhalten wir durch Lösen der Gleichung<br />

(10.35). Es ergibt sich<br />

A = 1<br />

<br />

1<br />

√<br />

2m 1<br />

1<br />

−1<br />

<br />

89<br />

<br />

.


und<br />

ω1 =<br />

<br />

D<br />

m , ω2<br />

<br />

D + 2D12<br />

=<br />

.<br />

m<br />

Die Spalten der Matrix A sind die beiden Eigenvektoren, die Normierung ist gemäß (10.31) gewählt. Die<br />

Gleichung (10.32) führt auf<br />

<br />

.<br />

A t V A = 1<br />

<br />

D 0<br />

m 0 D + 2D12<br />

Die Normalkoordinaten ergeben sich gemäß (10.33) mit A t A = 1<br />

m 1:<br />

Q = A −1 q = mA t q ⇒ Q1 =<br />

Ihre Bewegungsgleichungen lauten<br />

Die allgemeine Lösung ergibt sich aus<br />

<br />

m<br />

2 (q1<br />

<br />

m<br />

+ q2), Q2 =<br />

2 (q1 − q2).<br />

¨Q1 + ω 2 1Q1 = 0, ¨ Q2 + ω 2 2Q2 = 0 .<br />

q = A Q ⇒ q1 = 1<br />

√ 2m (Q1 + Q2), q2 = 1<br />

√ 2m (Q1 − Q2).<br />

Bem.: Die Normalschwingungen (auch Fundamentalschwingungen oder Eigenschwingungen genannt)<br />

haben eine einfache Interpretation. Für die Anfangsbedingungen q1(0) = q2(0), ˙q1(0) = ˙q2(0) wird nur<br />

die erste, gleichphasige Normalschwingung angeregt, bei der die Amplitudenfaktoren gleich sind, d.h.<br />

a11 = a21. Für die zweite Normalschwingung ist a12 = −a22, wobei diese gegenphasige Schwingung durch<br />

die Anfangsbedingungen q1(0) = −q2(0), ˙q1(0) = − ˙q2(0) angeregt wird.<br />

Überlagerung der Normalschwingungen kann zu neuen Phänomenen führen, wie der so genannten<br />

Schwebung. Sie tritt auf, wenn |ω1 − ω2| ≪ ω1 ist. Wir betrachten die Anfangsbedingung<br />

q1(0) = A , ˙q1(0) = q2(0) = ˙q2(0) = 0.<br />

Dies führt auf die Lösung<br />

q1(t) = A<br />

2 (cos ω1t<br />

q2(t) =<br />

<br />

ω2 − ω1 ω2 + ω1<br />

+ cos ω2t) = A cos t cos t ,<br />

2<br />

2<br />

A<br />

2 (cos ω1t<br />

<br />

ω2 − ω1 ω2 + ω1<br />

− cos ω2t) = A sin t sin t ,<br />

2<br />

2<br />

die im folgenden Bild skizziert ist:<br />

90


Der erste Faktor auf der rechten Seite bedeutet ein An- und Abschwellen der Amplitude. Dabei<br />

wandert die Energie mit der Schwebungsfrequenz ω2 − ω1 zwischen den Oszillatoren hin und her. Man<br />

nennt dieses Phänomen Schwebung.<br />

Wir haben gesehen, dass durch die Kopplung zweier Oszillatoren die Eigenfrequenz ω1 = D/m in<br />

die beiden Eigenfrequenzen ω1 und ω2 aufspaltet. Entsprechend findet man bei der Kopplung von N<br />

Oszillatoren eine Aufspaltung in N Eigenfrequenzen, falls keine Entartungen auftreten. Dieses Ergebnis<br />

ist über die <strong>Mechanik</strong> hinaus von großer Bedeutung für die Physik, so z.B. für das Energiespektrum von<br />

Elektronen in Festkörpern, bei dem die Aufspaltung der sehr dicht liegenden Einzelniveaus zu sogenannten<br />

Energiebändern führt.<br />

10.4 Beispiel 2: Erzwungene Schwingungen zweier gekoppelter<br />

Oszillatoren<br />

Wir betrachten nun die Situation, dass zwei gekoppelte Oszillatoren von außen periodisch getrieben<br />

werden. Diese periodische Kraft wenden wir auf den Oszillator 1 an, wie in dem Bild dargestellt.<br />

Die Beiträge zur Lagrange-Funktion sind<br />

T = m<br />

2 ( ˙q2 1 + ˙q 2 2)<br />

und<br />

V = D<br />

2 (q1 − A cos Ωt) 2 + D<br />

Die Lagrange-Gleichungen ergeben dann<br />

2 q2 2 + D12<br />

2 (q2 − q1) 2 .<br />

m¨q1 + (D + D12)q1 − D12q2 = DA cos Ωt<br />

m¨q2 + (D + D12)q2 − D12q1 = 0 .<br />

Im Gegensatz zum getriebenen gedämpften Oszillator im Unterkapitel 10.1 nehmen wir keinen Dämpfungsterm<br />

in die Gleichungen auf. Die Lösung der homogenen Differenzialgleichungen wurde im vorangehenden Beispiel<br />

besprochen. Vom einfachen Oszillator wissen wir, dass ungedämpfte, stationäre Schwingungen die<br />

Phasenverschiebung ϕs = 0 bzw. ϕs = π zwischen der erregenden Kraft und der erzwungenen Schwingung<br />

haben. Für eine spezielle Lösung betrachten wir daher den Ansatz<br />

qi(t) = Ai cos Ωt i = 1, 2 ,<br />

91


wobei Phasenverschiebungen 0 bzw. π durch positive bzw. negative Amplituden Ai beschrieben werden.<br />

Einsetzen ergibt<br />

mit<br />

(ω 2 3 − Ω 2 )A1 − D12<br />

m A2 = f0<br />

− D12<br />

m A1 + (ω 2 3 − Ω 2 )A2 = 0<br />

ω 2 3 ≡<br />

Die Lösung des Gleichungssystems lautet<br />

A1 = f0<br />

A2 = f0<br />

D + D12<br />

m , f0 ≡ DA<br />

m .<br />

ω 2 3 − Ω 2<br />

(ω 2 3 − Ω2 ) 2 − D12<br />

m<br />

D12<br />

m<br />

(ω 2 3 − Ω2 ) 2 − D12<br />

m<br />

wobei ω1 und ω2 wie im vorigen Beispiel definiert sind als<br />

2<br />

2<br />

ω 2 1 ≡ D<br />

m , ω2 D + 2D12<br />

2 ≡ .<br />

m<br />

ω<br />

= f0<br />

2 3 − Ω2 (ω2 1 − Ω2 )(ω2 2 − Ω2 )<br />

ω<br />

= f0<br />

2 3 − ω2 1<br />

(ω2 1 − Ω2 )(ω2 2 − Ω2 ) ,<br />

Erwartungsgemäß werden die Amplituden bei diesen Frequenzen unendlich. (Wenn man den Dämpfungsterm<br />

dazunimmt, werden die Amplituden nicht unendlich, sondern haben ein Maximum in der Nähe der Eigenfrequenzen.)<br />

Besonders bemerkenswert ist das Ergebnis<br />

A1(Ω = ω3) = 0 , A2(Ω = ω3) = − AD<br />

.<br />

D.h. die rechte Masse schwingt im stationären Fall mit solcher Amplitude, dass sich die beiden an der linken<br />

Masse angreifenden Federkräfte gegenseitig aufheben. Man benutzt diesen Effekt zur Konstruktion<br />

von Schwingungstilgern: Maschinenschwingungen, die durch harmonische Anregungen konstanter Frequenz<br />

erzeugt werden, lassen sich durch einen angekoppelten, geeignet abgestimmten zweiten Schwinger<br />

eliminieren.<br />

Aufgaben<br />

1. Gekoppelte Pendel: Zwei Pendel der Längen l1 und l2 mit den Massen m1 und m2 werden durch eine<br />

horizontale Feder verbunden. Die Feder wird an den beiden (wie immer masselosen) Pendelstangen<br />

auf der Höhe l < l1, l2 unterhalb der Aufhängepunkte angebracht. Der Abstand der beiden Pendel<br />

sei wesentlich größer als l, so dass die Feder stets nahezu horizontal bleibt.<br />

D12<br />

(a) Stellen Sie die Bewegungsgleichungen für die beiden Pendel auf.<br />

(b) Integrieren Sie die Bewegungsgleichungen zunächst für den Spezialfall m1 = m2 und l1 = l2<br />

und in der Näherung kleiner Ausschläge. Wählen Sie die Anfangsbedingungen ϕ1(0) = ϕ0 und<br />

˙ϕ1 = ˙ϕ2 = ϕ2 = 0. Bemerkung: ϕ0 muss eine kleine Größe sein.<br />

(c) Lösen Sie jetzt diese Aufgabe auch für m1 = m2, aber immer noch mit l1 = l2.<br />

(d) Betrachten Sie zum Schluss den Fall m1 = m2 und l1 = l2, immer noch für dieselben Anfangsbedingungen<br />

wie in (b) und für kleine Ausschläge.<br />

2. Gehen Sie aus von der Wellengleichung (6.19).<br />

92


(a) Zeigen Sie, dass diese Gleichung zu der durch (10.24) beschriebenen Kategorie von Systemen<br />

gehört, indem Sie die x-Werte diskretisieren. Wie sieht die Matrix Vij aus?<br />

(b) Nun betrachten Sie wieder die kontinuerliche Variante. Betrachten Sie eine an beiden Enden fixierte<br />

Saite, also y(x = 0, t) = y(x = l, t) = 0. Was ist der zu (10.25) analoge Lösungsansatz für<br />

die kontinuierliche Wellengleichung (6.19)? Welche allgemeine Form haben also die Lösungen?<br />

(c) Finden Sie noch eine weitere Klasse von Lösungen, wenn Sie sich nicht um die Randbedingungen<br />

kümmern?<br />

93


Kapitel 11<br />

Der Hamilton-Formalismus<br />

11.1 Einleitung<br />

In diesem Kapitel befassen wir uns mit einer weiteren Formulierung der klassischen <strong>Mechanik</strong>, nämlich<br />

mit der Hamiltonschen <strong>Mechanik</strong>, die in den 1830er Jahren vom irischen Mathematiker Sir William<br />

Rowan Hamilton entwickelt wurde. Zum expliziten Lösen von Aufgaben ist sie nicht besser geeignet als<br />

die Lagrange-<strong>Mechanik</strong>,aber sie ist für Computersimulationen besser geeignet, gewährt tiefere Einsichten<br />

in die Struktur der klassischen <strong>Mechanik</strong> und ist eine wichtige Grundlage für die Chaos-Theorie, für die<br />

statistische <strong>Mechanik</strong> und für die Quantenmechanik.<br />

Zwischen der Lagrange-<strong>Mechanik</strong> und der Hamilton-<strong>Mechanik</strong> bestehen die folgenden wichtigen Unterschiede:<br />

1. Die Lagrange-<strong>Mechanik</strong> geht von der Lagrange-Funktion L(q, ˙q,t) aus, während die Hamilton-<br />

<strong>Mechanik</strong> von der Hamiltonfunktion<br />

H(q,p,t) = <br />

˙qipi −L<br />

(siehe (4.9)) ausgeht. Ganz wichtig ist hierbei, dass als Variablen der Hamiltonfunktion die generalisierten<br />

Koordinaten qi und die zu diesen Koordinaten konjugierten Impulse<br />

i<br />

pi = ∂L<br />

∂˙qi<br />

(siehe (4.5)) gewählt werden. Alle ˙qi müssen also durch die p und q ausgedrückt werden. (Das wird<br />

bei Übungsaufgaben häufig vergessen......)<br />

2. Während es beim Lagrange-Formalismus für jeden Freiheitsgrad eine Bewegungsgleichung zweiter<br />

Ordnung in der Zeit gibt (also mit der zweiten Zeitableitung), gibt es im Hamilton-Formalismus<br />

pro Freiheitsgrad zwei Bewegungsgleichungen erster Ordnung in der Zeit, je eine für die zeitliche<br />

Änderung von qi und von pi. Man kann also die Dynamik mechanischer Systeme im Hamilton-<br />

Formalismus als Trajektorien im sogenannten Phasenraum auffassen, der von den 2n Koordinaten<br />

pi und qi aufgespannt wird.<br />

WirbetrachtenindiesemundallenfolgendenKapitelnnurdenFall,dassesholonomeZwangsbedingungen<br />

oder keine Zwangsbedingungen gibt. Die Zahl der Freiheitsgrade ist also n = 3N −k, und die Indizes der<br />

qi und pi laufen folglich immer von 1 bis n.<br />

11.2 Die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen<br />

Die Bewegungsgleichungenim Hamilton-Formalismuslassensichaufzwei Wegenherleiten, nämlich direkt<br />

aus den Lagrange-Gleichungen, verbunden mit dem Zusammenhang H = <br />

i pi˙qi−L, und auch aus dem<br />

94


Hamiltonschen Prinzip (dem Prinzip der stationären Wirkung). Wir gehen im Folgenden durch beide<br />

Herleitungen.<br />

11.2.1 Herleitung der Hamiltonschen Gleichungen aus den Lagrange-Gleichungen<br />

Der Zusammenhang zwischen H und L ist ganz analog zu dem Zusammenhang zwischen verschiedenen<br />

thermodynamischenPotenzialen,nämlichübereineLegendre-Transformation.Legendre-Transformationen<br />

in der Thermodynamik werden verwendet, um von einer Variablen zu einer anderen zu wechseln, die mit<br />

der partiellen Ableitung des Potenzials nach der ersten Variablen identisch ist. Ein Wechsel von den<br />

Variablen ˙qi zu den Variablen pi = ∂L/∂˙qi ist genau von dieser Art. Wir sehen dies explizit, indem wir<br />

das totale Differenzial von H hinschreiben:<br />

dH = <br />

pid˙qi + <br />

˙qidpi − ∂L<br />

dqi −<br />

∂qi<br />

∂L<br />

d˙qi −<br />

∂˙qi<br />

∂L<br />

∂t dt.<br />

i<br />

Mit den Lagrange-Gleichungen zweiter Art und (3.6) folgt<br />

und damit<br />

dH = <br />

˙qidpi − <br />

i<br />

i<br />

i<br />

∂L<br />

=<br />

∂qi<br />

d ∂L<br />

dt∂˙qi<br />

i<br />

= d<br />

dt pi ≡ ˙pi<br />

˙pidqi − ∂L ∂H<br />

dt ≡ dpi +<br />

∂t ∂pi i<br />

∂H<br />

dqi +<br />

∂qi i<br />

∂H<br />

∂t dt.<br />

Die rechte Seite ist das vollständige Differenzial von H(q,p,t). Koeffizientenvergleich ergibt<br />

und<br />

˙qi = ∂H<br />

, ˙pi = −<br />

∂pi<br />

∂H<br />

∂qi<br />

∂H<br />

∂t<br />

i<br />

(11.1)<br />

= −∂L . (11.2)<br />

∂t<br />

Die Gleichungen (11.1) sind die sogenannten Hamiltonschen Bewegungsgleichungen.<br />

11.2.2 Herleitung der Hamiltonschen Gleichungen aus Hamiltonschem Prinzip<br />

Die HamiltonschenBewegungsgleichungenlassensichauchausderBedingungherleiten, dassdie Wirkung<br />

S stationär wird:<br />

<br />

t2 <br />

<br />

t2 <br />

δS ≡ δ dt pi˙qi −H(q,p,t) = δ pidqi −Hdt = 0. (11.3)<br />

t1<br />

i<br />

Die Variation von S ist so zu nehmen, dass der Anfangs- und der Endpunkt des Integrals im Phasenraum<br />

vorgegeben sind, aber die Phasenraumtrajektorie zwischen diesen beiden Punkten variiert wird mit einer<br />

Änderung δq(t),δp(t).<br />

keine klassische<br />

Trajektorie<br />

p , q , t<br />

1 1 1<br />

t1<br />

p , q , t<br />

2 2 2<br />

klass. Trajektorie<br />

95<br />

i


Dies ist anders als in Kapitel 6, wo nur q(t) variiert wurde. Wir werden gleich sehen, dass eine<br />

unabhängige Variation von q und p auf die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen führt. Dies bedeutet,<br />

dass der Hamilton-Formalismus eine Darstellung der <strong>Mechanik</strong> ist, in der q und p als gleichberechtigte<br />

Variablen betrachtet werden dürfen.<br />

Weitere Umformung von (11.3) führt auf<br />

<br />

t2 <br />

t2<br />

0 = δ dt pi˙qi −H(q,p,t) = dt<br />

t1<br />

t1<br />

i<br />

<br />

<br />

piδ˙qi + ˙qiδpi −<br />

i<br />

∂H<br />

δqi −<br />

∂qi<br />

∂H<br />

<br />

δpi<br />

∂pi<br />

t2<br />

= dt <br />

<br />

− ∂H<br />

<br />

− ˙pi δqi + ˙qi −<br />

∂qi<br />

∂H<br />

<br />

δpi . (11.4)<br />

∂pi<br />

t1<br />

i<br />

Beim Übergang zur letzten Zeile wurde in dem Term mit ˙q partiell integriert, so wie wir das schon in<br />

Kapitel 6 gemacht haben. Wenn wir erlauben, dass die δpi und die δqi voneinander unabhängig sind<br />

und zu jedem Zeitpunkt anders gewählt werden können, müssen die beiden Ausdrücke in den runden<br />

Klammern verschwinden, woraus die Hamiltonschen Gleichungen folgen.<br />

11.2.3 Beispiel: Teilchen im Kreiskegel<br />

Wir leiten die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen für ein Teilchen im Kreiskegel her. Die hierfür notwendigen<br />

Schritte können als allgemeines Rezept für die Aufstellung von Hamiltonschen Bewegungsgleichungen<br />

verwendet werden. Wir nummerieren sie daher im Folgenden durch.<br />

1. Berechnung von T und V und der Lagrange-Funktion: Wir übernehmen sie aus dem Abschnitt 4.4:<br />

L = T −V = m<br />

2<br />

(1+cot 2 α)˙r 2 +r 2 ˙ϕ 2 −mgrcotα.<br />

2. Bestimmung der zu den generalisierten Koordinaten kanonisch konjugierten Impulse: Die beiden<br />

Variablen sind ϕ und r, und die zu ihnen konjugierten Impulse sind<br />

und<br />

pϕ = ∂L<br />

∂ ˙ϕ = mr2 ˙ϕ<br />

pr = ∂L<br />

∂˙r = m˙r(1+cot2 α).<br />

3. Berechnen von H: Da wir es mit zeitunabhängigen Zwangsbedingungen zu tun haben, können wir<br />

direkt H = T + V verwenden. Wir nehmen jetzt aber den allgemeineren Weg über die Formel<br />

H = <br />

i pi˙qi −L:<br />

H = pr˙r+pϕ ˙ϕ−L = 1<br />

2 m(r2 ˙ϕ 2 + ˙r 2 (1+cot 2 α))+mgrcotα.<br />

4. Wechsel von den Variablen ˙ϕ und ˙r zu pϕ und pr: Zu diesem Zweck drücken wir in H die Geschwindigkeiten<br />

˙ϕ und ˙r durch die Impulse pϕ und pr aus und erhalten<br />

H = p2ϕ p<br />

+<br />

2mr2 2 r<br />

2m(1+cot 2 +mgrcotα. (11.5)<br />

α)<br />

96


5. Bestimmen der Hamiltonschen Bewegungsgleichungen:<br />

˙ϕ = ∂H<br />

∂pϕ<br />

= pϕ<br />

,<br />

mr2 ˙pϕ = − ∂H<br />

= 0,<br />

∂ϕ<br />

˙r = ∂H pr<br />

=<br />

∂pr m(1+cot 2α) ,<br />

˙pr = − ∂H<br />

∂r = p2ϕ −mgcotα.<br />

mr3 Die erste und dritte Gleichung stimmen mit obigen Beziehungen für die kanonischen Impulse<br />

überein. Die zweite Gleichung entspricht der Tatsache, dass ϕ eine zyklische Variable ist. Die vierte<br />

Gleichung entspricht der Gleichung (4.10).<br />

Wirsehen,dassdasAufstellenderHamiltonschenBewegungsgleichungenkomplizierteristalsderLagrange-<br />

Formalismus, da wir zunächst durch diesen hindurch gehen müssen, um die kanonischen Impulse korrekt<br />

zu identifizieren.<br />

11.3 Erhaltungsgrößen und Poissonklammern<br />

Wir untersuchen nun, wie sich Erhaltungsgrößen im Hamiltonformalismus äußern. Zunächst betrachten<br />

wir nochmal die Bedingungen, unter denen die Hamiltonfunktion selbst eine Erhaltungsgröße ist. Unter<br />

Verwendung der Hamiltonschen Gleichung ergibt sich<br />

dH<br />

dt<br />

∂H<br />

= ˙qi +<br />

∂qi i<br />

∂H<br />

˙pi +<br />

∂pi i<br />

∂H<br />

∂t<br />

= <br />

<br />

∂H ∂H<br />

+<br />

∂qi ∂pi<br />

∂H<br />

<br />

−<br />

∂pi<br />

∂H<br />

<br />

+<br />

∂qi<br />

∂H<br />

∂t<br />

i<br />

= ∂H<br />

∂t .<br />

Also ist H genau dann eine Erhaltungsgröße, wenn ∂H/∂t = 0 ist. Mit (11.2) erhalten wir wieder die<br />

schon in Kapitel 4 formulierte Bedingung, dass H eine Erhaltungsgröße ist, wenn L nicht explizit von<br />

der Zeit abhängt. Außerdem hatten wir schon in Kapitel 4 gesehen, dass wenn die Zwangsbedingungen<br />

skleronom und die Kräfte konservativ sind, H identisch mit der Energie E ist.<br />

AlsnächstesbetrachtenwireinebeliebigedifferenzierbareFunktionf(q,p,t)derKoordinaten,Impulse<br />

und evtl. der Zeit und untersuchen, unter welchen Bedingungen sie eine Erhaltungsgröße ist. Es ist<br />

df<br />

dt<br />

∂f<br />

= ˙qi +<br />

∂qi i<br />

∂f<br />

˙pi +<br />

∂pi i<br />

∂f<br />

∂t<br />

= <br />

<br />

∂f ∂H<br />

+<br />

∂qi ∂pi<br />

∂f<br />

<br />

−<br />

∂pi<br />

∂H<br />

<br />

+<br />

∂qi<br />

∂f<br />

∂t<br />

i<br />

≡ [f,H]+ ∂f<br />

. (11.6)<br />

∂t<br />

Hier haben wir die sogenannte Poisson-Klammer eingeführt. Allgemein ist die Poissonklammer zweier<br />

differenzierbarer Funktionen von p und q definiert als<br />

[f,g] = <br />

<br />

∂f ∂g<br />

−<br />

∂qi ∂pi<br />

∂f<br />

<br />

∂g<br />

. (11.7)<br />

∂pi ∂qi<br />

i<br />

97


Es folgt also, dass eine Funktion f eine Erhaltungsgröße ist, wenn sie nicht explizit zeitabhängig ist und<br />

ihre Poisson-Klammer mit H verschwindet.<br />

Als Beispiel betrachten wir wieder das Teilchen im Kreiskegel. Wir wissen, dass pϕ eine Erhaltungsgröße<br />

ist. Im Folgenden berechnen wir die Poissonklammer von pϕ mit H, wobei H durch (11.5) gegeben<br />

ist:<br />

[pϕ,H] = ∂pϕ<br />

∂ϕ<br />

∂H<br />

∂pϕ<br />

+ ∂pϕ<br />

∂r<br />

∂H<br />

∂pr<br />

− ∂pϕ ∂H ∂pϕ ∂H<br />

−<br />

∂pϕ ∂ϕ ∂pr ∂r .<br />

Der erste, zweite und vierte Term verschwinden, weil pϕ nicht von den anderen drei Variablen abhängt,<br />

denn alle Größen werden ja als Funktion von r,ϕ,pr,pϕ betrachtet. Also hängt pϕ nur von pϕ ab. Der<br />

ersteFaktordes dritten Termsist daher1, aberdafürverschwindetderzweite Faktor.Alsoist [pϕ,H] = 0,<br />

wie es sein muss, wenn pϕ eine Erhaltungsgröße ist.<br />

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Poisson-Klammern der klassischen <strong>Mechanik</strong> und<br />

den Kommutatoren der Quantenmechanik. Viele Beziehungen, die in der klassischen <strong>Mechanik</strong> unter<br />

Verwendung von Poissonklammern gelten, gelten analog in der Quantemechanik, wenn man die Poisson-<br />

Klammern durch Kommutatoren ersetzt (und noch einen Faktor i dranmultipliziert). Von besonderer<br />

Bedeutung sind hier die sog. fundamentalen Poissonklammern<br />

[qi,pj] = δij , [qi,qj] = [pi,pj] = 0. (11.8)<br />

In der Quantenmechanik folgt aus der Tatsache, dass der Kommutator von qi mit pi nicht verschwindet,<br />

die Unschärferelation.<br />

11.4 Der Phasenraum und die Liouville-Gleichung<br />

Derdurchdie 2nKoordinatenpi und qi aufgespanntePhasenraumist sehrnützlich zurVeranschaulichung<br />

der Dynamik von Systemen. Wir haben in Aufgabe 2d) in Kapitel 1 ein sogenanntes Phasenraumportrait<br />

für das Pendel gezeichnet, das die qualitativ verschiedenen Trajektorien zeigt:<br />

In der Chaostheorie sind solche Phasenraumbilder ein wichtiges Hilfsmittel, um sich die komplexen<br />

Sachverhalte zu veranschaulichen und um auch ohne Rechnungen einen qualitativen Eindruck von dem<br />

Verhalten eines Systems zu vermitteln.<br />

Deshalb diskutieren wir in diesem Unterkapitel einige Eigenschaften des Phasenraums. Die folgenden<br />

Überlegungen gelten in der angegebenen Form, wenn H nicht explizit von der Zeit abhängt. Wenn H<br />

explizit von der Zeit abhängt, kann man sich mit einem Trick einen Phasenraum mit zeitunabhängigen<br />

Phasenraumportraits konstruieren: Man führt eine weitere Koordinate ein, nennen wir sie s(t), die den<br />

einfachen Zeitverlauf ˙s = 1 hat. Man macht den Phasenraum also 2n+1-dimensional.<br />

98


11.4.1 Trajektorien im Phasenraum<br />

Da die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen von erster Ordnung in der Zeitableitung sind, ist eine Trajektorie<br />

(q(t),p(t)) im Phasenraum durch einen zu einer Zeit t0 festgelegten Punkt (q(0),p(0)) eindeutig<br />

bestimmt. Dies gilt nicht nur vorwärts in der Zeit, sondern auch rückwärts in der Zeit. Wir können jedem<br />

Punkt im Phasenraum einen Pfeil zuordnen, dessen Richtung die Richtung und Länge die “Geschwindigkeit”<br />

(˙q1,..., ˙qn, ˙p1,..., ˙pn) in diesem Punkt angeben. Die Geschwindigkeit lässt sich mit Hilfe der<br />

Hamiltonschen Gleichungen berechnen.<br />

Aus diesen Überlegungen folgt die in der Praxis sehr hilfreiche Regel, dass sich Trajektorien im<br />

Phasenraum nicht schneiden dürfen. Denn wenn sie sich schneiden würden, gäbe es Punkte, in denen die<br />

Richtung des Geschwindigkeitsvektors nicht eindeutig wäre. Die Zeitentwicklung Hamiltonscher Systeme<br />

ist aber deterministisch. Die einzig möglichen Punkte, in denen mehrere Trajektorien zusammenkommen<br />

können, sind instabile Gleichgewichtspunkte, in denen die Geschwindigkeit Null ist, man betrachte hierzu<br />

das Phasenraumportrait des Pendels (siehe vorige Seite). Der instabile Gleichgewichtspunkt bei (φ =<br />

(2n + 1)π,Lz = 0) entspricht dem senkrecht nach oben stehenden Pendel. Man nennt einen solchen<br />

Punkt, in den sowohl Trajektorien hinein- als auch hinauslaufen und in dessen Umgebung deshalb die<br />

Trajektorien Hyperbelform haben, einen hyperbolischen Fixpunkt. Den stabilen Gleichgewichtspunkt bei<br />

(φ = 2nπ,Lz = 0) nennt man übrigens einen elliptischen Fixpunkt.<br />

11.4.2 Die Liouville-Gleichung<br />

Es ist oft zweckmäßig, nicht nur eine, sondern viele Trajektorien im Phasenraum gleichzeitig zu betrachten.<br />

Dies macht man z.B. bei Teilchenbeschleunigern und in der statistischen <strong>Mechanik</strong>. Das Vorgehen<br />

in der statistischen <strong>Mechanik</strong> wird im Folgenden näher erläutert:<br />

In der statistischen <strong>Mechanik</strong> betrachtet man z.B. ein “Gas” aus N Teilchen, das in eine Kammer<br />

eingesperrt ist, mit den n = 3N Ortskoordinaten qi und den entsprechenden Impulskoordinaten pi.<br />

Die Dynamik des gesamten Teilchengases lässt sich also durch die Trajektorie eines Punktes im 6Ndimensionalen<br />

Phasenraum darstellen. Wir schreiben<br />

Die Bewegungsgleichungen (11.1) lassen sich also zusammenfassen als<br />

x = (q1,...,qn,p1,...,pn). (11.9)<br />

˙x = f(x) (11.10)<br />

mit der durch die rechten Seiten der beiden Gleichungen (11.1) gegebenen Funktion f.<br />

Um die Brücke zwischen der klassischen <strong>Mechanik</strong> und der statistischen <strong>Mechanik</strong> zu bauen, betrachtet<br />

man nun nicht ein einzelnes System, sondern ein ganzes Ensemble von solchen Systemen. Da man<br />

die Anfangsbedingung sowieso nicht mit beliebiger Genauigkeit angeben kann, betrachtet man das Ensemble<br />

von Systemen, deren Anfangszustand im Rahmen einer gewählten Genauigkeit übereinstimmt.<br />

Im Phasenraum füllen all diese Anfangszustände des Ensembles ein kleines endliches Volumen aus. Wir<br />

wählen das Ensemble so, dass die Dichte der Systeme in diesem kleinen Volumen einen konstanten Wert<br />

̺0 hat und außerhalb verschwindet. Nun betrachtet man die zeitliche Entwicklung all dieser Systeme<br />

gleichzeitig im Phasenraum. Jeder Punkt des anfänglich gewählten Volumenelements bewegt sich gemäß<br />

Gleichung (11.10). Das Volumenelement bewegt sich also und deformiert sich dabei. Wir zeigen zunächst,<br />

dass sich das Gesamtvolumen dabei nicht ändert. Hierzu machen wir den Ansatz V = l1l2...l2n (mit<br />

infinitesimalen li), wir gehen also davon aus, dass das Volumenelement ein 2n-dimensionaler “Quader”<br />

ist, dessen Kanten sich in jeder der 2n Dimensionen von x (i)<br />

a bis x (i)<br />

e erstrecken. Durch Taylorentwicklung<br />

99


erhalten wir ˙ l1 = ˙x (1)<br />

e − ˙x (1)<br />

a ≃ l1∂f1/∂x (1) . Damit folgt<br />

˙V = ˙ l1l2...l2n + ˙ l2l1l3...l2n +...<br />

= ∂f1<br />

∂x (1)l1l2...l2n + ∂f2<br />

∂x (2)l2l1l3...l2n +...<br />

= <br />

i<br />

∂fi<br />

∂x (i)l1l2...l2n<br />

= V ∇· f . (11.11)<br />

Die Divergenz der Funktion f entscheidet also, wie sich das Phasenraumvolumen unter der Dynamik<br />

ändert. Für unsere Hamiltonschen Bewegungsgleichungen gilt<br />

∇· f =<br />

n<br />

<br />

∂<br />

i=1<br />

∂H<br />

∂qi ∂pi<br />

− ∂<br />

∂pi<br />

<br />

∂H<br />

= 0. (11.12)<br />

∂qi<br />

Das Phasenraumvolumen ändert sich also nicht, sondern deformiert sich nur.<br />

Wir bezeichnen mit ̺(x,t) die Dichte der Zustände unseres Ensembles im Phasenraum. Sie hat am<br />

Anfang den Wert ̺0 innerhalb des gewählten Volumenelements, und außerhalb ist sie 0. Wir haben eben<br />

gezeigt, dass sich das Phasenraumvolumenelement unter der Hamiltonschen Dynamik deformiert, aber<br />

dass es nicht sein Volumen ändert. Also gibt es auch zu späteren Zeiten nur Bereiche mit Dichte ̺0 und<br />

0, die aber immer feiner verwoben werden.<br />

Wir stellen jetzt noch eine allgemeineBewegungsgleichung,die sogenannteLiouville-Gleichung,für die<br />

Dichte ̺(x,t) auf, die auch dann gilt, wenn ̺(x,t) nicht konstant ist. Wir gehen aus von einer allgemeinen<br />

Funktion ̺(x,t). Wir leiten die Liouville-Gleichung aus den Hamiltonschen Gleichungen her, indem wir<br />

mit der Kontinuitätsgleichung starten und die rechte Seite mit Hilfe der Hamiltonschen Gleichungen<br />

umformen:<br />

∂̺<br />

<br />

∂t = − ∇ ̺˙ x<br />

= <br />

<br />

∂<br />

̺<br />

∂pi i<br />

∂H<br />

<br />

−<br />

∂qi<br />

∂<br />

∂qi<br />

= <br />

<br />

∂H ∂<br />

−<br />

∂qi ∂pi<br />

∂H<br />

<br />

∂<br />

̺,<br />

∂pi ∂qi<br />

∂̺<br />

∂t<br />

i<br />

<br />

̺ ∂H<br />

∂pi<br />

= [H,̺]. (11.13)<br />

In der letzten Zeile tritt wieder eine Poisson-Klammer auf. Die Liouville-Gleichung besagt also, dass<br />

die zeitliche Änderung der Phasenraumdichte ̺ durch die Poisson-Klammer der Hamiltonfunktion mit<br />

̺ gegeben ist. Für den speziellen, oben behandelten Fall, dass ̺ innerhalb eines gewissen Volumens den<br />

konstanten Wert ̺0 und außerhalb den Wert Null hat, ergibt sich ∂̺/∂t = 0 an allen Orten außer an den<br />

Rändern des Volumenelements, die sich ja verschieben.<br />

11.4.3 Invariante Mannigfaltigkeiten<br />

ZurVeranschaulichungderDynamik HamiltonscherSystemeist eshilfreich,invarianteMannigfaltigkeiten<br />

(auch “invariante Mengen” genannt) im Phasenraum zu identifizieren. Dies sind Mengen von Punkten im<br />

Phasenraum, die unter der Zeitentwicklung auf sich selbst abgebildet werden. Das bedeutet, dass wenn<br />

man die Zeitentwicklung aller Trajektorien, die in diesen Punkten starten, gleichzeitig betrachtet, diese<br />

Menge auf sich selbst abgebildet wird. Zwei wichtige Arten von invarianten Mengen sollen im Folgenden<br />

kurz vorgestellt werden: Fixpunkte und periodische Bahnen.<br />

100


Fixpunkte<br />

Fixpunkte x ∗ sind Gleichgewichtslösungen von (11.10), also von<br />

0 = f(x ∗ ).<br />

In der Umgebung eines Fixpunktes können wir die Phasenraumtrajektorien durch Taylorentwicklung im<br />

Abstand vom Fixpunkt berechnen: Wir setzen<br />

und<br />

dxi<br />

dt<br />

Dies ist eine Matrixgleichung der Form<br />

mit<br />

Diese Gleichung hat Lösungen der Form<br />

wobei vk die Lösung der Eigenwertgleichung<br />

x(t) = x ∗ +u(t),<br />

dui<br />

=<br />

dt = fi(x ∗ +u(t)) ≃ <br />

<br />

∂fi<br />

∂xj<br />

j<br />

<br />

x ∗<br />

uj(t).<br />

˙u = Au (11.14)<br />

<br />

∂fi<br />

Aij =<br />

∂xj<br />

u(t) =<br />

2n<br />

k=1<br />

x ∗<br />

.<br />

vke λkt ,<br />

Avk = λkvk<br />

ist.<br />

Da die Matrixelemente von A reell sind, gibt es zu jedem komplexen Eigenwert einen komplex konjugierten<br />

Partner.<br />

In zwei Dimensionen haben wir zwei Eigenwerte<br />

λ1,2 = 1<br />

<br />

τ ±<br />

2<br />

τ2 <br />

−4∆ , ∆ = λ1λ2, τ = λ1 +λ2.<br />

τ ist die Spur von A und ∆ die Determinante.<br />

Wir unterscheiden die folgenden Fälle (siehe Abb. 11.1):<br />

• ∆ > 0undτ 2 −4∆ > 0:BeideEigenwertesindreellundhabendasselbeVorzeichen.DerFixpunktist<br />

ein Knoten. Seine Stabilität wird durch das Vorzeichen von τ bestimmt. Bei einem stabilen Knoten<br />

schmiegen sich die Trajektorien mit der Zeit immer stärker an die “langsame” Eigenrichtung (d.h.<br />

die mit dem kleineren |λ|) an, bei einem instabilen Knoten richtet sich die Trajektorie mit der Zeit<br />

an der “schnellen” Eigenrichtung aus.<br />

• ∆ < 0: Die Eigenwerte sind reell und haben entgegengesetztes Vorzeichen. Der Fixpunkt ist ein<br />

Sattelpunkt, auch hyperbolischer Fixpunkt genannt. Es gibt eine stabile und eine instabile Richtung.<br />

• ∆ > 0undτ 2 −4∆ < 0:DieEigenwertesindkomplexkonjugiert.DerFixpunktisteineSpirale. Seine<br />

Stabilität wird durch das Vorzeichen von τ bestimmt. Wir setzen λ1 = λ ′ +iλ ′′ und λ2 = λ ′ −iλ ′′<br />

an. Dann ist<br />

u(t) =v1e (λ′ +iλ ′′ )t +v2e (λ′ −iλ ′′ )t .<br />

u ist reell, und folglich sind v1 und v2 komplex konjugiert, v1 = v ′ + iv ′′ und v2 = v ′ − iv ′′ . Dies<br />

gibt<br />

u(t) = 2e λ′ t (v ′ cosλ ′′ t−v ′′ sinλ ′′ t) .<br />

Die relative Orientierung von v ′ und v ′′ und das Vorzeichen von λ ′′ bestimmen den Drehsinn der<br />

Spirale.<br />

101


• τ = 0: Der Fixpunkt ist ein Zentrum, auch elliptischer Fixpunkt genannt. Die Trajektorien laufen<br />

in geschlossenen Bahnen um ihn herum.<br />

• τ 2 −4∆ = 0: In diesem Fall sind entweder alle Richtungen Eigenrichtungen zum selben Eigenwert<br />

und wir haben einen Stern, oder es gibt nur eine Eigenrichtung, und dann ist der Fixpunkt entartet.<br />

In beiden Fällen befindet sich der Fixpunkt an der Grenze zwischen Knoten und Spirale.<br />

• ∆ = 0: In diesem Fall ist ein Eigenwert 0. Aus der entsprechenden Eigenrichtung läuft man weder<br />

aus dem Fixpunkt heraus, noch in ihn hinein. Es gibt also eine ganze Linie von Fixpunkten.<br />

stabiler Knoten<br />

Sattelpunkt<br />

stabile Spirale<br />

instabiler Knoten Stern<br />

entarteter Fixpunkt<br />

Zentrum<br />

Fixpunktlinie<br />

instabile Spirale<br />

Abbildung 11.1: Die erwähnten Arten von Fixpunkten in 2 Dimensionen.<br />

Allerdings können die meisten dieser Fixpunkte bei Hamiltonschen Systemen nicht auftreten. Wegen<br />

derGleichung(11.12)darfeinPhasenraumvolumenelementauchinderUmgebungdiesesFixpunktesseine<br />

Größe nicht ändern, und deshalb muss die Summe der Eigenwerte Null sein. Zentrum und Sattelpunkt,<br />

alsoelliptische und hyperbolischeFixpunkte, sind daherdie einzigmöglichenFixpunkte in Hamiltonschen<br />

Systemen mit zweidimensionalem Phasenraum.<br />

In 2n > 2 Dimensionen hat ein Fixpunkt mehr als zwei Eigenrichtungen, die zum Teil stabil, zum Teil<br />

instabil sind (man braucht beides, damit das Phasenraumvolumen erhalten ist). Dann kann es z.B. ein<br />

komplex konjugiertes Paar von Eigenwerten geben, dessen Eigenvektoren eine Ebene aufspannen, in der<br />

Trajektoren spiralförmig in den Fixpunkt hineinlaufen, während sie längs anderer Eigenrichtungen aus<br />

dem Fixpunkt herauslaufen, oder umgekehrt.<br />

Periodische Bahnen<br />

Eine periodische Trajektorie ist eine Trajektorie, die sich exakt schließt. Wenn sie stabil ist, bleiben benachbarte<br />

Trajektorien in ihrer Nähe und wickeln sich evtl um sie herum. Wenn sie aber instabil ist,<br />

102


entfernen sich benachbarte Trajektorien in der instabilen Eigenrichtung exponenziell schnell in der Zeit<br />

von ihr (und folglich auch voneinander). Um dies genauer zu verstehen, betrachten wir einen sogenannten<br />

Poincaré-Schnitt durch die Umgebung einer periodischen Traektorie. Wir wählen einen Punkt auf<br />

dieser Trajektorie und schieben gedanklich ein Blatt Papier durch diesen Punkt, so dass die Papierebene<br />

senkrecht auf die Trajektorie steht. (Die Dimension des “Papierblatts” ist allerdings größer als 2, wenn<br />

die periodische Trajektorie samt ihrer Umgebung einen mehr als dreidimensionalen Unterraum des Phasenraums<br />

ausfüllt....) Wir verfolgen nun eine Trajektorie, die in der Nachbarschaft unserer periodischen<br />

Trajektorie startet, in der Zeit. Jedesmal, wenn sie unser Blatt Papier durchstößt, markieren wir den<br />

Durchstoßpunkt. So bekommen wir eine Abfolge von Durchstoßpunkten, die in der Nähe des Durchstoßpunkts<br />

der periodischen Trajektorie liegen. Dann machen wir dasselbe für eine andere Trajektorie und<br />

markieren die Durchstoßpunkte dieser zweiten Trajektorie in einer anderen Farbe, usw. Eine Trajektorie<br />

wird also zu einer Kette von Durchstoßpunkten, und das sich ergebende Gesamtbild ist ganz analog<br />

zum Phasenraumportrait in der Umgebung eines Fixpunkts. So werden stabile periodische Bahnen im<br />

Poincaré-Schnitt zu elliptischen Fixpunkten und instabile periodische Bahnen zu hyperbolischen Fixpunkten<br />

oder (in höheren Dimensionen) zu Fixpunkten mit mehr als einer stabilen und/oder instabilen<br />

Eigenrichtung.<br />

Aufgaben<br />

1. Berechnen Sie für die Perle auf dem parabelförmigen, rotierenden Draht (s. Kap. 2.1.1 und Übungsaufgabe1vonKap.3)dieHamiltonfunktionunddieHamiltonschenGleichungen.WennSieüberschüssige<br />

Energie und Zeit haben, dann berechnen Sie beides auch noch für das Rollpendel. (Die Lagrange-<br />

Funktion wurde in Kap. 3.3 hergeleitet.)<br />

2. Zeigen Sie, dass sich die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen mit Hilfe der Poisson-Klammern<br />

schreiben lassen als<br />

˙qi = [qi,H], ˙pi = [pi,H].<br />

3. Berechnen Sie die Poissonklammern [Lx,Ly] und [Lx, L 2 ] ≡ [Lx,L 2 x +L2 y +L2 z ]. (Bem.: Lx ist die<br />

x-Komponente des Drehimpulses, also Lx = ypz −zpy.)<br />

4. In Aufgabe 2d) von Kapitel 1 haben Sie die Bahnen im Phasenraum für ein Pendel gezeichnet.<br />

(a) Zeichnen Sie nun ein analoges Bild für einen hüpfenden Gummiball, der auf dem Boden elastisch<br />

reflektiert wird und zwischen diesen Reflexionen nur der Gravitationskraft ausgesetzt<br />

ist. Betrachten Sie dieses System nur in einer Dimension (d.h. der Ball hüpft senkrecht nach<br />

oben).<br />

(b) Markieren Sie nun im Phasenraum die Fläche, die zwischen zwei Energien E1 und E2 und<br />

zwischen zwei Impulsen p1 und p2 liegt. Rechnen Sie explizit nach, dass sich dieses “Phasenraumvolumen”<br />

mit der Zeit nicht ändert (also dass alle Trajektorien, die in dieser Fläche zur<br />

Zeit t0 starten, zu einer späteren Zeit t1 eine gleich große Fläche bilden).<br />

103


Kapitel 12<br />

Der Hamilton-Jacobi-Formalismus<br />

Wenn man ausgehend vom Hamilton-Formalismus versucht, Transformationen auf neue Koordinaten<br />

und Impulse so durchzuführen, dass die Bewegung möglichst einfach wird, also dass es möglichst viele<br />

zyklische Variablen gibt, gelangt man zur Hamilton-Jacobi-Gleichung. In diesem Kapitel befassen wir uns<br />

zunächst mit sogenannten kanonischen Transformationen, um dann zu untersuchen, welche Bedingungen<br />

erfüllt sein müssen, damit man auf eine einfache Bewegung kommen kann. Dies wird der letzte Schritt<br />

sein auf dem Weg, ein Kriterium für die Lösbarkeit mechanischer Probleme aufzustellen.<br />

12.1 Kanonische Transformationen<br />

In Kapitel 4 haben wir gezeigt, dass die Lagrange-Gleichungen unter Punkttransformationen forminvariant<br />

sind. Wenn wir also von den Koordinaten q zu den Koordinaten Q = Q(q,t) wechseln und die<br />

entsprechend transformierte Lagrange-Funktion L ′ (Q, ˙ <br />

Q,t) = L q(Q,t), ˙q(Q, ˙ <br />

Q,t),t ermitteln, gelten<br />

auch in den neuen Koordinaten und mit der neuen Lagrange-Funktion die Lagrange-Gleichungen zweiter<br />

Art. Weil die Hamilton-Gleichungen direkt aus den Lagrange-Gleichungen abgeleitet werden können,<br />

folgt somit auch, dass die Hamilton-Gleichungen unter Punkttransformationen forminvariant sind. Um<br />

die neue Hamiltonfunktion zu erhalten, können wir zunächst L ′ bestimmen, daraus die neuen Impulse P<br />

ermitteln und damit schließlich die Hamiltonfunktion und die Hamiltonschen Gleichungen in den neuen<br />

Koordinaten und Impulsen aufstellen.<br />

Im Folgenden wollen wir Transformationen der Koordinaten und Impulse direkt im Hamilton-Formalismus<br />

durchführen. Wir betrachten Transformationen von den Variablen q,p und der Hamiltonfunktion<br />

H(q,p,t) auf neue Variablen Q,P und eine neue Hamiltonfunktion K(Q,P,t) und verlangen, dass die<br />

Hamiltonschen Bewegungsgleichungen<br />

˙Qi = ∂K<br />

, Pi ˙ = −<br />

∂Pi<br />

∂K<br />

∂Qi<br />

mitdenneuenVariablenundderneuenHamiltonfunktionebenfallsgelten.Diesesogenanntenkanonischen<br />

Transformationen sind allgemeiner als die Punkttransformationen. Aus dem eben Gesagten ist klar, dass<br />

jede Punkttransformation auch eine kanonische Transformation ist, aber längst nicht jede kanonische<br />

Transformation lässt sich als Punkttransformation darstellen.<br />

Da die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen aus dem Hamiltonschen Prinzip (11.3) folgen, ist eine<br />

Transformationgenaudannkanonisch,wenndasHamiltonschePrinzipnachderTransformationweiterhin<br />

erfüllt ist. Wir benutzen diese Bedingung, um ein Rezept zur Erzeugung kanonischer Transformationen<br />

zu erhalten.<br />

Die Bedingung (11.3) lautet in den neuen Koordinaten<br />

<br />

t2 <br />

δ dt Pi ˙ <br />

Qi −K(Q,P,t) = 0,<br />

t1<br />

i<br />

104


wobei die Variation an den Anfangs- und Endpunkten verschwindet, δQi(t1) = δQi(t2) = δPi(t1) =<br />

δPi(t2) = 0. Der Vergleich mit (11.3) ergibt, dass sich ( <br />

ipi˙qi −H) und ( <br />

iPi ˙ Qi −K) nur um einen<br />

Faktor und um die totale Zeitableitung einer Funktion F unterscheiden dürfen:<br />

c( <br />

pi˙qi−H) = <br />

Pi ˙ Qi−K+ dF<br />

= − ˙<br />

d(F +i<br />

PiQi−K+<br />

dt PiQi)<br />

≡ −<br />

dt<br />

<br />

PiQi−K+ ˙<br />

dG<br />

. (12.1)<br />

dt<br />

i<br />

i<br />

i<br />

(Das ist analog zu den Überlegungen im Abschnitt 6.4.) Wir setzen c = 1, denn ein c = 1 lässt sich<br />

durch eine Änderung der Skala für Q und K immer auf c = 1 abbilden. Die Funktion F bzw. G ist eine<br />

beliebige stetig differenzierbareFunktion der alten und neuen Variablen (wobei von den 4 Variablensätzen<br />

q,p,Q,P nur 2 unabhängig sind.) Wir wählen G als Funktion der alten Koordinaten und der neuen<br />

Impulse, G = G(q,P,t) und erhalten<br />

dG<br />

dt<br />

<br />

<br />

∂G<br />

= ˙qi +<br />

∂qi<br />

∂G<br />

<br />

Pi ˙<br />

∂Pi<br />

i<br />

+ ∂G<br />

∂t .<br />

Wenn wir dies in (12.1) einsetzen und die linke und rechte Seite vergleichen, erhalten wir<br />

pi = ∂G<br />

, Qi =<br />

∂qi<br />

∂G<br />

, K = H +<br />

∂Pi<br />

∂G<br />

. (12.2)<br />

∂t<br />

Wir habe also ein Rezept dafür gefunden, eine kanonische Transformation durchzuführen: Man nehme<br />

eine differenzierbare Funktion G(q,P,t) und stelle die Beziehungen (12.2) auf. Man überprüfe, dass die<br />

Transformation umkehrbar ist, dass also jedem Phasenraumpunkt q,p ein Phasenraumpunkt Q,P im<br />

neuen System zugeordnet ist und umgekehrt.Damit ist der Zusammenhangzwischen den alten und neuen<br />

Variablen und die neue Funktion K bestimmt. Man nennt G die erzeugende Funktion der kanonischen<br />

Transformation.<br />

Es gibt insgesamt 4 verschiedene Möglichkeiten, über eine Erzeugende Funktion einen Zusammenhang<br />

zwischen den alten und neuen Variablen herzustellen, da es 4 verschiedeneKombinationen eines alten und<br />

eines neuen Variablensatzes gibt. Statt einer erzeugenden Funktion G(q,P,t) kann man also auch eine<br />

Funktion F1(q,Q,t) oder eine Funktion F3(Q,p,t) oder eine Funktion F4(p,P,t) wählen und die zu (12.2)<br />

analogenBeziehungenaufstellen. In Lehrbüchern,die alle4MöglichkeitenzurErzeugungvonkanonischen<br />

Transformationen explizit behandeln, wird unsere Erzeugende Funktion F2(q,P,t) genannt. Da wir im<br />

Folgenden aber nur die Variante mit F2 (also G) benötigen, diskutieren wir die anderen Varianten nicht.<br />

Um ein konkretes Beispiel zu betrachten, wählen wir die erzeugende Funktion G = <br />

iqiPi + H∆t<br />

mit einem kleinen Zeitintervall ∆t. Die Beziehungen (12.2) sind dann<br />

pi = ∂G<br />

∂qi<br />

Qi = ∂G<br />

∂Pi<br />

= Pi + ∂H(q,P,t)<br />

∆t ≃ Pi − ˙pi∆t, ⇒ Pi = pi + ˙pi∆t ≃ pi(t+∆t);<br />

∂qi<br />

= qi + ∂H(q,P,t)<br />

∂Pi<br />

K = H + ∂H(q,P,t)<br />

∂t<br />

∆t ≃ qi + ∂H(q,p,t)<br />

∆t ≃ qi(t+∆t);<br />

∂pi<br />

≃ H(q,p,t+∆t).<br />

Die durch G erzeugte kanonische Transformation macht also eine Translation in der Zeit um ∆t. Wenn<br />

∆t infinitesimal klein ist, können alle ≃-Beziehungen in dieser Rechnung durch = ersetzt werden, denn<br />

die vernachlässigten Terme sind von der Ordnung (∆t) 2 , was gegenüber der Ordnung ∆t unendlich viel<br />

kleiner ist, wenn ∆t infinitesimal klein ist.<br />

Zum Schluss notieren wir noch einen wichtigen Satz (ohne Beweis):<br />

Eine umkehrbare Transformation von q,p,H nach Q,P,K ist genau dann kanonisch, wenn die fundamentalen<br />

Poissonklammern<br />

[Qi,Pj] = δij , [Qi,Qj] = [Pi,Pj] = 0<br />

gelten. Dies überprüft man durch Einsetzen von Qi(q,p) und Pi(q,p) und Ausnützen von (11.8).<br />

105<br />

i


12.2 Die Hamilton-Jacobi-Gleichung<br />

Die Hamilton-Jacobi-Gleichung erhält man, wenn man nach einer kanonischen Transformation sucht, die<br />

sowohl die neuen Koordinaten Qi, als auch die neuen Impulse Pi zu Konstanten der Bewegung macht,<br />

alsoPi = αi und Qi = βi mit Konstantenαi und βi, deren Werte vonden Anfangsbedingungen abhängen,<br />

aber sichmit der Zeit nicht ändern.Wenn man eine solcheTransformationgefunden hat, hat man nämlich<br />

auch die Lösung der Bewegungsgleichungen für q und p gefunden, da diese ja als Funktionen von Q,P,t,<br />

also von β,α,t geschrieben werden können. Man hat dann also die Trajektorien des Systems als Funktion<br />

der Zeit und der Anfangsbedingungen berechnet.<br />

FreilichistdasFindeneinersolchenTransformationgenausoschwerwiedasdirekteLösenderLagrange-<br />

Gleichungen, so dass auch die Hamilton-Jacobi-Theorie meist keine echte Hilfe beim Lösen mechanischer<br />

Probleme ist. Ihr Nutzen liegt vielmehr darin, dass sie neue Einsichten in die Struktur der klassischen<br />

<strong>Mechanik</strong> gewährt, so dass wir bald hinreichende Bedingungen für die Lösbarkeit mechanischer Probleme<br />

aufstellen können.<br />

ja<br />

Eine Transformation auf konstante Q und P ist z.B. erreicht, wenn K(Q,P,t) = 0 ist. Denn dann ist<br />

˙Qi = ∂K<br />

= 0<br />

∂Pi<br />

und<br />

Pi ˙ = − ∂K<br />

= 0,<br />

∂Qi<br />

d.h. weder die Q noch die P ändern sich mit der Zeit.<br />

Aus K = 0 folgt mit der dritten Gleichung von (12.2)<br />

K = H + ∂G<br />

∂t<br />

also (mit der ersten Gleichung von (12.2))<br />

<br />

H q, ∂G(q,P,t)<br />

<br />

,t<br />

∂q<br />

= 0, (12.3)<br />

= − ∂G(q,P,t)<br />

∂t<br />

. (12.4)<br />

Dies ist die Hamilton-Jacobi-Gleichung. Die Funktion G nennt man Prinzipalfunktion oder auch Hamiltonsche<br />

Wirkungsfunktion. Sie ist identisch mit der Wirkung S = Ldt:<br />

Aus der Bedingung (12.1) erhalten wir nämlich mit ˙ Pi = 0 und K = 0<br />

und daraus durch Integration<br />

<br />

i<br />

pi˙qi −H = dG<br />

dt<br />

<br />

<br />

<br />

G = dt pi˙qi −H = dtL.<br />

i<br />

(12.5)<br />

Wir schreiben deshalb ab jetzt S statt G, und statt P schreiben wir α, um deutlich zu machen, dass es<br />

sich um Konstanten handelt. Die Hamilton-Jacobi-Gleichung hat dann die Form<br />

<br />

H q, ∂S(q,α,t)<br />

<br />

,t<br />

∂q<br />

= − ∂S(q,α,t)<br />

∂t<br />

. (12.6)<br />

Die Hamilton-Jacobi-Gleichung ist eine partielle Differenzialgleichung zur Bestimmung der Wirkungsfunktion<br />

S(q,α). Wir haben also das ursprüngliche Problem, die Lagrange-Gleichungen oder die Hamiltonschen<br />

Bewegungsgleichungenzu lösen, ersetzt durch das Problem, die Erzeugende S einer kanonischen<br />

106


Transformation zu finden. Aus 2n gewöhnlichen Differenzialgleichungen für die q und p der Hamiltonschen<br />

Formulierung wurde nun eine partielle Differenzialgleichung für S. Hiermit haben wir eine weitere<br />

Formulierung mechanischer Probleme gefunden. (Nach Newton, d’Alembert, Lagrange und Hamilton ist<br />

das jetzt die fünfte Formulierung.) Es gibt einige mechanische Probleme, die sich recht schnell mit der<br />

Hamilton-Jacobi-Gleichung lösen lassen, da die Hamilton-Jacobi-Gleichung in diesen Problemen sich bei<br />

geeigneter Koordinatenwahl leicht in einen Satz unabhängiger Gleichungen für die einzelnen Koordinaten<br />

separieren lässt. (Wir machen eine solche Separation in der Übungsaufgabe 3 am Ende dieses Kapitels.)<br />

Bespiel: Harmonischer Oszillator<br />

AlseinfachesBeispielbetrachtenwireinenharmonischenOszillator.DerPhasenraumistzweidimensional,<br />

aber weil die Energie erhalten ist, ist jede Trajektorie in einem eindimensionalen Unterraum gefangen.<br />

Die eindimensionalen Probleme lassen sich immer durch eine direkte Integration lösen. Also ist auch die<br />

Hamilton-Jacobi-GleichungfüreindimensionaleSystememiteinernichtexplizitvonderZeitabhängenden<br />

Hamiltonfunktion immer durch eine Integration lösbar.<br />

Für den harmonischen Oszillator ist<br />

Die Hamilton-Jacobi-Gleichung lautet somit<br />

<br />

1 1<br />

2 m<br />

H = p2 m<br />

+<br />

2m 2 ω2q 2 .<br />

2 ∂S<br />

+mω<br />

∂q<br />

2 q 2<br />

<br />

+ ∂S<br />

∂t<br />

Mit dem Ansatz S = W −Pt können wir die Zeit loswerden und erhalten<br />

2 1 1 ∂W<br />

+mω<br />

2 m ∂q<br />

2 q 2<br />

<br />

= P . (12.7)<br />

Auf der linken Seite steht die Hamiltonfunktion. Da sie nicht explizit zeitabhängig ist, ist sie eine Erhaltungsgröße<br />

und identisch mit E, also ist der neue Impuls gegeben durch die Erhaltungsgröße P = E.<br />

Auflösen nach W gibt<br />

∂W(q,E)<br />

= ±<br />

∂q<br />

2mE −m2ω 2q2 = p.<br />

Integration ergibt<br />

und<br />

Q = ∂S ∂W<br />

=<br />

∂E ∂E<br />

q<br />

W(q,E) = mω<br />

q<br />

1<br />

−t =<br />

ω 0<br />

0<br />

dq ′<br />

2E<br />

mω 2 −q ′2<br />

= 0.<br />

2E<br />

mω 2 −q′2 dq ′<br />

−t = 1<br />

ω arcsin<br />

<br />

mω2 2E q<br />

<br />

−t. (12.8)<br />

(Den Anfangspunkt q0 des Integrals haben wir hier ohne Verlust von Allgemeinheit des in der nächsten<br />

Zeile angegebenen Ergebnisses auf 0 gesetzt.) Damit ist<br />

q(t) =<br />

<br />

2E 2E<br />

sin(ω(t+Q)) ≡ sin(ωt+ϕ0).<br />

mω2 mω2 Wir haben also q ausgedrückt durch den neuen “Impuls” P = E und durch die neue Koordinate Q =<br />

ϕ0/ω, die die Anfangsphase festlegt, und durch die Zeit t. Damit haben wir die Bewegungsgleichung<br />

gelöst.<br />

107


12.3 Die zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung<br />

Die kanonische Transformation auf K = 0, die wir im vorigen Unterkapitel durchgeführt haben, führt in<br />

einen trivialen Phasenraum: Es ist ˙ Qi = ˙ Pi = 0 für alle i, d.h. alle Trajektorien sind Fixpunkte. Der neue<br />

Phasenraum weiß also nichts mehr von der Struktur des ursprünglichen Phasenraums, und wir können<br />

aus ihm keine weiteren Erkenntnisse gewinnen. Um weitere Fortschritte bei der Suche nach Kriterien für<br />

die Lösbarkeit mechanischer Probleme zu machen, führen wir im Folgenden eine modifizierte kanonische<br />

Transformation durch, die mehr Einsichten gewährt. Wir beschränken uns auf Systeme mit einer nicht<br />

explizit zeitabhängigen Hamiltonfunktion.<br />

Wenn die Hamiltonfunktion nicht explizit von der Zeit abhängt, kann man die Zeit durch den Ansatz<br />

S(q,α,t) = W(q,α)−Et aus der Hamilton-Jacobi-Gleichung (12.6) eliminieren, so wie wir es im Beispiel<br />

des harmonischen Oszillators gemacht haben. Man nennt W die Charakteristische Funktion.<br />

Die Hamilton-Jacobi-Gleichung lautet mit dieser Ersetzung<br />

<br />

H q, ∂W<br />

<br />

= E. (12.9)<br />

∂q<br />

WirwählenjetztW stattS alsErzeugendederkanonischenTransformation.AusderdrittenGleichung<br />

von (12.2) folgt dann<br />

K(Q,α) = H(q(Q,α),p(Q,α)).<br />

Weil die α ja konstant sein sollen, darf K nicht von den Q abhängen (sonst wäre mindestens ein ˙αi =<br />

∂K/∂Qi = 0), also lässt sich auch H allein als Funktion der α schreiben. Wenn die Energie als eine dieser<br />

Größen gewählt wurde, ist natürlich einfach H = E.<br />

Aus der ersten Gleichung von (12.2) erhalten wir jetzt keine konstanten Q mehr, sondern<br />

woraus<br />

˙Qi = ∂K/∂Pi ≡ ∂K/∂αi ≡ ωi = konst,<br />

Qi(t) = ωit+Qi(0) (12.10)<br />

folgt.<br />

Wir haben also diesmal nicht eine Transformation auf lauter Konstanten gemacht, sondern auf eine<br />

freieBewegung,mitkonstantenImpulsenundlinearinderZeitanwachsendenKoordinaten.DiePi können<br />

irgendwelcheKonstantender Bewegungsein, z.B. Anfangswerteder Impulse oderauch Erhaltungsgrößen.<br />

Da wir schon die Energie als Konstante verwendet haben, setzen wir schonmal P1 ≡ α1 = E. Die Pi legen<br />

zusammen mit den Qi(0) den Anfangspunkt einer Trajektoriefest. Um die kanonische Transformationauf<br />

diese freie Bewegungexplizit zu finden, muss man freilich auchhier wieder die Hamilton-Jacobi-Gleichung<br />

lösen oder auf einem anderen Weg die Lösung der Bewegungsgleichungen finden. Allerdings werden uns<br />

einige Überlegungen zur Beschaffenheit des Phasenraums und zur Auswirkung von Erhaltungsgrößen<br />

ermöglichen, allgemeine Bedingungen zu finden, unter denen eine kanonische Transformation auf eine<br />

freie Bewegung möglich ist. Doch vorher betrachten wir wieder das Beispiel des harmonischen Oszillators.<br />

Nochmal der harmonische Oszillator<br />

Wenn wir den harmonischen Oszillator mit der Erzeugenden W kanonisch transformieren, erhalten wir<br />

statt (12.8)<br />

Q = ∂W<br />

∂E<br />

dq ′<br />

= 1<br />

ω arcsin<br />

<br />

mω2 2E q<br />

<br />

.<br />

q<br />

1<br />

=<br />

ω 0<br />

2E<br />

mω 2 −q ′2<br />

Also ist der Zusammenhang zwischen den alten und neuen Koordinaten jetzt<br />

<br />

2E<br />

q(t) = sin(ωQ(t)).<br />

mω2 108


Den Zeitverlauf Q(t) erhalten wir aus<br />

˙Q = ∂K(E)<br />

= 1.<br />

∂E<br />

Also ist Q = t+Q0 und <br />

2E<br />

q(t) = sin(ωt+ϕ0)<br />

mω2 (mit ϕ0 = ωQ0), wie es sein muss. Die KoordinateQmacht eine freie Bewegungmit konstantem“Impuls”<br />

P (der mit E identisch ist).<br />

Es mag zunächst verwundern, wie eine geradlinig gleichförmige freie Bewegung in den neuen Koordinaten<br />

Q mit einer periodischen Schwingung in den alten Kooridnaten q verträglich ist. Die periodische<br />

Schwingung des harmonischen Oszillators ist nämlich auf einen begrenzten Bereich von q-Werten beschränkt,<br />

während bei einer freien Bewegung die Koordinate Q alle Werte von minus Unendlich bis<br />

plus Unendlich durchlaufen kann. (Wir können Trajektorien nicht nur vorwärts in der Zeit, sondern auch<br />

rückwärts in der Zeit laufen lassen.) Die Auflösung des Rätsels liegt natürlich darin, dass Werte Q+2π/ω<br />

nicht von Werten Q unterschieden werden können, da sie genau demselben Zustand des Systems entsprechen<br />

(wegen der Sinusfunktion in der Abbildung von Q auf q). Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen,<br />

geben wir der Q-Achse sogenannte periodische Randbedingungen: Statt die Achse von minus bis plus<br />

Unendlich laufen zu lassen, nehmen wir den Abschnitt von 0 bis 2π/ω und schließen diesen Abschnitt<br />

ringförmig: Wenn wir “oben” beim Wert 2π/ω hinauslaufen, laufen wir “unten” bei 0 wieder rein (und<br />

umgekehrt).<br />

Die Notation wäre einfacher, wenn wir als Periode der Q-Koordinate nicht 2π/ω, sondern einfach 2π<br />

hätten. Dies können wir dadurch erzielen, dass wir statt der Wahl P = E die Wahl<br />

treffen. Dann bekommen wir<br />

P = E/ω<br />

˙Q = ω, ⇒ Q = Q0 +ωt.<br />

Dasselbe können wir auch in höheren Dimensionen machen. Ein n-dimensionaler harmonischer Oszillator<br />

hat die Hamiltonfunktion<br />

H = 1<br />

n 2<br />

pi +m<br />

2m<br />

2 ω 2 iq2 <br />

i .<br />

i=1<br />

Die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen der n Dimensionen sind unabhängig voneinander und können<br />

jede für sich gelöst werden. In jedem Freiheitsgrad steckt ein Beitrag Ei zur Gesamtenergie, und es ist<br />

E = <br />

iEi. Wir wählen Pi = Ei/ωi und erhalten dann<br />

<br />

2Pi<br />

Qi = ωit+Qi0, und qi(t) =<br />

mω sinQi(t).<br />

Für alle Qi wählen wir periodische Randbedingungen. Wir beschränken also jedes Qi auf den Bereich<br />

[0,2π] und betrachten den Wert 2π als identisch mit 0. Wenn also eine der Koordinaten mit positiver<br />

Geschwindigkeit beim Wert 2π ankommt, wird sie auf 0 gesetzt. Wenn sie mit negativer Geschwindigkeit<br />

bei 0 ankommt, wird sie auf 2π gesetzt. Wenn wir all diese einander entsprechenden Punkte, die auf den<br />

RandflächendesWürfels[0,2π] n liegen,miteinanderverbinden,erhaltenwireinenn-dimensionalenTorus.<br />

Einen zweidimensionalen Torus kann man sich gut vorstellen (als Autoreifenschlauch oder als Donut oder<br />

Bagel), da man ihn in den dreidimensionalen Raum einbetten kann, bei höheren Dimensionen wird es<br />

mit der Anschauung schwieriger...<br />

InmehralseinerDimensionistdieBewegungeinesharmonischenOszillatorsi.A.nichtperiodisch,sondern<br />

quasiperiodisch. Nur wenn die Frequenzen ωi in rationalen Verhältnissen zueinander stehen, können<br />

sich die Trajektorien auf dem Torus exakt schließen. Wenn alle Frequenzen in irrationalen Verhältnissen<br />

zueinander stehen, überdeckt eine Trajektorie im Laufe der Zeit den gesamten Torus immer dichter, d.h.<br />

sie kommt jedem Punkt auf dem Torus im Laufe der Zeit beliebig nahe.<br />

109


12.4 Einige allgemeine Überlegungen<br />

Wir haben mit dem n-dimensionalen harmonischen Oszillator ein Beispiel dafür gesehen, wie die kanonische<br />

Transformation mit der charakteristischen Funktion W(q,α) für die neuen Koordinaten Q auf<br />

eine Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit führt. Weil die Bewegung beschränkt ist (also nicht nach<br />

Unendlich abhauen kann), findet sie auf einem Torus statt.<br />

Nun fragen wir, ob es eine derartige Transformation für jedes nicht explizit zeitabhängige, durch die<br />

Hamiltonschen Bewegungsgleichungen beschriebene System geben kann. Wie wir gesehen haben, ist eine<br />

solche Transformation äquivalent zum Lösen der Bewegungsgleichungen. Sowohl bzgl. der Funktion W,<br />

als auch bzgl. der Lösungen q(t),p(t) der Bewegungsgleichungen hat man üblicherweise die Vorstellung,<br />

dass sie stetig differenzierbar sein muss und sich in irgendeiner Form hinschreiben lässt (zumindest als<br />

Integral oder in sonst einer Form, die die Funktion eindeutig festlegt). Diese Vorstellung beinhaltet auch,<br />

dass eine kleine Änderung der Parameter (also der αi oder der Anfangsbedingungen) auf eine kleine<br />

Änderung der Lösung führen. Außerdem bedeutet die Existenz der Erzeugenden Funktion W auch, dass<br />

man eine Formulierung der Lösung gefunden hat, die die gesamte zukünftige (und ebenso die vergangene)<br />

Zeitentwicklung beinhaltet.<br />

Es gibt nur eine Möglichkeit, wie eine beschränkte Bewegung, die für alle Zeiten eine geradlinig<br />

gleichförmigeBewegungin allennKoordinatenQi ist,aussehenkann: siemussaufeinem n-dimensionalen<br />

Torus verlaufen. Das Lösen der Hamilton-Jacobi-Gleichung für nicht explizit zeitabhängige Systeme ist<br />

also äquivalent zum Durchführen einer kanonischen Transformation auf eine gleichförmige Bewegung auf<br />

einem n-dimensionalen Torus, der durch Konstanten α1,...,αn charakterisiert ist. (Wir schließen jetzt<br />

mal den ganz spezielle Bedingungen erfordernden Fall aus, dass eine einzige Trajektorie quasiperiodisch<br />

einen mehr als n-dimensionalen Torus im Phasenraum abdeckt.) Um herauszufinden, unter welchen Bedingungen<br />

eine solche Transformation allgemein möglich ist, gehen wir jetzt nicht mathematisch exakt<br />

vor, sondern versuchen, eine möglichst gute Anschauung über die Eigenschaften des Phasenraums zu<br />

gewinnen, die für eine solche Transformation nötig sind.<br />

12.4.1 Unterteilung des Phasenraums mit Hilfe von Erhaltungsgrößen<br />

Zunächst überlegen wir, wie sich verschiedene Trajektorien auf den Phasenraum verteilen können. Wir<br />

betrachtenwiederSystemeohneexplizite Zeitabhängigkeit.Die Energieistalsoeine Erhaltungsgröße.Der<br />

Phasenraum lässt sich damit in Energieschalen unterteilen. Eine Energieschale zur Energie E beinhaltet<br />

alle Punkte des Phasenraums, die zu einer Energie in einem infinitesimal kleinen Intervall [E,E + dE]<br />

gehören. Wenn wir einen bestimmten Punkt (q,p) des Phasenraums als Anfangspunkt einer Trajektorie<br />

wählen, dann bleibt die gesamte Trajektorie innerhalb derjenigen Energieschale, in der der Anfangspunkt<br />

liegt. Die Energieschale ist (2n−1)-dimensional. Es gibt Systeme, in denen eine Trajektorie die gesamte<br />

Energieschale abdeckt, also im Laufe der Zeit jedem Punkt der Energieschale beliebig nahe kommt.<br />

Man nennt solche Systeme ergodisch. Sie spielen eine wichtige Rolle in der statistischen <strong>Mechanik</strong>. Die<br />

Bewegung in einem ergodischen System kann man nicht durch eine kanonische Transformation auf einen<br />

n-dimensionalen Torus bringen, da eine einzelne Trajektorie ja schon einen 2n − 1-dimensionalen Unterraum<br />

des Phasenraums dicht bedeckt, also einen Raum höherer Dimension ausfüllt. Die Assoziation<br />

von Konstanten α2,...,αn mit dieser Trajektorie bringt keine besonderen Einsichten. Man kann sie zwar<br />

als Anfangsimpulse zur Zeit t = 0 wählen, doch da zu späteren Zeiten auch alle anderen Impulswerte<br />

der Energieschale auftreten, unterscheidet sich diese Trajektorie abgesehen vom Startpunkt nicht von<br />

anderenTrajektorienindieserImpulsschale.EinsolchesSystemistalsonichtintegrabel,d.h.dieHamilton-<br />

Jacobi-Gleichung kann nicht gelöst werden. (Wir schließen wieder den ganz speziellen Fall aus, dass die<br />

Trajektorie sich so ordentlich durch den Phasenraum bewegt, dass sie auf einen 2n − 1-dimensionalen<br />

Torus transformiert werden kann.)<br />

Wenn es neben der Energie weitere Erhaltungsgrößen gibt, können wir die Energieschalen unterteilen<br />

in Schalen niedrigerer Dimension, die jeweils zu bestimmten Werten der Erhaltungsgrößen gehören. Trajektorien<br />

bleiben dann jeweils in derjenigen Unterschale gefangen, in der sie gestartet sind. Wenn es n<br />

unabhängigeErhaltungsgrößengibt,sind die Trajektorienineinem n-dimensionalenUnterraumgefangen.<br />

110


Systeme mit n unabhängigen Erhaltungsgrößen sind also potenzielle Kandidaten für integrable Systeme,<br />

in denen die Hamilton-Jacobi-Gleichunglösbar ist. Noch mehr unabhängige Erhaltungsgrößenzu fordern,<br />

macht keinen Sinn, denn n = 3N − k ist die Zahl der räumlichen Koordinaten des Systems, und diese<br />

hatten wir schon so gewählt, dass alle Zwangbedingungen berücksichtigt sind. Wenn eine Trajektorie in<br />

einem Unterraum des Phasenraums gefangen ist, der eine Dimension kleiner als n hat, bedeutet dies, dass<br />

sie nicht alle räumlichen Dimensionen sehen kann. Also hat man von Anfang an mehr räumliche Koordinaten<br />

als nötig gewählt. Diesen Fall wollen wir daher ausschließen. Dann gibt es maximal n unabhängige<br />

Erhaltungsgrößen.<br />

Wir werden später an einem Beispiel sehen, dass auch, wenn es außer der Energie keine weiteren Erhaltungsgrößengibt,<br />

Trajektorienin n-dimensionalenUnterräumengefangensein können, doch typischerweise<br />

gibt es neben diesen Trajekorien auch solche, die einen 2n−1-dimensionalen Teil des Phasenraums<br />

überdecken.<br />

12.4.2 Von der Gefährlichkeit hyperbolischer Fixpunkte und instabiler periodischer<br />

Bahnen<br />

Nachdem wir geklärt haben, unter welchen Bedingungen Trajektorien in n-dimensionalen Unterräumen<br />

des Phasenraums gefangen sind, fragen wir als nächstes, wie das durch die Hamiltonschen Gleichungen<br />

(11.10) gegebene Vektorfeld beschaffen sein muss, damit eine kanonische Transformation eines zusammenhängenden,<br />

endlichen Teils des Phasenraums von der ursprünglichen Form (11.10) auf eine freie<br />

Bewegung, also auf ein Vektorfeld der Form<br />

˙x = konst<br />

möglich ist. Hierzu betrachten wir nochmal das Phasenraumportrait des Pendels:<br />

Wir sehen, dass es zwei Sorten von Trajektorien gibt: diejenigen, bei denen das Pendel in einem<br />

begrenzten Winkelbereich hin- und herschwingt, und diejenigen, bei denen das Pendel überschlägt und<br />

sich immer in derselben Richtung dreht. Diese beiden Sorten von Trajektorien unterscheiden sich durch<br />

ihre Energiewerte. Im Energieintervall [−mgl,mgl[ schwingt das Pendel hin und her, im Energiebereich<br />

E > mgl überschlägt es sich. Diese beiden Bereiche sind durch die Trajektorien zu E = mgl voneinander<br />

getrennt. Diese Trajektorien sind sogenannte heterokline Trajektorien, die zwei hyperbolische Fixpunkte<br />

miteinander verbinden, indem sie aus dem einen Fixpunkt in seiner instabilen Eigenrichtung herauslaufen<br />

und in den anderen Fixpunkt aus der stabilen Eigenrichtung einmünden. Es ist anschaulich klar, dass<br />

man für jeden dieser beiden Energiebereiche eine Transformation auf eine gleichförmige Bewegung auf<br />

einem eindimensionalen “Torus” (also einem Kreis) machen kann.<br />

In dem ersten Energiebereich, in dem das Pendel hin- und herschwingt, haben wir eine ähnliche<br />

Situation wie beim harmonischen Oszillator, für den wir diese Transformation explizit gemacht haben.<br />

Die neue Koordinate Q = ωt läuft gleichförmig von 0 nach 2π, während das Pendel von der Ruhelage<br />

zunächst nach rechts zum maximalen Ausschlag, dann nach links zum maximalen Ausschlag auf der<br />

anderen Seite, und zurück zum Nulldurchgang schwingt.<br />

111


Im anderen Energiebereich, in dem das Pendel überschlägt, ist die neue Koordinate Q einfach eine in<br />

der Zeit geeignet gestreckte und gestauchte Funktion ϕ(t), so dass Q gleichförmig in der Zeit anwächst<br />

(oder abfällt).<br />

Die spezielle Trajektorie, die diese beiden Energiebereiche trennt, lässt sich nicht auf diese Weise<br />

transformieren. Der Grund hierfür ist der hyperbolische Fixpunkt, dem sich die Trajektorie im Limes<br />

t → ∞ immer mehr annähert, und an dem die Länge des Pfeils, der die Geschwindigkeit der Trajektorien<br />

im Phasenraum angibt, Null ist. Bei einer Bewegung auf einem Torus ist die Geschwindigkeit überall von<br />

Null verschieden und die Richtung der Bewegung an jedem Punkt eindeutig.<br />

Wir folgern also: die Transformation eines durch einen endlichen Energiebereich gegebenen Teils des<br />

Phasenraums auf eine gleichförmige Bewegung ist unmöglich, wenn dieser Teil des Phasenraums hyperbolische<br />

Fixpunkte enthält. Elliptische Fixpunkte sind harmloser, da sie als ein auf die Größe Null<br />

geschrumpfter Torus angesehen werden können. Hyperbolische Fixpunkte haben noch eine weitere wichtige<br />

Eigenschaft: Wenn man in ihrer unmittelbaren Umgebung ist und in der instabilen Eigenrichtung<br />

rausläuft, entfernt sich die Trajektorie für kleine Zeiten gemäß einer Exponentialfunktion von dem Fixpunkt.<br />

BeimPendel(undbeiallenanderenzeitunabhängigeneindimensionalenSystemen)istdieExistenzvon<br />

hyperbolischen Fixpunkten harmlos, da sie nur einen einzigen Energiewert betreffen (bzw. für allgemeine<br />

eindimensionale Systeme eine endliche Anzahl von Energiewerten in jedem endlichen Energieintervall).<br />

Für die Energiebereiche unterhalb und oberhalb der Energie des hyperbolischen Fixpunkts (oder, wenn<br />

es mehrere solcher Fixpunkte gibt, für die Energiebereiche zwischen den Fixpunkten) ist eine kanonische<br />

Transformation auf Tori möglich. Das System ist also integrabel, benötigt aber für verschiedene Bereiche<br />

des Phasenraums verschiedene Transformationen.<br />

In höherdimensionalen Systemen ist die Situation komplexer. Auch hier kann keine kanonische Transformation<br />

auf eine freie Bewegung durchgeführt werden, wenn der betrachtete Bereich des Phasenraums<br />

hyperbolische Fixpunkte (also Fixpunkte mit stabilen und instabilen Eigenrichtungen) enthält. Doch es<br />

gibt noch weitere gefährliche Objekte in höherdimensionalen Systemen, nämlich instabile periodische<br />

Trajektorien. Ebenso wie Fixpunkte bilden die Punkte einer periodischen Bahn eine invariante Menge<br />

im Phasenraum. Wenn wir uns nun noch bewusst machen, dass solche invarianten Mengen nach einer<br />

kanonischen Transformation mit der Erzeugenden W(q,α) wieder eine invariante Menge sein müssen,<br />

aber dass ein Torus keine instabilen periodischen Bahnen enthält, folgt, dass Phasenraumbereiche, die<br />

instabile periodische Bahnen enthalten, nicht auf eine freie Bewegung transformiert werden können.<br />

All diese Überlegungen führen uns also zu der Schlussfolgerung, dass die Hamilton-Jacobi-Gleichung<br />

lösbar ist, also dass die Dynamik sich auf eine freie Bewegung transformieren lässt, wenn es n Erhaltungsgrößen<br />

gibt und wenn es innerhalb der Phasenraumbereiche, die gemeinsam transformiert werden sollen,<br />

keine instabilen periodischen Bahnen oder Fixpunkte gibt. Damit sind wir vorbereitet für den Satz von<br />

Liouville über integrable Systeme und für den Nachweis, dass nicht integrable Systeme typischerweise<br />

chaotisch sind.<br />

Aufgaben<br />

1. Führen Sie eine kanonische Transformation mit der Erzeugenden G = <br />

i qiPi durch. Wie interpretieren<br />

Sie dieses Ergebnis?<br />

2. Zeigen Sie, dass die Transformation Qi = pi, Pi = −qi, K(Q,P,t) = H(−P,Q,t) kanonisch<br />

ist. Wie interpretieren Sie dieses Ergebnis?<br />

3. (a) Stellen Sie die Hamilton-Jacobi-Gleichung für das Zentralkraftproblem<br />

auf.<br />

H = 1<br />

<br />

p<br />

2m<br />

2 r<br />

112<br />

pϕ<br />

+<br />

r2 <br />

+V(r)


(b) Separieren Sie zunächst die Zeit ab, so dass Sie eine partielle Differenzialgleichung für W<br />

bekommen. Setzen Sie α1 = E und machen Sie den Ansatz W(r,ϕ,E,α2) = W1(r,E,α2) +<br />

W2(ϕ,E,α2). Warum funktioniert dieser Ansatz?<br />

(c) Formen Sie diese Gleichung so um, dass auf der einen Seite keine ϕ-Abhängigkeit und auf der<br />

anderen Seite keine r-Abhängigkeit ist.<br />

(d) Da die rechte und linke Seite von verschiedenen Variablen abhängen, müssen sie gleich einer<br />

Konstanten sein. Identifizieren Sie diese mit α2 und schreiben Sie die resultierenden Ausdrücke<br />

für W1 und W2 auf. Diese Ausdrücke dürfen noch einfache Integrale enthalten.<br />

(e) Finden Sie einen Zusammenhang zwischen pϕ und α2.<br />

(f) Schreiben Sie das somit erhaltene Ergebnis für S auf und berechnen Sie daraus Ausdrücke für<br />

die neuen Koordinaten β1 und β2.<br />

113


Kapitel 13<br />

Integrable und nicht integrable<br />

Systeme<br />

In diesem Kapitel behandeln wir den Satz von Liouville, der eine hinreichende Bedingung für die Integrabilität<br />

eines Systems liefert. Außerdem zeigen wir, dass ein integrablesSystem sofortnichtintegrabel wird,<br />

wenn man zu seiner Hamiltonfunktion einen kleinen Term addiert, der nicht dieselben Erhaltungsgrößen<br />

hat.<br />

13.1 Der Satz von Liouville über integrable Systeme<br />

Der Satz von Liouville besagt, dass ein räumlich beschränktes Hamiltonsches System mit n Freiheitsgraden<br />

integrabel ist, wenn es n Funktionen Ii(q,p) gibt, die von den Koordinaten und Impulsen, aber nicht<br />

von der Zeit abhängen und folgende drei Eigenschaften haben:<br />

1. Die Funktionen Ii(q,p) sind Erhaltungsgrößen.<br />

2. Alle ihre Poissonklammern verschwinden, d.h.<br />

für alle Paare i,j. Man sagt auch, die Ii sind in Involution.<br />

3. Ihre totalen Differenziale<br />

dIi =<br />

[Ii,Ij] = 0 (13.1)<br />

n<br />

<br />

∂Ii<br />

dqk +<br />

∂qk<br />

∂Ii<br />

<br />

dpk<br />

∂pk<br />

k=1<br />

sind linear unabhängig, d.h. der Rang der n×2n Koeffizientenmatrix (∂Ii/∂qk,∂Ii/∂pk) ist n.<br />

Die erste und dritte Eigenschaft sind notwendig, damit der Phasenraum in n-dimensionale Mannigfaltigkeiten<br />

zerlegtwerden kann, die jeweils zu konstanten Werten der Erhaltungsgrößengehören. Die zweite<br />

Eigenschaft ist nötig, damit innerhalb dieser Mannigfaltigkeiten die Erzeugende W(p,I) der kanonischen<br />

Transformation auf eine freie Bewegung konstruiert werden kann. Dann folgt, dass diese Mannigfaltigkeiten<br />

Tori sind. Wir zeigen dies, indem wir die Funktion W konstruieren.Sie ist nämlich wegen W = S+Et<br />

und <br />

S = ( <br />

<br />

pi˙qi −E)dt = ( <br />

<br />

<br />

pidqi −Edt) = pidqi −Et<br />

gegeben durch<br />

i<br />

W(q,I) =<br />

i<br />

q<br />

q0<br />

<br />

i<br />

114<br />

i<br />

pi(q ′ ,I)dq ′ i . (13.2)


Der Integrationsweg ist innerhalb der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit zu den angegebenen Werten I<br />

zu nehmen. Die Funktion W(q,I) ist wohldefiniert, wenn sie unabhängig vom Integrationsweg ist. Wir<br />

müssen also zeigen, dass der Wert des Integrals sich nicht ändert, wenn wir den Weg bei festem Anfangsund<br />

Endpunkt kontinuierlich deformieren. Dies folgt daraus, dass alle Poissonklammern zwischen den Ii<br />

verschwinden, wie wir im Folgenden skizzieren:<br />

Wir können ein infinitesimales Wegelement dq innerhalb der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit dadurch<br />

erzeugen, dass wir die Hamiltonschen Gleichungen über eine infinitesimale Zeit dt anwenden. Dies<br />

gibt<br />

dq (1) = (∂H/∂p)dt<br />

und eine damit verbundene Änderung des Impulses<br />

dp (1) = −(∂H/∂q)dt.<br />

Wir können außerdem n−1 davon linear unabhängige infinitesimale Wegelemente dadurch erzeugen, dass<br />

wir die n−1 anderen Erhaltungsgrößen jeweils wie eine Hamiltonfunktion behandeln, also<br />

dq (j) = (∂Ij/∂p)dτj<br />

und<br />

dp (j) = −(∂Ij/∂q)dτj<br />

setzen, für j = 2,...,n (den Index j = 1 haben wir ja schon für die Hamiltonfunktion, also die Erhaltungsgröße<br />

Energie vergeben). Weil die Poissonklammern der Erhaltungsgrößen verschwinden, ändern<br />

sich die Werte der Erhaltungsgrößen nicht, wir bleiben also innerhalb derselben Mannigfaltigkeit, wenn<br />

wir ein solches Wegelement konstruieren. (Dies zeigt man ganz genau so wie die Rechnung (11.6).) Also<br />

können wir die Wegelemente des Integrationswegs in (13.2) als Linearkombination der q (j) ausdrücken.<br />

Wir können einen gegebenen Integrationsweg beliebig genau dadurch nähern, dass wir in einer richtig<br />

gewählten Reihenfolge die Ij jeweils infinitesimale Wegelemente erzeugen lassen. Das Integral in (13.2)<br />

ist unter stetigen Deformationen des Integrationswegs genau dann invariant, wenn die Reihenfolge der<br />

infinitesimalen Schritte vertauscht werden darf. Dies zeigen wir für zwei aufeinanderfolgende Schritte<br />

dq (j) und dq (k) : Wenn wir von einem Ausgangspunkt (q0,p0) zuerst Ij über eine infinitesimale “Zeit” dτj<br />

anwenden, und dann Ik über eine infinitesimale “Zeit” dτk, erhalten wir einen Beitrag<br />

dW = p(q0, I)·dq (j) +(p(q0, I)+dp (j) )dq (k) = p(q0, I)·dq (j) +p(q0, I)dq (k) +dp (j) dq (k)<br />

zum Integral. Wenn wir die umgekehrte Reihenfolge wählen, lautet der letzte Term dp (k) )dq (j) . Nun ist<br />

aber<br />

dp (j) dq (k) = − ∂Ij<br />

∂q<br />

∂Ik<br />

∂p dτjdτk = − ∂Ik ∂Ij<br />

∂q ∂p dτjdτk = dp (k) dq (j) .<br />

Im vorletzten Schritt haben wir verwendet, dass die Poissonklammer [Ij,Ik] verschwindet. Wir haben<br />

also gezeigt, dass dW unabhängig von der Reihenfolge der beiden Schritte ist. (Diese ganze Rechnung ist<br />

nichts anderes als der Satz von Stokes in n Dimensionen.)<br />

13.2 Wirkungs- und Winkelvariablen<br />

Beim Nachweis der Eindeutigkeit der Funktion W haben wir eine Sache ignoriert: Es gibt nämlich Integrale<br />

<br />

i<br />

pi(q ′ ,I)dq ′ i<br />

auf dem Torus, die nicht verschwinden. Dies sind die Integrale über Wege um den Torus herum, die sich<br />

nichtstetigaufeinenPunktzusammenziehenlassen.Esgibtnverschiedenenichtineinanderdeformierbare<br />

Wege Cj. Also gibt es auch n verschiedene Integrale<br />

Jj ≡ 1<br />

2π<br />

<br />

Cj<br />

<br />

pi(q,I)dqi, (13.3)<br />

i<br />

115


die den Torus charakterisieren. Man nennt sie Wirkungsvariablen.<br />

Diesbedeutet, dassW dochnichteindeutigdefiniertist, damanzwischenzweiPunktenaufdem Torus<br />

Integrationswege nehmen kann, die sich in ihrer Windungszahl um den Torus in jeder der n Dimensionen<br />

unterscheiden können. Doch dies spiegelt nur die Tatsache wider, dass auch die Qj nur bis auf Vielfache<br />

von 2π∂K/∂Ij eindeutig sind.<br />

Da die Wirkungsvariablen einen Torus eindeutig charakterisieren, müssen sie sich als Funktionen der<br />

ErhaltungsgrößenIi schreibenlassen.Diesbedeutet,dasssieselbstErhaltungsgrößensind.Wirhättenvon<br />

Anfang an als neue verallgemeinerte Impulse P in der Erzeugenden W der kanonischen Transformation<br />

statt der I die Variablen J wählen können. Die entsprechenden verallgemeinerten neuen Koordinaten Qi<br />

nennen wir Winkelvariablen θi, und diese genügen den Beziehungen<br />

und der Bewegungsgleichung<br />

θi = ∂W(q,J)<br />

∂Ji<br />

(13.4)<br />

˙θi = ∂K(J)<br />

≡ ωi = konst.<br />

∂Ji<br />

(13.5)<br />

Wir können die den Torus charakterisierenden Integrale (13.3) auch in den neuen Koordinaten berechnen.<br />

Wir erhalten dann<br />

Jj ≡ 1<br />

<br />

2π<br />

<br />

Jidθi.<br />

Cj<br />

WennwirdiegeschlosseneKurveCj alsWegvon(θ1,...,θj,...θn) = (0,...,0,...,0)nach(θ1,...,θj,...θn) =<br />

(0,...,2π,...,0)nehmen,erhaltenwirdieIdentitätJj = Jj,wieesseinmuss.DieWirkungsvariablensind<br />

also eindeutig und verändern sich nicht unter einer kanonischen Transformation. Der Vorfaktor 1/(2π)<br />

vor dem Integral (13.3) führt dazu, dass die θi bei einer Umrundung des Torus genau um 2π anwachsen,<br />

also als echte Winkel verstanden werden können.<br />

13.3 Eine kleine Änderung von H kann ein System nichtintegrabel<br />

machen<br />

Nun beginnen wir mit einem integrablen System in der Formulierung mit Wirkungs- und Winkelvariablen<br />

und mit einer (zeitunabhängigen) Hamilton-Funktion H0, aber addieren eine kleine “Störung” ǫH1, die<br />

z.B. die bisher vernachlässigten Effete der Umgebung des betrachteten Systems auf die Dynamik dieses<br />

Systems beinhaltet:<br />

H(θ,J) = H0(J)+ǫH1(θ,J).<br />

In der Darstellung durch Wirkungs- und Winkelvariable hängt H0 nur von den J ab, weil die Hamiltonfunktion<br />

H ja identisch mit K(J) ist. Wenn H1 explizit von den θ abhängt, hat das durch H beschriebene<br />

System keine n Erhaltungsgrößenmehr. Wir zeigen im Folgenden, dass das System dann auch nicht mehr<br />

integrabel ist. solche Überlegungen wurden übrigens schon um das Jahr 1890 durch Henri Poincaré angestellt.<br />

Wir versuchen, eine kanonische Transformation auf neue Variablen J ′ ,θ ′ zu finden, so dass die<br />

Hamilton-Funktion nur von J ′ abhängt. Wenn es uns gelingt, ist das neue System integrabel, aber wenn<br />

wir zeigen können, dass es keine solche Transformation gibt, ist das System nicht integrabel.<br />

Die zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung für die gesuchte Transformation lautet<br />

<br />

∂W<br />

H<br />

∂θ ,θ<br />

<br />

= H(J ′ ).<br />

Wir entwickeln W in Potenzen von ǫ und behalten in der folgenden Rechnung nur die Terme bis zur<br />

linearen Ordnung in ǫ:<br />

W = W(θ,J ′ ) = θJ ′ +ǫW1(θ,J ′ )+... .<br />

116<br />

i


(Bemerkung: Das Produkt θJ ′ ist zu lesen als θ · J ′ bzw. <br />

iθiJ ′ i<br />

. Der Einfachheit halber lassen wir<br />

in dieser Rechnung die Vektorpfeile bzw. Summierungen und Laufindizes weg.) Der erste Term in der<br />

vorigen Gleichung ist derjenige, den man für H1 = 0 hätte, und er macht eine kanonische Transformation,<br />

bei der die alten und neuen Variablen identisch sind.<br />

Wenn man den Ausdruck für W in die zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung einsetzt, erhält<br />

man<br />

H(J ′ <br />

) ≃ H0 J ′ +ǫ ∂W1<br />

<br />

+ǫH1 θ,<br />

∂θ<br />

∂W1<br />

<br />

≃ H0(J<br />

∂θ<br />

′ )+ǫ ∂H0<br />

∂J ′<br />

∂W1<br />

∂θ +ǫH1(θ,J ′ ).<br />

Die von θ abhängigen Terme verschwinden in der Ordnung ǫ, wenn<br />

∂H0<br />

∂J ′<br />

∂W1<br />

∂θ<br />

≡ ω∂W1<br />

∂θ = −H1(θ,J ′ )<br />

ist. Um dies zu lösen, entwickeln wir W1 und H1 in einer Fourierreihe in θ (denn θ hat ja die Periode 2π):<br />

W1(θ,J ′ ) = <br />

W1,n(J ′ )e in·θ<br />

n=0<br />

H1(θ,J ′ ) = <br />

n=0<br />

H1,n(J ′ )e in·θ<br />

(13.6)<br />

wobei n = (n1,n2,...) ist (mit ganzzahligen ni). Der Summand n = 0 tritt nicht auf, da er in H1<br />

nur einen konstanten und damit überflüssigen Beitrag zur Energie macht, und da er in W1 wegen der<br />

Ableitung nach θ sowieso keine Auswirkung hat. Damit erhalten wir das Ergebnis<br />

W(J ′ ,θ) = θ·J ′ +iǫ <br />

Man sieht, dass der Beitrag proportional zu ǫ nicht immer klein ist, da er für<br />

n=0<br />

ω ·n = 0<br />

divergiert. Für ein System mit zwei Freiheitsgraden bedeutet dies<br />

ω1n1 +ω2n2 = 0<br />

H1,n(J ′ )<br />

n·ω(J ′ ) ein·θ . (13.7)<br />

bzw.<br />

ω1<br />

= −<br />

ω2<br />

n2<br />

.<br />

n1<br />

Für rationale Frequenzverhältnisse gibt es also Resonanzen, die die Störungstheorie kaputt machen, so<br />

dass das System in diesem Fall nicht mit Hilfe der Störungstheorie integriert werden kann.<br />

DieamAnfangdieserRechnunggemachteAnnahme,dasseinekleineÄnderungvonH zueinerkleinen<br />

Änderung der Trajektorien führt, erweist sich also als falsch. Früher hoffte man, dass die gefundenen<br />

Resonanzen durch Terme, die in höherer Ordnung in ǫ kommen (wir haben ja nur bis zur ersten Ordnung<br />

gerechnet), möglicherweise kompensiert werden, oder dass man einen anderen Ansatz finden kann, um<br />

das durch H0+ǫH1 gegebene mechanische Problem zu lösen. Doch heute wissen wir, dass dies i.A. nicht<br />

möglich ist. Das KAM-Theorem und das Poicaré-Birkhoff-Theorem(aus Kapitel 14) werden das deutlich<br />

machen.<br />

13.4 Das KAM-Theorem<br />

Wir haben im vorigen Abschnitt gesehen, dass rationale Tori durch H1 zerstört werden, weil Resonanzen<br />

auftreten. Nun fragen wir, was mit irrationalen Tori passiert. Werden sie nur deformiert, oder werden sie<br />

auch zerstört? Das kommt darauf an, wie “nah” das irrationale Frequenzverhältnis an rationalen Zahlen<br />

117


ist, wie das KAM-Theorem zeigt, das wir im Folgenden in seiner einfachsten Version behandeln. KAM<br />

steht hierbei für die drei Namen Kolmogorov (1954), Arnold (1963) und Moser (1967). Diese Personen<br />

stellten Bedingungen dafür auf, dass die störungstheoretische Rechnung konvergierende Summen ergibt.<br />

Das betrifft sowohl die Summation der Fourierkomponenten, als auch die Summation der Terme jeder<br />

Ordnung in ǫ. Bei der Begründung des Theorems befassen wir uns hier nur mit der ersten Sorte von<br />

Summe. Wir geben das KAM-Theorem hier für 2 Freiheitsgrade an. Die allgemeine Formulierung kann<br />

in der Originalliteratur gefunden werden.<br />

Das KAM-Theorem besagt, dass wenn die Jacobi-Determinante der Frequenzen nicht Null ist, also<br />

wenn (det∂ωi/∂Jj) = 0 ist, diejenigen Tori, deren Frequenzverhältnis für alle rationalen Zahlen m/s die<br />

Ungleichung <br />

ω1<br />

ω2<br />

− m<br />

s<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

> k(ǫ)<br />

s 2.5<br />

(13.8)<br />

erfüllt, stabil sind unter der Störung ǫH1, solange ǫ genügend klein ist. k(ǫ) ist hierbei eine stetige<br />

Funktion, die für ǫ → 0 verschwindet.<br />

Wir zeigen zunächst, dass diejenigen Frequenzverhältnisse, die die Bedingung (13.8) erfüllen, ein<br />

nichtverschwindenes Maß haben. Die Gesamtlänge aller Intervalle in 0 ≤ ω1/ω2 ≤ 1, für die (13.8) nicht<br />

gilt, erfüllt die Ungleichung<br />

L < 2<br />

∞<br />

s=1<br />

k(ǫ)<br />

·s = 2k(ǫ)<br />

s2.5 ∞<br />

s −1.5 = konst.·k(ǫ) → 0<br />

s=1<br />

für ǫ → 0. (Der Faktor s kommt daher, dass es s verschiedene Werte von m gibt, und der Faktor 2 kommt<br />

daher, dass der Ausdruck in den Betragsstrichen in (13.8) positiv oder negativ sein kann.)<br />

Dies bedeutet, dass diejenigen Frequenzverhältnisse, für die die ursprüngliche Bewegung auf dem<br />

Torus durch die Störung nur leicht verändert wird, ein Maß 1−konst.·k(ǫ) haben. Für genügend große<br />

ǫ werden schließlich alle Tori zerstört. Der letzte Torus, der zerstört wird, entspricht der “irrationalsten<br />

Zahl” ( √ 5−1)/2.<br />

Um die Konvergenz des Ausdrucks für W1 zu begründen, betrachten wir die Summe in (13.7) für<br />

einen irrationalen Torus mit den Frequenzen ω1 > 0 und ω2 > 0, die die Bedingung (13.8) erfüllen, und<br />

zeigen, dass sie konvergiert. Es ist<br />

<br />

<br />

ω1<br />

n2<br />

ω1<br />

n2<br />

|ω1n1 +ω2n2| ≥ |n1|ω2<br />

−<br />

<br />

<br />

≥ ω2<br />

−<br />

<br />

k(ǫ)<br />

<br />

≥ ω2<br />

und folglich<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

H1,n<br />

n·ω<br />

n=0<br />

ein·θ<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

=<br />

=<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

ω2<br />

<br />

n1<br />

n mit ω·n>0<br />

<br />

n mit ω·n>0<br />

≤ <br />

≤<br />

n mit ω·n>0<br />

1<br />

ω2k(ǫ)<br />

ω2<br />

n1<br />

H1,ne in·θ −H1,−ne −in·θ<br />

n·ω<br />

2ℑH1,nein·θ <br />

<br />

<br />

<br />

n·ω <br />

<br />

2ℑH1,nein·θ <br />

n·ω<br />

n mit ω·n>0<br />

|n1| 2.5<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

2ℑH1,ne in·θ |n1| 2.5 . (13.9)<br />

Das Symbol ℑ steht für den Imaginärteil. Der letzte Term in (13.7) ist klein, wenn das Ergebnis (13.9)<br />

multipliziert mit ǫ klein ist. Dies ist der Fall, wenn die Summe konvergiertund k(ǫ) entsprechend gewählt<br />

wird. Die Summe konvergiert, wenn die Fourierkomponenten von H1 für große n1 und n2 mindestens<br />

wie 1/(n 3.5<br />

1 n2) abfallen. Wenn sie stärker abfallen, kann statt des Exponenten 2.5 ein größerer Exponent<br />

gewählt werden, und wir können für noch mehr Tori zeigen, dass sie nicht zerstört werden. Allgemein<br />

versucht man jeweils, die Abschätzungen möglichst gut auf das konkrete System zuzuschneiden.<br />

118


13.5 Was bedeutet das anschaulich?<br />

Wir haben gesehen, dass Tori mit rationalen Frequenzverhältnissen, also mit geschlossenen, periodischen<br />

Bahnen, durch eine Störung kaputt gemacht werden. Dies können wir uns anschaulich plausibel machen:<br />

Eine geschlossene Bahn kommt immer wieder an genau derselben Stelle im Phasenraum vorbei. Dort<br />

spürt sie die Störung H1 immer auf die gleiche Weise. Also kann H1 bei jedem Umlauf die Bahn ein<br />

Stück weiter in derselben Richtung ablenken. Im Laufe der Zeit addieren sich diese kleinen Änderungen<br />

zu einer großen Änderung der Bahn auf. Bei einer quasiperiodischen Bahn ist dies anders, da die Bahn ja<br />

nicht immer wieder dieselben Punkte im Phasenraum durchläuft. Wenn die quasiperiodische Bahn jedoch<br />

nah an einer periodischen ist, kommt sie mehrfach nahe an demselben Punkt vorbei, bevor sie in andere<br />

Bereiche des Phasenraums geht. Je kürzer die Periode der Bahn (also je kleiner s in (13.8)) ist und je<br />

stärker die Störung (also je größer ǫ) ist, desto eher schafft die Störung es, auch eine quasiperiodische<br />

Bahn stark zu ändern. Dies ist das anschauliche Ergebnis des KAM-Theorems.<br />

Wir können dies auch auf unser Sonnensystem anwenden: Wir betrachten die Störung der Bahn eines<br />

Objekts A (z.B. ein Asteroid) durch einen Planeten B (z.B. Jupiter). Um die Störung zeitunabhängig zu<br />

machen, setzen wir uns in ein Bezugssystem, das mit Jupiter wandert. Aus Sicht dieses Bezugssystem<br />

ist der Planet auf einer quasiperiodischen Bahn mit zwei Frequenzen, die sich aus dem Umlaufzeiten von<br />

A und B ergeben. Wenn die Umlaufzeiten der beiden Himmelskörper um die Sonne in einem rationalen<br />

Verhältnis zueinander stehen, sagen wir 3:1, dann sieht der Asteroid bei jedem dritten Umlauf den<br />

Jupiter wieder an derselben Stelle und wird durch ihn in derselben Richtung abgelenkt. Diese kleinen<br />

Störungen, die immer in derselben Richtung wirken, können sich über Jahrmillionen soweit aufaddieren,<br />

dass der Asteroid aus seiner Bahn geworfen wird. Genau dies ist auch in der Vergangenheit passiert, und<br />

man findet im Asteroidengürtel die sogenannten “Kirkwood”-Lücken bei Umlaufzeiten, die in Resonanz<br />

mit der Umlaufzeit des Jupiter stehen, wie in diesem Bild gezeigt, das auf der Wikipedia-Seite zum<br />

Asteroidengürtel zu finden ist:<br />

Auch die Lücken in den Ringen des Saturn kann man so erklären. Dort wo die Lücken sind, steht<br />

die Umlaufdauer der Teilchen in einem rationalen Verhältnis (mit niedrigem s) zur Umlaufdauer eines<br />

Saturn-Mondes.<br />

119


Aufgaben<br />

1. Betrachten Sie die in den folgenden Teilaufgaben genannten mechanischen Systeme mit zeitunabhängigerHamiltonfunktion<br />

und mit konservativenKräften und holonomen, skleronomenZwangsbedingungen<br />

(bzw. ohne Zwangsbedingungen), die wir dieses Semester gelöst haben. Finden Sie zu<br />

jedem dieser Systeme n Erhaltungsgrößen, die in Involution miteinander stehen.<br />

(a) Der Skifahrer (Kapitel 1)<br />

(b) Das Teilchen im Kreiskegel<br />

(c) Das Rollpendel<br />

(d) Das Kepler-Problem (Kapitel 7)<br />

2. Betrachten Sie das Zentralkraftproblem.<br />

(a) Diskutieren Sie folgende Behauptung: Die Wirkungsvariablen des Zentralkraftproblems sind<br />

gegeben durch<br />

Jϕ = 1<br />

<br />

pϕdϕ = pϕ<br />

2π<br />

und<br />

Jr = 1<br />

<br />

2π<br />

prdr = 1<br />

rmax <br />

2m(E −Veff(r))dr<br />

π rmin<br />

mit Veff(r) = p2<br />

ϕ<br />

2mr 2 +V(r).<br />

(b) Eigentlich ist n = 3 für das Zentralkraftproblem. Wo bleibt die dritte Dimension und die dritte<br />

Wirkungsvariable?<br />

(c) Berechnen Sie für das Kepler-Problem explizit Jr als Funktion von E. Ermitteln Sie daraus<br />

den Zusammenhang E(Jr,Jϕ), und aus diesem die Frequenzen ωr und ωϕ. Wie interpretieren<br />

Sie das Ergebnis ωr = ωϕ?<br />

120


Kapitel 14<br />

Das Entstehen von Chaos:<br />

Poincaré-Birkhoff-Theorem und<br />

gekickter Rotator<br />

14.1 Instabile Tori und das Poincaré-Birkhoff-Theorem<br />

Was passiert, wenn Tori zerstört werden? Hierauf gibt das Poincaré-Birkhoff-Theorem (1935) eine Antwort.<br />

Wir betrachten wieder den Fall n = 2, in dem die Tori zweidimensional sind, und wir konzentrieren<br />

uns auf die Umgebung eines rationalen Torus. Wir werden zeigen, dass der ursprüngliche rationale Torus<br />

beim Einschalten der Störung in kleinere Tori zerfällt. Zwischen diesen Tori ist die Bewegung vollständig<br />

irregulär.<br />

Dies lässt sich am besten mit einer Poincaré-Abbildung veranschaulichen. Wir legen in Gedanken ein<br />

Blatt Papier durch den Torus, so dass ein Schnitt in Form eines Kreises entsteht. (Einen Kreis gibt es,<br />

solange wir H1 = 0 wählen.) Wir betrachten eine Trajektorie auf diesem Torus. In Zeitabständen T2 =<br />

2π/ω2 kommt die Trajektorie durch unsere Schnittebene durch. Jedes Mal ist sie um einen Winkel T2·ω1<br />

versetzt. Wir erhalten also eine Folge von Durchstoßpunkten der Trajektorie durch unsere Schnittebene.<br />

Wenn der Torus rational ist (ω1/ω2 = m/s), dann ist der Durchstoßpunkt Nummer s+1 identisch mit<br />

Nummer 1. Für irrationale Tori überdecken im Lauf der Zeit die Durchstoßpunkte den Kreis.<br />

Nun betrachten wir nicht nur einen Torus, sondern alle Tori innerhalb eines gewissen Intervalls von<br />

Werten der Wirkungsvariablen. In der Schnittebene bilden diese Tori dann einen konzentrischen Satz von<br />

Kreisen, deren Radius kontinuierlich von der Wirkungsvariablen J1 abhängt.<br />

Die Abfolge von Durchstoßpunkten einer Trajektorie durch die Schnittebene können wir in Polarkoordinaten<br />

durch eine diskrete Abbildung M darstellen, die definiert ist durch die beiden Beziehungen<br />

ri+1 = ri = r(t = i· 2π<br />

)<br />

θi+1 = θi +2π ω1<br />

ω2<br />

ω2<br />

= θi +2πα(r). (14.1)<br />

Für ein rationales Verhältnis α ≡ (ω1/ω2) = m/s ist jeder Punkt auf dem Kreis ein Fixpunkt der s-fach<br />

iterierten Abbildung M s .<br />

Nun addieren wir eine Störung ǫH1. Weil wir wieder ǫ als klein betrachten, können wir die geänderte<br />

Abbildung, die wir mit Mǫ bezeichnen, durch eine Taylorentwicklung bis zur ersten Ordnung in ǫ nähern:<br />

ri+1 = ri +ǫf(ri,θi)<br />

θi+1 = θi +2πα(ri)+ǫg(ri,θi). (14.2)<br />

121


Weil wirvoneinem stetigemH1 ausgehen,nehmen wirauchan,dassf und g stetigeFunktionen sind. Was<br />

können wir über die Fixpunkte von (Mǫ) s sagen? Um dies zu diskutieren, untersuchen wir den Fall, dass<br />

α(r) stetig mit r anwächst. (Der umgekehrte Fall, dass α(r) stetig mit r abfällt, lässt sich ganz analog<br />

behandeln.) Dazu betrachten wir zunächst alle Punkte mit demselben Winkel θi und verschiedenem<br />

Radius ri. Diejenigen mit einem kleinen ri (so dass α(ri) < m/s ist) werden von der Abbildung M s im<br />

Uhrzeigersinn gedreht (θi+1 < θi), während diejenigen mit einem großen ri (so dass α(ri) > m/s ist) von<br />

der Abbildung M s gegen den Uhrzeigersinn gedreht werden (θi+1 > θi). Diejenigen mit dem Radius, der<br />

zuα(ri) = m/sgehört,werdenaufsichselbstabgebildet.Wenn dieStörungeingeschaltetwird(unddamit<br />

M s durch (Mǫ) s ersetzt wird), werden für genügend kleine ǫ ebenfalls die Punkte (ri,θi) zu kleineren ri<br />

im Uhrzeigersinn gedreht, während die Punkte zu genügend großen ri gegen den Uhrzeigersinn gedreht<br />

werden.Im GegensatzzurungestörtenAbbildung kannsichhierbeiderRadius ändern.Irgendwozwischen<br />

den kleinen und großen ri muss es einen Punkt (Rǫ(θi),θi) geben, der unter der Abbildung (Mǫ) s seinen<br />

Winkelerhält.DiesesArgumentgiltfürjedenWinkelθi,sodassesfürjedenWinkelθi einensolchenPunkt<br />

gibt, dessen Winkel sich unter (Mǫ) s nicht ändert. Also gibt es eine geschlossene Kurve von Punkten,<br />

die unter (Mǫ) s ihren Winkel nicht ändern (siehe Abb. 14.1). Nun betrachten wir diese Kurve samt der<br />

s<br />

M ε(R<br />

ε)<br />

R ε<br />

Abbildung 14.1: Die Kurve Rǫ derjenigen Punkte, die unter der Abbildung (Mǫ) s nicht ihren Winkel<br />

ändern, und die Kurve (Mǫ) s (Rǫ).<br />

Kurve (Mǫ) s (Rǫ). Diese beiden Kurven können nicht identisch sein, da dies ja bedeuten würde, dass der<br />

rationale Torus nicht zerstört wird. Beide Kurven müssen dieselbe Fläche einschließen. Daraus folgt, dass<br />

sie sich an einer geraden Anzahl von Stellen schneiden. Die Schnittpunkte, die auf beiden Kurven Rǫ und<br />

(Mǫ) s (Rǫ) liegen, sind Fixpunkte von (Mǫ) s . Wir betrachten nun die Umgebung dieser Schnittpunkte:<br />

(Abb.14.2). Man sieht, dass abwechselnd elliptische Fixpunkte (Zentren) und hyperbolische Fixpunkte<br />

Abbildung 14.2: Man erhält abwechselnd elliptische und hyperbolische Fixpunkte.<br />

(Sattelpunkte)auftreten.UmeinenelliptischenFixpunktgibtesgeschlosseneTrajektorien.Diesbedeutet,<br />

122


dass der elliptische Fixpunkt von Tori umgeben ist.<br />

Wir haben also folgendes Szenario: Durch das Einschalten einer Störung ǫH1 werden alle rationalen<br />

Tori zerstört.Ein Torusdes Frequenzverhältnissesm/swarin der diskreten Abbildung, die wir betrachtet<br />

haben, ein Ring, auf dem alle Punkte die Periode s haben. Nach Zerstörung des Torus gibt es noch<br />

(mindestens) eine stabile Trajektorie der Periode s und eine instabile Trajektorie der Periode s. Um<br />

jeden Punkt der stabilen Trajektorie gibt es einen neuen Satz von Tori. Hier können wir nun das KAM-<br />

Theorem und das Poincaré-Birkhoff-Theoremwieder anwenden: In dem Satz von neuen Tori darf es auch<br />

keine rationalen Tori geben. Statt ihrer gibt es eine stabile und eine instabile periodische Trajektorie. Um<br />

die Punkte der stabilen Trajektorie gibt es wieder Tori, aber die rationalen Tori sind auch hier zerstört<br />

und durch weitere stabile und instabile Trajektorien ersetzt, etc... Wir erhalten also eine selbstähnliche<br />

Struktur, die auf allen Skalen zu finden ist.<br />

Zum Schluss diskutieren wir noch die Rolle der hyperbolischen Fixpunkte. Die Trajektorien, die in<br />

ihrer Nähe beginnen, werden von ihnen abgestoßen. Aber sie können nicht sehr weit wandern, da sie in<br />

radialer Richtung zwischen den benachbarten nicht zerstörten Tori eingesperrt sind und in tangentialer<br />

Richtung den elliptischen Fixpunkten nicht zu nahe kommen können. In der Umgebung der hyperbolischen<br />

Fixpunkte bewegen sich die Trajektorien chaotisch und füllen den ihnen zugänglichen Phasenraum<br />

aus. Um einen genaueren Eindruck von den Trajektorien in der Nähe der hyperbolischen Fixpunkte zu<br />

bekommen, betrachten wir die zu diesem Fixpunkt gehörige stabile und instabile Mannigfaltigkeit. Die<br />

stabile Mannigfaltigkeit ist die Linie all derjenigen Punkte, die unter der Iteration in den Fixpunkt hineinlaufen.<br />

Die instabile Mannigfaltigkeit sind all diejenigen Punkte, die unter einer Rückwärtsiteration in<br />

den Fixpunkt laufen. Man kann diese Mannigfaltigkeiten dadurch konstruieren, dass man mit demjenigen<br />

Teil der Mannigfaltigkeit beginnt, der sich in unmittelbarer Nähe (zum Beispiel innerhalb eines Abstands<br />

ǫ) des Fixpunktes befindet. Unter wiederholter Vorwärtsiteration (bzw. Rückwärtsiteration) aller Punkte<br />

auf diesem Linienstück erhält man dann die instabile (bzw. stabile) Mannigfaltigkeit. Eine Mannigfaltigkeit<br />

kann sich nicht selbst schneiden, denn sonst hätte ein Punkt ja zwei Vorgänger bzw. Nachfolger,<br />

was bei einer deterministischen Dynamik nicht möglich ist. Die instabile Mannigfaltigkeit kann unter<br />

Vorwärtsiteration entweder in der Nähe des Fixpunktes bleiben oder auf einen benachbarten Fixpunkt<br />

zulaufen. Im ersten Fall schneidet sie irgendwann die stabile Mannigfaltigkeit des eigenen Fixpunktes.<br />

Man nennt einen solchen Schnittpunkt einen homoklinen Punkt. Wenn es einen Schnittpunkt gibt, gibt<br />

es aber unendlich viele. Der Grund ist, dass sich der Schnittpunkt unter der Iteration wieder auf einen<br />

Schnittpunkt abbildet. Dies kann nicht derselbe Schnittpunkt sein, da wir sonst eine periodische Bahn<br />

hätten, was im Wiederspruch damit ist, dass jeder Punkt der Mannigfaltigkeiten unter einer Vorwärts-<br />

(bzw. Rückwärts-) Iteration in den hyperbolischen Fixpunkt läuft. Es gibt also eine unendliche Folge<br />

von Schnittpunkten, die sich in beiden Iterationsrichtungen dem Fixpunkt nähern. Abb. 14.3 zeigt den<br />

qualitativen Verlauf der beiden Mannigfaltigkeiten. Wenn die instabile Mannigfaltigkeit eines Fixpunk-<br />

3<br />

2<br />

H 0<br />

Abbildung 14.3: Die stabile und instabile Mannigfaltigkeit eines hyperbolischen Fixpunktes H, wenn sie<br />

sich schneiden. Der Schnittpunkt 0 der beiden Mannigfaltigkeiten und die ersten drei seiner vorwärts<br />

Iterierten sind gekennzeichnet.<br />

1<br />

123


tes unter Vorwärtsiteration auf einen benachbarten Fixpunkt zuläuft, schneidet sie sich irgendwann mit<br />

der stabilen Mannigfaltigkeit des Nachbarfixpunktes. In diesem Fall spricht man von einem heteroklinen<br />

Punkt, und es gibt ebenfalls unendlich viele Schnittpunkte.<br />

Diese Überlegungen zeigen uns, dass chaotische Bereiche in der Umgebung hyperbolischer Fixpunkte<br />

auftreten. Dies passt sehr gut mit unserer Beobachtung im letzten Kapitel zusammen, dass Phasenraumbereiche,<br />

die hyperbolische Fixpunkte enthalten, nicht integrabel sind. Das Poincaré-Birkhoff-Theorem<br />

zeigt uns nun, dass es in dem durch H0+ǫH1 beschriebenen System keinen Bereich im Phasenraum gibt,<br />

in dem es keinen hyperbolischen Fixpunkt gibt. Denn beliebig nah an einem irrationalen Torus befinden<br />

sich immer auch rationale Tori... Also gibt es für ein nicht integrables System keine stückweise stetig<br />

differenzierbare erzeugende Funktion W(q,P), die eine globale Transformation des Phasenraums auf eine<br />

freie Bewegung macht.<br />

Was wir (im Poincaré-Schnitt) als hyperbolische Fixpunkte identifiziert haben, sind im kontinuierlichen<br />

System instabile periodische Bahnen. Chaotische Bereiche sind dicht von solchen instabilen periodischen<br />

Bahnen durchsetzt. Wir haben in Kapitel 11 gesehen, dass in der Nähe eines hyperbolischen<br />

Fixpunktes (und analog in der Nähe einer instabilen periodischen Bahn) der Abstand einer Trajektorie<br />

zu diesem Fixpunkt exponenziell in der Zeit anwächst, wenn man längs der instabilen Eigenrichtung<br />

herausläuft. Dies ist letztlich die Ursache für die fundamentale Eigenschaft chaotischer Bewegung, dass<br />

sich benachbarte Trajektorien exponenziell schnell voneinander entfernen, solange ihr Abstand klein ist.<br />

14.2 Beispiel: Der gekickte Rotator<br />

Das Standardbeispiel für Hamiltonsches Chaos ist der gekickte Rotator. Dies ist ein rotierender Stab der<br />

Länge l und des Trägheitsmoments I, der an einem Ende reibungsfrei gelagert ist. Wenn keine Kraft auf<br />

ihn wirkt, rotiert er also mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ˙ θ. Der frei rotierende Stab liegt daher mit<br />

der Winkelvariablen θ und der Wirkungsvariablen pθ (Drehimpuls) schon automatisch in der durch die<br />

Hamilton-Jacobi-Gleichung angestrebten einfachen Form einer freien Bewegung vor.<br />

Nun gibt man dem Stab zu Zeiten t = τ,2τ,... einen Stoß der ImpulsstärkeK/l in einer vorgegebenen<br />

Richtung. Die Hamiltonfunktion lautet<br />

H(pθ,θ,t) = p2θ 2I +Kcosθ δ(t−nτ),<br />

n<br />

wobei der erste Tern die kinetische Energie aufgrund der Rotationsbewegung ist und der zweite Term<br />

dafür sorgt,dass der Drehimpuls zu Zeiten nτ durch die Stöße jeweils eine Änderung um den Wert Ksinθ<br />

bekommt, wie die Bewegungsgleichungen zeigen:<br />

dpθ<br />

dt<br />

dθ<br />

dt<br />

= Ksinθ δ(t−nτ)<br />

= pθ<br />

I<br />

n<br />

. (14.3)<br />

DerDrehimpulspθ ändertsichalsodiskontinuierlichzudenZeitennτ,wobeiderKraftstoßin+x-Richtung<br />

geht, so dass die Drehimpulsänderung für θ = ±π am größten ist.<br />

Dies ist eigentlich kein System mit zeitunabhängigem Hamilton-Operator, wie wir sie die ganze Zeit<br />

betrachtet haben. Doch diese Art von zeitabhängiger Störung ist die einfachste Art, Chaos in möglichst<br />

niedrigen Dimensionen zu erzeugen. Wenn wir das System immer nur zu diskreten Zeiten betrachten (wie<br />

bei einer Beobachtung mit dem Stroboskop), bekommen wir dasselbe Szenario, wie wenn wir durch einen<br />

zweidimensionalen Torus eines zeitunabhängigen Systems einen Poincaré-Schnitt machen.<br />

Wir gehen also von den kontinuierlichen Gleichungen zu einer diskreten Abbildung über. Seien pn und<br />

θn der Drehimpuls und der Winkel unmittelbar nach dem n-ten Stoß. Integration der Gleichungen (14.3)<br />

124


über den Stoß und die Vereinfachung τ/I = 1 gibt<br />

pn+1 −pn = Ksinθn+1<br />

θn+1 = (θn +pn) mod 2π. (14.4)<br />

Diese diskrete Abbildung nennt man oft die Standardabbildung. Die Fläche im Phasenraum bleibt unter<br />

dieser Abbildung erhalten, denn es ist<br />

<br />

<br />

∂θn+1/∂θn ∂θn+1/∂pn 1 1<br />

det<br />

= det<br />

= 1.<br />

∂pn+1/∂θn ∂pn+1/∂pn Kcosθn+1 1+Kcosθn+1<br />

Die nächsten drei Abbildungen zeigen die Trajektoriender Standardabbildung für verschiedene Werte des<br />

ParametersK.DerAnfangswertderImpulsewurdeimmerimIntervall[0,2π[gewählt.DadieImpulsesich<br />

auch aus diesem Intervall herausbewegen (um so weiter, je größer K ist), haben wir in den Abbildungen<br />

immer p mod 2π aufgetragen. Für K = 0 ist das System integrabel, und man sieht nur reguläre Tori, die<br />

sich als waagrechte Bänder durch das Bild ziehen.<br />

Mit zunehmendem K zerfallen immer mehr Tori und gibt es immer größere chaotische Regionen. Bei<br />

K ≃ 0.97 zerfällt der letzte ursprüngliche Torus. Für genügend große K füllt vermutlich eine einzige<br />

Trajektorie den ganzen Phasenraum gleichmäßig aus.<br />

14.3 Konsequenzen aus der Existenz von Chaos<br />

Wir haben also gesehen, dass ein nichtverschwindender Anteil des Phasenraums mechanischer Systeme,<br />

dienichtdie strengenBedingungenfürIntegrabilitäterfüllen, auschaotischenTrajektorienbesteht. Chaos<br />

zeichnet sich dadurch aus, dass benachbarte Trajektorien exponentiell schnell in der Zeit auseinanderlaufen,<br />

was dazu führt, dass kleinste Veränderungen der Anfangsbedingungen schon nach recht kurzer<br />

Zeit zu völlig verschiedenem Bahnverlauf führen. Da Anfangsbedingungen prinzipiell nur mit endlicher<br />

Genauigkeit festgelegt oder gemessen werden können, sind chaotische Systeme nur über einen begrenzten<br />

Zeithorizont vorhersagbar. Diese Erkenntnis kam seit den 1960er Jahren, als man anfing, Bewegungsgleichungen<br />

mit den ersten Computern zu integrieren. Doch es dauerte noch 20 Jahre, bis klar wurde, ein<br />

wie generelles und weit verbreitetes Phänomen Chaos ist. Die Erforschung chaotischer Dynamik ist auch<br />

heute ein sehr aktives Forschungsgebiet, auf dem wegen der schwierigen mathematischen Beschreibung<br />

und der Vielfalt der Phänomene immer noch viele neue Erkenntnisse gewonnen werden können.<br />

Als Fazit sei ein Abschnitt aus dem Buch “The Transition to Chaos” von Linda Reichl (S. 3) zitiert,<br />

der 300 Jahre nach der Veröffentlichung von Newtons principia eine Bilanz im Lichte der Erkenntnisse<br />

der Chaostheorie zieht:<br />

“Thebelief that Newtonian mechanicsis a basisfor determinism wasformallylaid to restby Sir James<br />

Lighthill in a lecture to the Royal Society on the three hundredth anniversary of Newton’s Principa.<br />

In his lecture Lighthill says ...I speak ...once again on behalf of the global fraternity of practitioners<br />

of mechanics. We are all deeply conscious today that the enthusiasm of our forebears for the marvelous<br />

achievements of Newtonian mechanics led them to make generalizations in this area of predictability which,<br />

indeed, we may have generally tended to believe before 1960, but which we now recognize were false. We<br />

collectively wish to apologize for having misled the general educated public by spreading ideas about the<br />

determinism of systems satisfying Newton’s laws of motion that, after 1960, were proved incorrect...”<br />

125


Abbildung 14.4: Trajektorien der Standardabbildung für K = 0,0.3,0.6 (von oben nach unten).<br />

126


Abbildung 14.5: Trajektorien der Standardabbildung für K = 0.8 und 0.97 (von oben nach unten). Die<br />

mittlere Abbildung ist ein Zoom in die für K = 0.8.<br />

127


Abbildung 14.6: Trajektorien der Standardabbildung für K = 1.6, 2.5 und 5 (von oben nach unten). Die<br />

dritte Abbildung zeigt eine der beiden einzigen Inseln.<br />

128


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