Klassische Mechanik
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Kapitel 1<br />
Grundlagen: Newtonsche <strong>Mechanik</strong><br />
1.1 Einleitung<br />
Mit der Entwicklung der klassischen <strong>Mechanik</strong> begann die moderne Physik. Die klassische <strong>Mechanik</strong><br />
befasst sich mit der Vorhersage der Bewegung materieller Körper. Die wesentlichen Grundlagen wurden<br />
von Isaak Newton im 17. Jahrhundert gelegt und haben bis heute ihre Gültigkeit. Allerdings muss<br />
man sich dabei auch bewusst machen, dass die Gültigkeit der Newtonschen <strong>Mechanik</strong> nicht universell<br />
ist. Wenn die Geschwindigkeiten sehr groß werden, wird die Newtonsche <strong>Mechanik</strong> durch die spezielle<br />
Relativitätstheorie ersetzt. Wenn die Entfernungen kosmische Ausmaße annehmen, benötigt man die<br />
allgemeine Relativitätstheorie. Wenn umgekehrt die Entfernungen auf atomare Skalen kommen, muss<br />
man die Quantenmechanik anwenden. Und wenn die Teilchenzahlen von der Größenordnung 10 23 sind<br />
und die Teilchen sich chaotisch bewegen, benötigt man zur Beschreibung makroskopischer Variablen die<br />
statistische <strong>Mechanik</strong>.<br />
In diesem ersten Kapitel wiederholen wir nach einem historischen Rückblick die wesentlichen Elemente<br />
der Newtonschen <strong>Mechanik</strong>, die schon von der Experimentalphysik I und der Einführung in die<br />
Theoretische Physik vertraut sind. Da viele Aufgaben in der Newtonschen <strong>Mechanik</strong>, insbesondere wenn<br />
Zwangsbedingungen vorliegen, recht aufwändig zu lösen sind, hat man schon recht bald nach Newton<br />
andere Formulierungen der klassischen <strong>Mechanik</strong> entwickelt, in denen sich diese Probleme leichter lösen<br />
lassen. Gleichzeitig gewähren diese Formulierungen tiefere Einblicke in die Eigenschaften der klassischen<br />
<strong>Mechanik</strong>, und sie enthalten wichtige Konzepte und Prinzipien, die auch in anderen Gebieten der Theoretischen<br />
Physik eine zentrale Rolle spielen. Mit diesen anderen Formulierungen der <strong>Mechanik</strong>, mit allgemeinen<br />
Prinzipien, und mit speziellen Themen werden wir uns in den weiteren Kapiteln dieser Vorlesung<br />
befassen.<br />
1.2 Kleiner historischer Überblick<br />
Einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der klassischen <strong>Mechanik</strong> leistete die Astronomie und das Bestreben,<br />
die Planetenbahnen zu verstehen. Schon in der Antike wurde vereinzelt ein heliozentrisches<br />
Weltbild vertreten, so z.B. von Aristarch von Samos (ca 310-230 v. Chr.), der auch beeindruckende Überlegungen<br />
zur Berechnung von Größe und Abstand von Sonne und Mond anstellte. Das heliozentrische<br />
Weltbild konnte sich aber nicht gegen das von Ptolemäus (85-165 n.Chr.) vertretene geozentrische Weltbild<br />
behaupten. Ein wichtiger Grund hierfür war die fehlende Fixsternparallaxe (das ist eine scheinbare<br />
Veränderung der Position der Fixsterne am Himmel im Jahresverlauf). Ptolemäus beschrieb die Planetenbahnen<br />
durch Epizyklen (Kreisbahnen auf Kreisbahnen) und konnte unter Verwendung von mehr<br />
als 80 solcher Kreise eine beeindruckend große Genauigkeit in der Vorhersage der Planetenbewegung erzielen.<br />
Das Ptolemäische Weltbild war fester Bestandteil der mittelalterlichen Weltsicht und war durch<br />
viele plausible Argumente untermauert. Als Kopernikus (1473-1543) das heliozentrische Weltbild vor-<br />
3
schlug, gab es daher lange anhaltenden Widerstand. Es dauerte deutlich länger als 100 Jahre, bis das<br />
heliozentrische Weltbild anfing sich durchzusetzen. Kopernikus und andere Vertreter dieses Weltbilds<br />
argumentierten mit der größeren Einfachheit (man benötigte nur noch 34 Kreise) und dem grösseren Erklärungspotenzial<br />
(mehrere unabhängige Fakten, wie z.B. die scheinbare Umlaufdauer der Planeten um<br />
die Erde und die generelle Gestalt der Bahnen, konnten nun durch eine gemeinsame Erklärung begründet<br />
werden). Die Gegner argumentierten wie schon in der Antike mit der fehlenden Fixsternparallaxe, dem<br />
Ruhen der Atmosphäre und mit der Beobachtung, dass senkrecht nach oben geworfene Steine wieder<br />
am Ausgangsort landen. Durch die Berechnungen von Johannes Kepler (1571-1630) und die Beobachtungen<br />
von Galileo Galilei (1564-1642) wurden die Argumente für das heliozentrische Weltbild immer<br />
stärker. Als schließlich Issac Newton (1642-1727) die Planetenbahnen aus der Gravitationskraft zwischen<br />
der Sonne und den Planeten, verbunden mit dem Newtonschen Bewegungsgesetz, ableiten konnte, war<br />
kein Widerstand gegen das heliozentrische Weltbild mehr möglich. Interessant an all diesen historischen<br />
Entwicklungen ist auch, dass sowohl die Vertreter des ptolemäischen Weltbildes, als auch die des heliozentrischen<br />
Weltbildes ihre Überzeugungen mit religiösen Argumenten untermauerten. Meist weiß man<br />
nur um den Widerstand der katholischen Kirche gegen Galilei. Doch dies gibt einen falschen Eindruck<br />
von dem sehr komplexen Verhältnis zwischen Christentum und Wissenschaft. Als positives Beispiel kann<br />
man Johannes Kepler anführen. Seine Suche nach den Gesetzen der Planetenbewegung war durch seinen<br />
Glauben motiviert. Er war nämlich davon überzeugt, dass Gott ein großer Mathematiker ist und die Welt<br />
deshalb nach mathematischen Gesetzen geschaffen hat, und dass der Mensch, weil er Gottes Ebenbild ist,<br />
diese Gesetze herausfinden kann.<br />
1.3 Grundlegende Begriffe der Newtonschen <strong>Mechanik</strong><br />
Die grundlegenden Variablen in der Newtonschen <strong>Mechanik</strong> sind Raum r und Zeit t, Masse m und Kraft<br />
F .<br />
Der Raum ist bei Newton dreidimensional, unbegrenzt und euklidisch. Körper können in diesem Raum<br />
ruhen oder sich in ihm bewegen. Die Zeit ist bei Newton eine absolute Zeit, die für jeden Beobachter<br />
gleich schnell dahinströmt.<br />
Wie wir heute wissen, ist die Vorstellung eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit nicht<br />
zutreffend. Dies lehrt uns, dass die Vorstellungen über das Wesen der Welt, die man sich aufgrund einer<br />
Theorie macht, falsch sein können, auch wenn die mit dieser Theorie durchgeführten Berechnungen richtig<br />
sind.<br />
1.4 <strong>Mechanik</strong> eines Teilchens<br />
In vielen Fällen ist es ausreichend, die Bewegung eines Körpers als Bahn eines Massepunktes zu beschreiben.<br />
Wenn allerdings Rotationen oder Deformationen wichtig werden, muss der Körper als ausgedehntes<br />
Objekt beschrieben werden.<br />
Eine Bahnkurve wird durch einen Vektor r(t) beschrieben.<br />
Der entsprechende Geschwindigkeitsvektor v = ˙ r ≡ dr<br />
dt ist tangential zur Bahnkurve und berechnet sich<br />
als<br />
r(t) − r(t − ∆t)<br />
v(t) = lim<br />
∆t→0 ∆t<br />
4
Der Beschleunigungsvektor ist a = ˙ v = ¨ r ≡ d2 r<br />
dt 2<br />
Das Newtonsche Bewegungsgesetz besagt: Es gibt Bezugssysteme (Inertialsysteme), in denen die Bewegung<br />
eines Teilchens der Masse m beschrieben wird durch<br />
F = dp<br />
dt<br />
Hierbei ist p ≡ mv der Linearimpuls. Seine zeitliche Änderung ist<br />
d<br />
= (mv) (1.1)<br />
dt<br />
d<br />
(mv) = ˙mv + ma ,<br />
dt<br />
woraus F = ma folgt, wenn m konstant ist (was wir in der nichtrelativistischen <strong>Mechanik</strong> immer annehmen).<br />
In einem Intertialsystem bewegt sich folglich ein kräftefreies Teilchen geradlinig und mit konstanter<br />
Geschwindigkeit:<br />
m ¨ r = 0 ⇒ r(t) = r(0) + v(0)t<br />
Anmerkung: Über Kräftefreiheit zu entscheiden, ist oft nicht trivial.<br />
Das 1. Newtonsche Axiom besagt, Jeder Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder gleichförmig<br />
”<br />
geradlinigen Bewegung, solange keine Kraft auf ihn einwirkt“. Damit postuliert Newton die Existenz von<br />
Intertialsystemen. Das Bewegungsgesetz F = dp<br />
dt wird als 2. Axiom bezeichnet. Dieses gilt ebenso wie das<br />
erste Gesetz nur in Inertialsystemen.<br />
Das Newtonsche Bewegungsgesetz legt für eine gemessene Beschleunigung nur das Verhältnis von<br />
| F | zu m fest, definiert also weder F noch m. Die Bestimmung von m und damit F wird durch das 3.<br />
Axiom ( actio = reactio“) möglich: Die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von<br />
” ”<br />
entgegengesetzter Richtung“.<br />
Übt Teilchen 1 auf Teilchen 2 die Kraft F21 aus, so gilt dann:<br />
m1 ¨ r1 = F12 = − F21 = −m2 ¨ <br />
¨r1<br />
<br />
<br />
r2 ⇒ m2 = <br />
¨r2<br />
Dies erlaubt die Bestimmung einer Masse m2 als Vielfaches einer bekannten (oder als Norm verwendeten)<br />
Masse m1.<br />
Weitere Basisgrößen sind die Längeneinheit Meter (m) und die Zeiteinheit Sekunde (s). Außerdem<br />
gibt es eine Reihe von aus den Basisgrößen abgeleiteten Größen, wie zum Beispiel die Krafteinheit Newton<br />
(N = kg m<br />
s 2 ).<br />
m1<br />
Aus den Newtonschen Gesetzen lassen sich mehrere Erhaltungssätze ableiten:<br />
1. Linearimpuls p: Wenn die Gesamtkraft Null ist, bleibt der lineare Impuls erhalten:<br />
dp<br />
dt = F = 0 ⇒ p = const<br />
2. Drehimpuls L eines Teilchens um einen Punkt 0: Der Drehimpuls ist definiert als<br />
L ≡ r × p . (1.2)<br />
5
Der Drehimpuls ändert sich, wenn ein Drehmoment<br />
angreift:<br />
d L<br />
dt<br />
Also ist d L<br />
dt = 0, wenn N = 0 ist.<br />
N ≡ r × F (1.3)<br />
d dr dp<br />
= (r × p) = × p + r × = v × p +r ×<br />
dt dt dt <br />
=0<br />
F = N .<br />
3. Gesamtenergie T+V:<br />
Zunächst berechnen wir die an einem Teilchen geleistete Arbeit längs einer Kurve C<br />
<br />
W12 =<br />
C<br />
F · dr (1.4)<br />
Das Kurvenintegral geht in ein gewöhnliches Integral über, falls die im Zeitintervall [t1, t2] durchlaufene<br />
Kurve durch r(t) mit<br />
dr(t) = dr(t)<br />
dt = v(t)dt<br />
dt<br />
beschrieben wird (v ≡ |v|):<br />
W12 =<br />
Damit ist<br />
r2<br />
r1<br />
F (r(t), v(t), t) · dr ≡<br />
t2<br />
gleich der Änderung der kinetischen Energie<br />
t1<br />
<br />
F (r(t), v(t), t) · v(t)dt = m<br />
W12 = m<br />
2 (v2 2 − v 2 1) ≡ T2 − T1<br />
t1<br />
t2<br />
dv<br />
dt<br />
· v(t)dt = m<br />
2<br />
t2<br />
t1<br />
d<br />
dt (v2 (t))dt .<br />
(1.5)<br />
T ≡ m<br />
2 v2 . (1.6)<br />
Wir betrachten im Folgenden Kraftfelder F (r), die nicht von der Geschwindigkeit abhängen. Ein<br />
solches Kraftfeld ist konservativ, wenn<br />
<br />
F (r) · dr = 0 (1.7)<br />
C<br />
ist für jede geschlossene Kurve C. Für konservative Kräfte hängt die Arbeit nicht vom Weg ab, wie<br />
folgende Rechnung zeigt:<br />
<br />
F · dr = C1<br />
<br />
F · dr + C1−C2<br />
<br />
<br />
F · dr = F · dr + C2<br />
<br />
=0<br />
<br />
F · dr<br />
C2<br />
Mit Hilfe des Stokesschen Satzes kann die Bedingung (1.7) geschrieben werden als ∇ × F = 0. Da<br />
die Rotation von Gradienten verschwindet, gilt<br />
Das skalare Feld V (r) heißt Potenzial oder potenzielle Energie.<br />
F (r) = − ∇V (r) . (1.8)<br />
6
Wer lieber zu Fuß rechnet mit explizit ausgeschriebenen Vektorkomponenten, kann folgende Beziehungen<br />
benutzen: Wir verwenden zeitlich konstante orthogonale Einheitsvektoren ex, ey, ez bzgl.<br />
eines Ursprungs. Damit ist<br />
⎛<br />
r = xex + yey + zez = ⎝ x<br />
⎞<br />
y⎠<br />
z<br />
und<br />
und<br />
⎛<br />
∇ × F = ⎝<br />
∇V (r) =<br />
∂<br />
∂x<br />
∂<br />
∂y<br />
∂<br />
∂z<br />
⎞<br />
⎠ ×<br />
⎛<br />
⎝ Fx<br />
Fy<br />
Fz<br />
⎞<br />
⎛<br />
⎠ ⎜<br />
= ⎝<br />
∂Fz<br />
∂y<br />
∂Fx<br />
∂z<br />
∂Fy<br />
∂x<br />
− ∂Fy<br />
∂z<br />
− ∂Fz<br />
∂x<br />
− ∂Fx<br />
∂y<br />
<br />
∂V (r)<br />
∂x ex<br />
∂V (r)<br />
+ ∂y ey<br />
∂V (r)<br />
+ ∂z ez<br />
<br />
=<br />
Wir drücken schließlich die oben berechnete Arbeit für konservative Kraftfelder durch das Potenzial<br />
aus:<br />
t2<br />
t2<br />
t2<br />
W12 = F · v(t)dt = − ∇V · v(t)dt = − ( d<br />
dt V )dt = −(V (r2) − V (r1)) .<br />
t1<br />
t1<br />
t1<br />
⎛<br />
⎝<br />
⎞<br />
⎟<br />
⎠<br />
∂V<br />
∂x<br />
∂V<br />
∂y<br />
∂V<br />
∂z<br />
Den vorletzten Schritt können wir mit Hilfe der Kettenregel nachvollziehen:<br />
Also folgt schließlich<br />
⎞<br />
⎠ .<br />
d ∂V dx ∂V dy ∂V dz<br />
V (r(t)) = + +<br />
dt ∂x dt ∂y dt ∂z dt ≡ ∇V · dr<br />
dt .<br />
W12 = V1 − V2<br />
Daraus folgt mit (1.5) der Energieerhaltungssatz:<br />
W12 = T2 − T1 = V1 − V2 ⇔ T1 + V1 = T2 + V2<br />
Für konservative Kräfte ist die Summe aus kinetischer und potenzieller Energie konstant!<br />
Beispiel 1:<br />
Die Kraft F = (y, x2<br />
2m<br />
(1.9)<br />
(1.10)<br />
, x + z) N<br />
m bewege ein Teilchen zwischen den Punkten r1 = (2m, 0, 0) und<br />
r2 = (2m, 0, 4m).<br />
a) Berechne die geleistete Arbeit auf einer Geraden parallel zur z-Achse.<br />
b) Hängt die Arbeit von der Wahl des Weges zwischen den beiden Punkten ab?<br />
Lösung:<br />
a) Mit dem Einheitsvektor ez in z-Richtung gilt dr = ezdz und<br />
W =<br />
r2<br />
r1<br />
F · dr =<br />
4m<br />
0<br />
4m<br />
F (2m, 0, z) · ezdz = (2m + z) N<br />
1<br />
dz = (2mz +<br />
m 2 z2 ) N<br />
<br />
<br />
<br />
m <br />
0<br />
4m<br />
0<br />
= 16Nm<br />
b) Die Arbeit hängt genau dann nicht vom Weg ab, wenn das Kraftfeld konservativ ist. Dazu muss die<br />
Rotation des Kraftfeldes verschwinden, d. h. es müssen die Integrabilitätsbedingungen ∂Fi/∂rk = ∂Fk/∂ri<br />
(i, k = 1, 2, 3) erfüllt sein. Wir testen dies für i = x und k = y:<br />
∂Fx<br />
∂y<br />
N ∂Fy<br />
= =<br />
m ∂x<br />
7<br />
xN<br />
= .<br />
m2
Also existiert kein Potenzial, und das Linienintegral ist wegabhängig.<br />
Beispiel 2: Skifahrer<br />
Die Anfangsgeschwindigkeit sei v(t = 0) = v0 = 0. Was ist die Endgeschwindigkeit (ohne Reibung)?<br />
Lösung:<br />
Wir lösen diese Aufgabe mit Hilfe der Energieerhaltung. Wir haben nämlich mit F = mg ein konservatives<br />
Kraftfeld. Bei z = h gilt:<br />
E1 = T1 + V1 = V1 = mgh .<br />
Bei z = 0 gilt:<br />
Also folgt aus der Energieerhaltung:<br />
E2 = T2 + V2 = T2 = 1<br />
2 mv2 .<br />
mgh = 1<br />
2 mv2 ⇒ v = 2gh .<br />
Die Fallbeschleunigung beträgt im Mittel über die Erdoberfläche<br />
g = 9, 81 m<br />
.<br />
s2 1.5 <strong>Mechanik</strong> eines Systems von Teilchen<br />
Wir betrachten ein System aus N Teilchen, deren Orte und Massen wir mit ri und mi bezeichnen, mit<br />
i = 1, 2, . . . , N. Eine Kraft auf das Teilchen i heißt innere Kraft, wenn sie von einem anderen Teilchen<br />
j ausgeht, sonst heißt sie äußere Kraft ( F (ex) ). Hängt die innere Kraft, die zwei Teilchen aufeinander<br />
ausüben, nicht von der Anwesenheit eines dritten Teilchens ab, so heißt sie Zweikörperkraft, sonst<br />
Mehrkörperkraft.<br />
Für zentrale Zweikörperkräfte gilt für die vom Teilchen j auf Teilchen i ausgeübte Kraft (r = |r|):<br />
Fij(rij) = fij(rij) rij<br />
, rij ≡ ri − rj . (1.11)<br />
rij<br />
Beispiele für zentrale Zweikörperkräfte sind die Coulombkraft zwischen zwei Ladungen e1 und e2<br />
F12 = e1e2<br />
r 2 12<br />
und die Gravitationskraft zwischen zwei Massen m1 und m2<br />
r12<br />
r12<br />
F12 = −G m1m2<br />
r 2 12<br />
Hierbei ist G die Newtonsche Gravitationskonstante G 6, 673 · 10 −11 Nm 2 kg −2 .<br />
8<br />
r12<br />
r12<br />
(1.12)<br />
. (1.13)
Das Potenzial der Gravitationskraft ist<br />
V12 = −G m1m2<br />
. (1.14)<br />
Allgemein hängen die Potenziale Vij zu konservativen zentralen Zweikörperkräften Fij(r) = − ∇Vij(r)<br />
nur vom Abstandsbetrag r = |r| ab. Dies zeigen wir folgendermaßen:<br />
− ∇Vij(r) =<br />
<br />
∂<br />
−<br />
∂x Vij(r)ex + ∂<br />
∂y Vij(r)ey + ∂<br />
∂z Vij(r)ez<br />
=<br />
<br />
− dVij(r)<br />
<br />
∂r<br />
dr ∂x ex + ∂r<br />
∂y ey + ∂r<br />
∂z ez<br />
<br />
= fij(r) r<br />
r ≡ Fij(r)<br />
mit<br />
fij(r) = − dVij(r) ∂r ∂ x<br />
, = x2 + y2 + z2 =<br />
dr ∂x ∂x<br />
r etc.<br />
Für Mehrteilchensysteme gilt der Schwerpunktsatz, der Drehimpulssatz, und der Energiesatz, die wir<br />
im Folgenden herleiten.<br />
1.5.1 Schwerpunktsatz<br />
Den Schwerpunktsatz erhalten wir ausgehend von den Bewegungsgleichungen<br />
dpi<br />
dt = F (ex)<br />
i + <br />
j mit j=i<br />
r12<br />
Fij für i = 1, ..., N .<br />
Für innere Kräfte gilt Fij = − Fji (actio = reactio). Es ist Fii = 0. Also ist<br />
Wir definieren den Gesamtimpuls<br />
N<br />
i=1<br />
dpi<br />
dt =<br />
N<br />
i=1<br />
P =<br />
die gesamte äußere Kraft (z.B. die Gewichtskraft)<br />
die Gesamtmasse<br />
und den Ortsvektor des Schwerpunkts<br />
F (ex) =<br />
M =<br />
R = 1<br />
M<br />
F (ex)<br />
i<br />
+<br />
N<br />
pi ,<br />
i=1<br />
N<br />
i=1<br />
N<br />
i=1<br />
N<br />
i,j=1<br />
F (ex)<br />
i ,<br />
mi<br />
N<br />
miri .<br />
i=1<br />
9<br />
Fij<br />
<br />
=0<br />
(1.15)
Damit erhalten wir<br />
also<br />
P =<br />
N<br />
i=1<br />
mi ˙ ri = M d<br />
<br />
N<br />
<br />
1<br />
miri<br />
dt M<br />
i=1<br />
<br />
R<br />
Der Gesamtimpuls ist identisch mit dem Schwerpunktimpuls.<br />
Mit (1.15) folgt der Schwerpunktsatz<br />
P = M ˙ R . (1.16)<br />
˙P = M ¨ R = F (ex) . (1.17)<br />
Der Schwerpunkt bewegt sich so, als ob die gesamte Masse in ihm vereint wäre und alle äußeren Kräfte<br />
an ihm wirken würden.<br />
1.5.2 Drehimpulssatz<br />
Den Drehimpulssatz leiten wir ausgehend von der Formel für den Gesamtdrehimpuls L der N Teilchen<br />
her. Unter Verwendung von (1.2) ergibt sich<br />
N N<br />
L = Li = ri × pi . (1.18)<br />
Das äußere Gesamtdrehmoment N (ex) ist die Summe der einzelnen Momente (1.3):<br />
i=1<br />
N (ex) =<br />
Damit ist die Zeitableitung des Drehimpulses<br />
d L<br />
dt =<br />
=<br />
=<br />
N<br />
i=1<br />
d<br />
dt (ri × pi) =<br />
N<br />
i=1<br />
N<br />
i=1<br />
i=1<br />
ri × F (ex)<br />
i . (1.19)<br />
d<br />
<br />
ri × mi<br />
dt<br />
˙ <br />
ri<br />
N <br />
mi ˙ ri × ˙ ri +miri ×<br />
<br />
=0<br />
¨ ⎛<br />
⎞<br />
N<br />
N<br />
ri = ri × ⎝F (ex)<br />
i + Fij⎠<br />
i=1<br />
j=1<br />
N<br />
N<br />
+ (ri − rj) × Fij. (1.20)<br />
i=1<br />
i=1<br />
ri × F (ex)<br />
i<br />
i
wobei ri ′ die Darstellung des Ortsvektors in K ′ ist:<br />
ri ′ = <br />
Die Geschwindigkeiten transformieren sich gemäß<br />
und wir erhalten den Gesamtdrehimpuls<br />
L =<br />
i=1<br />
i<br />
ri ′ ei ′ . (1.23)<br />
vi = V + vi ′ , V = ˙ R (1.24)<br />
N<br />
N <br />
ri × pi = R + ri ′<br />
<br />
× V + vi ′<br />
mi<br />
i=1<br />
= R × N V M + miri ′<br />
× N<br />
V +<br />
i=1<br />
<br />
=0<br />
i=1<br />
mi (ri ′ × vi ′ )<br />
+ R × d<br />
<br />
N<br />
miri<br />
dt<br />
i=1<br />
′<br />
<br />
. (1.25)<br />
<br />
=0<br />
Da sich alle Vektoren ri ′ auf den Schwerpunkt beziehen, verschwindet N<br />
i=1 miri ′ (wegen N<br />
i=1 miri =<br />
M R + N<br />
i=1 miri ′ = M R), und wir erhalten<br />
L = L (Bahn) + L (Eigen) = R × P +<br />
N<br />
i=1<br />
ri ′ × pi ′<br />
(1.26)<br />
Der Gesamtdrehimpuls setzt sich also zusammen aus dem Drehimpuls des im Schwerpunkt konzentrierten<br />
Systems (Bahndrehimpuls) und dem Drehimpuls der Bewegung bezüglich des Massenzentrums<br />
(innerer oder Eigendrehimpuls). Wir schließen daraus, dass der Gesamtdrehimpuls vom Koordinatenursprung<br />
abhängt.<br />
1.5.3 Energiesatz<br />
Für zentrale Zweiteilchenkräfte können wir die Bewegungsgleichung des i-ten Teilchens schreiben als<br />
mi ¨ ri = − ∇i<br />
<br />
Vij + F (ex)<br />
i . (1.27)<br />
j mit j=i<br />
Das Symbol ∇i bedeutet hierbei den Gradienten bzgl. des Ortsvektors von Teilchen i. Multipliziert man<br />
die Gleichung skalar mit ˙ ri, so erhält man nach Summation über i<br />
N<br />
mi ˙ ri · ¨ ri = 1 d<br />
2 dt<br />
i=1<br />
= −<br />
Mit d<br />
dt V (r(t)) = ∇V · ˙ r ergibt sich<br />
1 d<br />
2 dt<br />
N<br />
i=1<br />
N<br />
i=1<br />
i
oder<br />
⎛<br />
d<br />
⎝<br />
dt<br />
N<br />
i=1<br />
1<br />
2 mi (vi) 2 +<br />
N<br />
i,j=1,i
(b) Berechnen Sie für allgemeine a und b die Arbeit, die das Feld leistet, wenn ein Teilchen sich<br />
geradlinig von (x, y) = (0, 0) über (0, 1) nach (1, 1) bewegt.<br />
(c) Geben Sie (ohne Rechnung) die Arbeit an, die das Feld leistet, wenn das Teilchen sich geradlinig<br />
von (0, 0) über (1, 0) nach (1, 1) bewegt. Welche Bedingung müssen a und b erfüllen, damit die<br />
Arbeit in beiden Fällen gleich ist?<br />
2. Ein Pendel der Masse m hängt an einer masselosen Stange der Länge l und ist so gelagert, dass es<br />
sich reibungsfrei um 360 Grad bzw 2π in der x − y-Ebene drehen kann. Die Gravitationskraft wirkt<br />
in −y-Richtung. Die Auslenkung aus der stabilen Ruhelage wird durch den Winkel ϕ beschrieben.<br />
(a) Drücken Sie den Drehimpuls L des Pendels um den Aufhängepunkt durch m, l und ˙ϕ aus.<br />
(b) Das Pendel wird anfangs in die instabile Gleichgewichtslage ϕ = π gebracht und aus der<br />
Ruhe losgelassen. Berechnen Sie mit dem Energieerhaltungssatz die Geschwindigkeit v und<br />
den Drehimpuls L beim Durchgang durch den Punkt ϕ = 0.<br />
(c) Nun wird das Pendel bei einer beliebigen Anfangsauslenkung ϕ0 losgelassen (mit Anfangsimpuls<br />
0). Drücken Sie unter Verwendung der Energieerhaltung die Schwingungsperiode T als<br />
Integral aus. Dieses Integral lässt sich näherungsweise berechnen, indem man kleine ϕ0 betrachtet<br />
und den Integranden bis zur vierten Ordnung in ϕ0 bzw ϕ entwickelt. Was ergibt sich<br />
daraus für die Schwingungsperiode T ?<br />
(d) Zeichnen Sie in der ϕ − Lz-Ebene alle qualitativ verschiedenen Trajektorien, die das Pendel<br />
nehmen kann. Man nennt ein solches Bild ein Phasenraumportrait.<br />
13
Kapitel 2<br />
Zwangsbedingungen und das<br />
d’Alembert-Prinzip<br />
2.1 Zwangsbedingungen<br />
Oft treten in der <strong>Mechanik</strong> Zwangsbedingungen auf, die den Newtonschen Bewegungsgleichungen<br />
mi ¨ ri = Fi, i = 1, . . . , N<br />
geometrische Einschränkungen auferlegen. Dadurch wird die Zahl der Freiheitsgrade verringert, und sie<br />
beträgt nicht mehr 3N.<br />
Es erweist sich als zweckmäßig, die Koordinaten so zu wählen, dass sie möglichst gut zu den Zwangsbedingungen<br />
passen. Kartesische Koordinaten sind längst nicht immer die beste Wahl. Wir führen sogenannte<br />
verallgemeinerte (“generalisierte”) Koordinaten ein. Dies dürfen beliebige Größen sein, die die<br />
Konfigurationen eines mechanischen Systems kennzeichnen können. Sie müssen nicht die Dimension einer<br />
Länge haben. Wir kennen von den Zylinder- und Polarkoordinaten schon die Winkel als verallgemeinerte<br />
Koordinaten. Allgemein notieren wir verallgemeinerte Koordinaten mit qj, j = 1, . . . , 3N. Die<br />
kartesischen Koordinaten lassen sich als Funktionen der qj und der Zeit schreiben:<br />
xi = xi(q1, . . . , q3N ; t), yi = yi(q1, . . . , q3N; t), zi = zi(q1, . . . , q3N; t) .<br />
2.1.1 Klassifizierung von Zwangsbedingungen<br />
Holonome Zwangsbedingungen<br />
Holonome Zwangsbedingungen haben für ein System, das durch 3N verallgemeinerte Koordinaten festgelegt<br />
ist, die Form<br />
fi(q1, . . . , q3N; t) = 0 , i = 1, . . . , k mit k ≤ 3N . (2.1)<br />
In differenzieller Form wird dies zu<br />
mit<br />
dfi = <br />
aijdqj + bidt = 0 , j = 1, . . . , 3N (2.2)<br />
j<br />
aij ≡ ∂fi<br />
, bi ≡<br />
∂qj<br />
∂fi<br />
∂t .<br />
Wenn Zwangsbedingungen nur in differenzieller Form gegeben sind, kann man erkennen, dass sie holonom<br />
sind, indem man die Integrabilitätsbedingungen überprüft. Es muss nämlich gelten<br />
∂ 2 fi<br />
∂ql∂qj<br />
≡ ∂aij<br />
∂ql<br />
= ∂ail<br />
∂qj<br />
≡ ∂2 fi<br />
∂qj∂ql<br />
14<br />
und ∂aij<br />
∂t<br />
∂bi<br />
= . (2.3)<br />
∂qj
Wenn es k holonome Zwangsbedingungen gibt, wird die Zahl der Freiheitsgrade auf 3N − k erniedrigt.<br />
Wir betrachten drei Beispiele:<br />
1. Starrer Körper: In einem starren Körper können sich die Abstände zwischen den Punkten nicht<br />
ändern. Seine Lage wird durch drei körperfeste Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen, eindeutig<br />
bestimmt. Diese drei Punkte haben feste Abstände |ri − rj| (mit i, j = 1, 2, 3) voneinander, so<br />
dass sie zusammen nicht 9 sondern nur 6 Freiheitsgrade haben. Dies ist somit auch die Zahl der<br />
Freiheitsgrade des starren Körpers.<br />
2. Zylinder mit Radius r, der auf einer Ebene rollt: Da der Zylinder die Richtung seiner Achse nicht<br />
ändern kann, betrachten wir einen zweidimensionalen Querschnitt, also eine Kreisscheibe, die auf<br />
einer Geraden rollt, die mit der x-Achse den Winkel α bildet. In einer zweidimensionalen Welt hat<br />
ein starrer Körper nur noch 3 Freiheitsgrade, für unsere Kreisschreibe sind dies z.B. die Koordinaten<br />
des Auflagepunkts (xA, yA) und der Rollwinkel ϕ. Die Zwangsbedingungen sind<br />
Es bleibt also ein Freiheitsgrad übrig.<br />
xA − rϕ cos α = 0 und yA − rϕ sin α = 0 . (2.4)<br />
3. Rutschende Perle auf rotierendem parabelförmigem Draht: Ein parabelförmiger Draht rotiere mit<br />
der Winkelgeschwindigkeit ω um die z-Achse. In Zylinderkoordinaten r, ϕ, z gelten für die Perle die<br />
folgenden Zwangsbedingungen:<br />
ϕ = ωt( oder ωt − π) und z − ar 2 = 0 . (2.5)<br />
Hierbei ist a die (positive) Krümmung der Parabel am Ursprung. Es bleibt also ein Freiheitsgrad<br />
übrig.<br />
2.1.2 Nicht-holonome Zwangsbedingungen<br />
Nicht-holonome Zwangsbedingungen sind geometrische Einschränkungen, die sich nicht durch Gleichungen<br />
zwischen den generalisierten Koordinaten und der Zeit darstellen lassen. Sie können die Form von<br />
Ungleichungen haben, oder sie können eine differenzielle Form haben, die nicht die Integrabilitätsbedingungen<br />
(2.3) erfüllt. Beispiele sind<br />
15
1. Teilchen im würfelförmigen Kasten: hier gelten die Einschränkungen 0 ≤ x ≤ L , 0 ≤ y ≤ L , 0 ≤<br />
z ≤ L .<br />
2. Rollende Kreisschreibe: Eine Kreisschreibe ist ein starrer Körper und hat ohne Berücksichtigung<br />
der Zwangsbedingungen 6 Freiheitsgrade. Wenn man die Bedingung auferlegt, dass ein Punkt des<br />
Umfangs die Auflageebene berühren soll, bleiben 5 Freiheitsgrade. Wir wählen als verallgemeinerte<br />
Koordinaten die Koordinaten des Auflagepunktes (xA, yA), die “Rollrichtung” ϕ (Winkel zwischen<br />
der x-Achse und der Schnittlinie von Scheibenebene und Boden), den Neigungswinkel ϑ der Scheibe<br />
und den Rollwinkel ψ. Die Rollbedingung (vgl. (2.4)) sorgt dafür, dass die Scheibe sich zu jedem<br />
Zeitpunkt in Richtung der momentanen Scheibenebene bewegt:<br />
dxA = −r dψ cos ϕ und dyA = −r dψ sin ϕ . (2.6)<br />
Da die Scheibenebene ihre Orientierung ändern kann, ist dies aber keine holonome Zwangsbedingung.<br />
Die Scheibe kann sich zwar immer nur in der Richtung bewegen, in der ihre Ebene zeigt, aber<br />
sie kann im Laufe der Zeit trotzdem jede durch die 5 Freiheitsgrade beschriebene Konfiguration<br />
einnehmen. Das ist wie bei einem Fahrrad: Man kann zwar immer nur in Richtung des Vorderrades<br />
fahren, aber indem man das Vorderrad geeignet dreht, kann man letztlich überall hinkommen, mit<br />
jeder gewünschten Fahrradorientierung und -neigung (naja....) und jedem gewünschten Drehwinkel<br />
der Räder. (Die Analogie zwischen Fahrrad und Kreisscheibe ist offensichtlicher, wenn man ein<br />
Einrad statt eines normalen Fahrrads betrachtet....).<br />
Division durch dt führt die Zwangsbedingungen (2.6) über in<br />
˙xA + r ˙ ψ cos ϕ = 0 , ˙yA + r ˙ ψ sin ϕ = 0 . (2.7)<br />
Da es für ϕ keine Zwangsbedingung gibt (im Gegensatz zu obigem Beispiel mit dem rollenden<br />
Zylinder), lässt sich die Bedingung (2.6) bzw. (2.7) nicht integrieren.<br />
Nichtholonome Zwangsbedingungen, die eine differenzielle Form haben, haben allgemein die Gestalt<br />
<br />
aijdqj + bidt = 0 , (2.8)<br />
j<br />
bzw. <br />
aij ˙qj + bi = 0 . (2.9)<br />
Die aij und bi erfüllen nicht die Bedingung (2.3). Sie haben die allgemeine Form<br />
j<br />
aij = aij(q1, . . . , q3N ; t) bi = bi(q1, . . . , q3N; t) . (2.10)<br />
16
Sie hängen von den verallgemeinerten Koordinaten und der Zeit ab, aber nicht von den Geschwindigkeiten.<br />
Zwangsbedingungen, die die Zeit explizit enthalten, heißen “rheonom” (d.h. “fließend”), zeitunabhängige<br />
Zwangsbedingungen heißen skleronom (“starr”). Von den bisher genannten Beispielen ist nur das<br />
Beispiel mit der Perle auf dem rotierenden Draht (2.5) rheonom.<br />
2.1.3 Zwangskräfte<br />
Aufgrund von Zwangsbedingungen gibt es neben den “inneren” (zwischen den Teilen des Systems wirkenden)<br />
und “äußeren” (von außen angreifenden) Kräften noch die sogenannten “Zwangskräfte”, die durch<br />
diejenigen Vorrichtungen ausgeübt werden, die für die Zwangsbedingungen verantwortlich sind. Wenn<br />
z.B. ein Buch auf einem Tisch liegt, übt die Tischfläche auf das Buch eine Zwangskraft aus, die der<br />
Gravitationskraft entgegengerichtet und ebenso groß wie diese ist, so dass das Buch auf dem Tisch ruht.<br />
Wenn es Zwangsbedingungen gibt, müssen diese Zwangskräfte in den Newtonschen Bewegungsgleichungen<br />
berücksichtigt werden:<br />
mi ¨ ri = Fi + Zi , (2.11)<br />
wobei Fi die Summe aus den äußeren und inneren Kräften darstellt und Zi die Zwangskraft auf das<br />
i-te Teilchen. Allgemeine Regeln zur Bestimmung der Zwangskräfte werden wir später formulieren. Für<br />
den Fall, dass wir es mit zeitunabhängigen Zwangsbedingungen zu tun haben (wie Berandungen, Verbindungsstangen,<br />
etc.), gilt die Regel, dass die Zwangskräfte insgesamt keine Arbeit verrichten dürfen. Wenn<br />
sie es täten, wäre der Energieerhaltungssatz verletzt und man könnte ein Perpetuum mobile bauen. Da<br />
den Berandungen und Stangen etc. keine Energie zugeführt wird, können sie auch keine abgeben.<br />
Um diese Bewegungsgleichungen zu lösen, muss man die Zwangskräfte entweder berechnen oder eliminieren.<br />
Dies kann man durch ein systematisches Vorgehen wie im Folgenden gezeigt durchführen. Mit<br />
Hilfe der k Zwangsbedingungen kann man die generalisierten Koordinaten auf 3N −k unabhängige Koordinaten<br />
reduzieren und die k Zwangskräfte eliminieren. Allerdings werden die Rechnungen recht schnell<br />
aufwendig, und wir werden im weiteren Verlauf der Vorlesung elegantere Methoden zum Lösen von mechanischen<br />
Aufgaben mit Zwangbedingungen kennenlernen.<br />
Beispiel 1: Teilchen im Kreiskegel Eine Punktmasse m gleitet reibungsfrei auf der Innenseite eines<br />
Kreiskegels. Die Gravitationskraft wirkt in negative z-Richtung.<br />
x<br />
z<br />
ϕ<br />
r<br />
g<br />
y<br />
(Bild stammt von http://www.semibyte.de/dokuwiki/nat/graphiken/physik/teilchen auf kreiskegel)<br />
Die Bewegungsgleichungen (2.11) sind<br />
m¨x = Zx ; m¨y = Zy ; m¨z = Zz − mg .<br />
Wir wählen Zylinderkoordinaten (r, z, ϕ) als generalisierte Koordinaten. Die Zwangsbedingung ist<br />
r − z tan α = 0 ,<br />
wobei α den Winkel der Zylinderwand mit der z-Achse darstellt (nicht im Bild eingezeichnet). Wir wählen<br />
r und ϕ als unabhängige Koordinaten. Dann gilt<br />
(x, y, z) = r(cos ϕ, sin ϕ, cot α) .<br />
17
Also ist<br />
¨x = ¨r cos ϕ − 2 ˙r ˙ϕ sin ϕ − r ¨ϕ sin ϕ − r ˙ϕ 2 cos ϕ<br />
¨y = ¨r sin ϕ + 2 ˙r ˙ϕ cos ϕ + r ¨ϕ cos ϕ − r ˙ϕ 2 sin ϕ<br />
¨z = ¨r cot α .<br />
Eingesetzt in die Bewegungsgleichungen gibt das<br />
Zx = m(¨r cos ϕ − 2 ˙r ˙ϕ sin ϕ − r ¨ϕ sin ϕ − r ˙ϕ 2 cos ϕ) (2.12)<br />
Zy = m(¨r sin ϕ + 2 ˙r ˙ϕ cos ϕ + r ¨ϕ cos ϕ − r ˙ϕ 2 sin ϕ) (2.13)<br />
Zz = m(¨r cot α + g) . (2.14)<br />
Diese drei Gleichungen enthalten fünf Unbekannte: r(t), ϕ(t), Zx, Zy, Zz. Wir müssen also zum Lösen der<br />
Gleichungen noch weitere Informationen verwenden. Diese stecken in der Bedingung, dass die Zwangskräfte<br />
senkrecht auf den Wänden stehen (weil sie keine Arbeit verrichten). Also gilt<br />
<br />
Zy cos ϕ = Zx sin ϕ und Zz = Z2 x + Z2 y tan α<br />
bzw. Zz cos ϕ = −Zx tan α. Wir subtrahieren die mit sin ϕ multiplizierte Gleichung (2.12) von der mit<br />
cos ϕ multiplizierten Gleichung (2.13) und erhalten<br />
2 ˙r ˙ϕ + r ¨ϕ = 0 . (2.15)<br />
Addition der mit tan α multiplizierten Gleichung (2.12) und der mit cos ϕ multiplizierten Gleichung (2.14)<br />
ergibt<br />
(tan α + cot α)¨r − r ˙ϕ 2 tan α + g = 0 . (2.16)<br />
Wir haben also zwei gekoppelte Differenzialgleichungen für die beiden unabhängigen Variablen r und ϕ.<br />
(Bemerkung: Dieses Problem ist nur dann wohl definiert, wenn man davon ausgeht, dass die Geschwindigkeit<br />
des Teilchens eine von Null verschiedene Komponente in ϕ-Richtung hat. Sonst würde das<br />
Teilchen in der Kegelspitze landen, wo die Zwangsbedingung nicht mehr differenzierbar ist. Wir gehen<br />
also hier und bei allen später im Skript vorkommenden Rechnungen zu diesem Problem davon aus, dass<br />
es eine Geschwindigkeitskomponente in ϕ-Richtung gibt.)<br />
Beispiel 2: Rollpendel ohne Reibung:<br />
Der Aufhängepunkt eines Pendels sei in der x-Achse angebracht und mit einer Masse m1 versehen,<br />
die längs der x-Achse reibungsfrei gleiten kann. Die Pendelmasse m2 hängt an einem masselosen Faden<br />
der Länge l. Die 4 Koordinaten x1, y1, x2, y2, die die Position der Massen m1 und m2 beschreiben, unterliegen<br />
zwei Zwangsbedingungen, so dass nur zwei unabhängige Koordinaten übrigbleiben. Wir wählen als<br />
unabhängige generalisierte Koordinaten den Auslenkwinkel ϕ und die Position x1 der Masse m1. Nach<br />
(2.11) lauten die Bewegungsgleichungen<br />
m1¨x1 = Z1x , m1¨y1 = −m1g + Z1y<br />
m2¨x2 = Z2x , m2¨y2 = −m2g + Z2y .<br />
18
Die Zwangsbedingungen sind y1 = 0 und (x2 − x1) 2 + (y2 − y1) 2 = l 2 . Wir eliminieren nun x2 und y2<br />
via<br />
x2 = x1 + l sin ϕ , y2 = −l cos ϕ<br />
und<br />
und<br />
¨x2 = ¨x1 + d<br />
dt (l ˙ϕ cos ϕ) = ¨x1 + l ¨ϕ cos ϕ − l ˙ϕ 2 sin ϕ<br />
¨y2 = d<br />
dt (l ˙ϕ sin ϕ) = l ¨ϕ sin ϕ + l ˙ϕ2 cos ϕ .<br />
Die Bewegungsgleichungen für die unabhängigen Koordinaten x1 und ϕ sind dann<br />
m1g = Z1y<br />
m1¨x1 = Z1x<br />
m2(¨x1 + l ¨ϕ cos ϕ − l ˙ϕ 2 sin ϕ) = Z2x<br />
m2(l ¨ϕ sin ϕ + l ˙ϕ 2 cos ϕ + g) = Z2y . (2.17)<br />
Die erste Gleichung ist keine Bewegungsgleichung und wird zur Bestimmung der Bahn nicht benötigt.<br />
Wir haben also 3 Gleichungen für die 5 Größen x1, ϕ, Z1x, Z2x, Z2y. Allerdings sind die drei Zwangskraftkomponenten<br />
nicht unabhängig voneinander. Es ist nämlich<br />
und<br />
Mit (2.17) folgt<br />
und daraus<br />
Analog erhalten wir auch<br />
und daraus<br />
Z1x = −Z2x<br />
Z2x cos ϕ = −Z2y sin ϕ .<br />
m1¨x1 = −m2(¨x1 + l ¨ϕ cos ϕ − l ˙ϕ 2 sin ϕ)<br />
(m1 + m2)¨x1 = m2l( ˙ϕ 2 sin ϕ − ¨ϕ cos ϕ) . (2.18)<br />
m2(¨x1 + l ¨ϕ cos ϕ − l ˙ϕ 2 sin ϕ) cos ϕ = −m2(l ¨ϕ sin ϕ + l ˙ϕ 2 cos ϕ + g) sin ϕ<br />
¨x1 cos ϕ + l ¨ϕ + g sin ϕ = 0 . (2.19)<br />
Also haben wir zwei gekoppelte Differenzialgleichungen für die beiden Variablen x1 und ϕ.<br />
19
2.2 Das d’Alembert-Prinzip<br />
Um die Schwierigkeiten zu beseitigen, dass Zwangskräfte i.A. unbekannt sind, soll hier die <strong>Mechanik</strong><br />
so formuliert werden, dass in ihr Zwangskräfte nicht auftreten. Diese neue Formulierung beruht auf der<br />
schon gemachten Feststellung, dass Zwangsflächen, Achsen, Stangen usw. nicht den Energieerhaltungssatz<br />
verletzen. Dies bedeutet, dass Zwangsbedingungen keine Arbeit leisten, es sei denn, sie werden durch<br />
Antriebe bewegt. Dann liegen aber rheonome Zwangsbedingungen vor. Durch einen Trick können wir<br />
erreichen, dass wir die von ihnen verrichtete Arbeit nicht berücksichtigen müssen: Wir betrachten nämlich<br />
sogenannte “virtuelle Verrückungen”, das sind mit den Zwangsbedingungen verträgliche Verschiebungen<br />
bei festgehaltener Zeit:<br />
Definition: Eine virtuelle Verrückung δri des i-ten Teilchens ist eine Verschiebung mit den Eigenschaften<br />
• δri ist infinitesimal<br />
• δri ist mit den Zwangsbedingungen verträglich<br />
• δri erfolgt instantan, d.h. dt = 0 (daher “virtuell”)<br />
Ein einfaches Beispiel ist eine Perle auf einem bewegten Draht:<br />
Der Draht sei parallel zu x-Achse und bewege sich mit Geschwindigkeit v in y-Richtung. Für reelle<br />
Verschiebungen dr der Perle ist dt = 0, und bei einer reellen Verschiebung hat dr eine von Null<br />
verschiedene y-Komponente. Eine virtuelle Verschiebung δr dagegen ist parallel zur x-Achse.<br />
Mit den Bewegungsgleichungen (2.11)<br />
folgt<br />
i=1<br />
mi ¨ ri − Fi = Zi<br />
N<br />
(mi ¨ ri − N<br />
Fi) · δri = Zi · δri<br />
Wir postulieren nun: Zwangskräfte verrichten in ihrer Gesamtheit keine virtuelle Zwangsarbeit, d.h.<br />
i=1<br />
(2.20)<br />
N<br />
Zi · δri = 0 . (2.21)<br />
i=1<br />
Das bedeutet, dass zeitunabhängige Zwangsbedingungen und festgehaltene zeitabhängige Zwangsbedingungen<br />
keine Arbeit verrichten. Zwangsbedingungen können nur dann Arbeit verrichten, wenn diese aktiv<br />
in das System hineingesteckt wird, indem Stangen, Berandungen etc. verschoben werden.<br />
Das d’Alembert-Prinzip (2.21) führt mit (2.20) auf die d’Alembert-Gleichung<br />
N<br />
(mi ¨ ri − Fi) · δri = 0 . (2.22)<br />
i=1<br />
Sie enthält keine Zwangskräfte und ist zur Lösung von Problemen mit Zwangsbedingungen geeignet.<br />
20
Beachte: Die Summanden in (2.22) dürfen nicht einzeln gleich Null gesetzt werden!<br />
Für k holonome Zwangsbedingungen mit unabhängigen Koordinaten qj, j = 1, . . . , 3N − k und der<br />
Transformation<br />
ri = ri(q1, . . . , q3N−k; t) , , i = 1, . . . N<br />
gilt<br />
δri =<br />
3N−k <br />
j=1<br />
∂ri<br />
δqj . (2.23)<br />
∂qj<br />
In (2.23) tritt ∂ri/∂t nicht auf, da δri instantan ist. Einsetzen von (2.23) in (2.22) ergibt<br />
<br />
3N−k N<br />
(mi ¨ ri − Fi) · ∂ri<br />
<br />
δqj = 0 .<br />
∂qj<br />
j=1<br />
i=1<br />
Die ersten 3N − k Werte von δqj können unabhängig gewählt werden. (Die übrigen k Werte liegen dann<br />
eindeutig fest, weil die Zwangsbedingungen erfüllt sein müssen.) Insbesondere kann man auch alle bis auf<br />
einen der ersten 3N − k Werte von δqj zu Null setzen. Damit ergeben sich die d’Alembert-Gleichungen<br />
für holonome Zwangsbedigungen:<br />
N<br />
(mi ¨ ri − Fi) · ∂ri<br />
= 0 , j = 1, . . . 3N − k . (2.24)<br />
∂qj<br />
i=1<br />
Anhand des Rollpendels können wir sowohl sehen, dass die Summanden in (2.21) der virtuellen Zwangsarbeit<br />
ungleich null sind, als auch dass sich die Bewegungsgleichungen der unabhängigen Freiheitsgrade<br />
mit den d’Alembert-Gleichungen sehr schnell herleiten lassen.<br />
Z<br />
Die virtuellen Verrückungen sind δr1 und δr2 = δr1 + δr rot<br />
und Z2 = − F aden Z . Damit ergibt sich<br />
F aden<br />
1<br />
Und<br />
1<br />
Z1 · δr1 = ( Z Schiene<br />
1<br />
+ Z<br />
F aden<br />
1<br />
2 . Die Zwangskräfte sind Z1 = ZSchiene 1<br />
) · δr1 = Z<br />
Z2 · δr2 = − F aden<br />
Z1 · (δr1 + δr rot<br />
2 ) = − Z<br />
F aden<br />
1<br />
F aden<br />
1<br />
· δr1<br />
· δr1 .<br />
Die Summe dieser beiden Terme ist Null, wie es sein muss, aber die einzelnen Terme sind von Null<br />
verschieden (außer wenn ϕ = 0 ist).<br />
Die d’Alembert-Gleichungen für das Rollpendel sind<br />
mit den äußeren Kräften<br />
(m1 ¨ r1 − F1) · δr1 + (m2 ¨ r2 − F2) · δr2 = 0<br />
F1<br />
m1<br />
= F2<br />
= −gey .<br />
m2<br />
21<br />
+
Damit ergibt sich<br />
m1¨x1δx1 + m2 [¨x2δx2 + (¨y2 + g)δy2] = 0 .<br />
Transformation auf die unabhängigen Koordinaten x1 und ϕ führt zu den Ersetzungen<br />
und damit auf<br />
x2 = x1 + l sin ϕ , y2 = −l cos ϕ<br />
δx2 = δx1 + lδϕ cos ϕ , δy2 = lδϕ sin ϕ .<br />
Einsetzen ergibt wegen der Unabhängigkeit von δx1 und δϕ<br />
und<br />
m1¨x1 + m2¨x2 = 0<br />
m2 [¨x2l cos ϕ + (¨y2 + g)l sin ϕ] = 0 .<br />
Wenn wir jetzt noch ¨x2 und ¨y2 durch die unabhängigen Variablen ausdrücken, erhalten wir die Bewegungsgleichungen<br />
m1¨x1 + m2(¨x1 + l ¨ϕ cos ϕ − l ˙ϕ 2 sin ϕ) = 0<br />
und<br />
¨x1 cos ϕ + l ¨ϕ + g sin ϕ = 0 .<br />
Dies sind die Gleichungen, die wir schon direkt aus den Newtonschen Gleichungen hergeleitet haben (siehe<br />
(2.18) und (2.19)), aber das war viel umständlicher.<br />
Auch das Beispiel mit dem Teilchen im Kreiskegel rechnen wir nun mit dem d’Alembert-Prinzip:<br />
Es ist<br />
(m ¨ r − mg) · δr = m[¨xδx + ¨yδy + (¨z + g)δz] = 0 .<br />
Wegen der Zwangsbedingung r − tan α = 0 sind nur zwei der drei Variablen unabhängig. In Zylinderkoordinaten<br />
(x, y, z) = r(cos ϕ, sin ϕ, cot α)<br />
sind die virtuellen Verschiebungen<br />
δx = δr cos ϕ − r sin ϕδϕ , δy = δr sin ϕ + r cos ϕδϕ δz = δr cot α .<br />
Damit lautet die d’Alembert-Gleichung<br />
[2 ˙r ˙ϕ + r ¨ϕ]rδϕ + [(tan α + cot α)¨r − r ˙ϕ 2 tan α + g] cot αδr = 0 . (2.25)<br />
Wegen der Unabhängigkeit von δϕ und δr müssen beide eckige Klammern verschwinden, und wir erhalten<br />
die schon bekannten Bewegungsgleichungen (2.15) und (2.16).<br />
Wir erhalten also folgende Gebrauchsanweisung für Probleme mit holonomen Zwangsbedingungen:<br />
• Bestimmen der holonomen Zwangsbedingungen<br />
• Aufstellen der d’Alembert-Gleichungen<br />
• Einsetzen der unabhängigen virtuellen Verrückungen<br />
Für Systeme, die sich im Gleichgewicht befinden, verschwindet die Gesamtkraft Fi + Zi für jedes<br />
Teilchen, also gilt N<br />
i=1 ( Fi + Zi) · δri = 0. Mit dem d’Alembert-Prinzip (2.21) folgt<br />
N<br />
Fi · δri = 0 , (2.26)<br />
i=1<br />
22
d.h. im Gleichgewicht verschwindet die virtuelle Arbeit aller eingeprägten Kräfte.<br />
Diese Bedingung kann benützt werden, um Gleichgewichtsprobleme zu lösen. Als Beispiel betrachten<br />
wir eine Leiter an der Wand: (das Bild habe ich von<br />
http://www.matheplanet.com/matheplanet/nuke/html/uploads/8/23028 leiter2.gif geklaut.)<br />
Eine Leiter der Länge L und Masse M steht an der Wand und wird von einer Frau der Masse m bis<br />
zur Länge l bestiegen. Die Leiter hat an beiden Enden Rollen, so dass keine Reibung gegen Wand und<br />
Boden auftritt. An ihrem unteren Ende ist ein Seil befestigt, um das Wegrutschen zu verhindern. Wie<br />
groß ist die Kraft F , mit der das Seil die Leiter hält?<br />
Es existieren 4 Zwangsbedingungen:<br />
xB = (L − l) cos µ , yB = l sin µ , xS = L<br />
2 cos µ , yS = L<br />
sin µ .<br />
2<br />
Von den 5 Variablen xS, yS, xB, yB, µ ist also nur eine unabhängig. Wir wählen µ, das über die<br />
Beziehung xA = L cos µ mit dem Auflagepunkt xA zusammenhängt.<br />
Es gibt drei Kräfte, nämlich die Gravitationskraft der Frau, die am Punkt B angreift, die Gravitationskraft<br />
der Leiter, die am Schwerpunkt S angreift, und die Kraft, die die Leiter hält und am Auflagepunkt<br />
A angreift. Die Bedingung (2.26) lautet also<br />
Mg · δrS + mg · δrB + F · δrA = 0 bzw. − MgδyS − mgδyB − F δxA = 0 .<br />
Ausgedrückt durch die unabhängige Variable µ sind die virtuellen Verrückungen<br />
δxA = −L sin µδµ , δyB = l cos µδµ , δyS = L<br />
cos µδµ ,<br />
2<br />
so dass wir <br />
−Mg L<br />
<br />
cos µ − mgl cos µ + F L sin µ δµ = 0<br />
2<br />
erhalten. Also ist<br />
Aufgaben<br />
<br />
M l<br />
F = g cot µ + m .<br />
2 L<br />
1. Nennen Sie mehrere Beispiele für holonome und nicht holonome Zwangsbedingungen.<br />
2. Leiten Sie das Hebelgesetz F1r1 = F2r2 aus der Gleichgewichtsbedingung (2.26) her.<br />
(Bild ist von http://wapedia.mobi/de/Hebelgesetz?t=2.)<br />
3. (Diese Aufgabe entspricht Aufgaben 3-5 und 4-1 im Kuypers.) Betrachten Sie die Perle auf dem gebogenen<br />
rotierenden Draht (Abschnitt 2.1.1. aus dem Skript). Stellen Sie die Bewegungsgleichungen<br />
auf zwei Wegen auf:<br />
23
(a) Gehen Sie wie in Abschnitt 2.1.3. vor und formulieren Sie zunächst die Newtonschen Gleichungen<br />
samt Zwangskräften. Eliminieren Sie dann die Zwangskräfte und gehen Sie zu unabhängigen<br />
Koordinaten über.<br />
(b) Gehen Sie wie in 2.2. vor. Starten Sie also mit den d’Alembert-Gleichungen.<br />
24
Kapitel 3<br />
Lagrange-Gleichungen zweiter Art<br />
3.1 Herleitung<br />
Der folgende Lagrange-Formalismus zweiter Art ist zu d’Alembert mit holonomen Zwangsbedingungen<br />
äquivalent, jedoch bei der Aufstellung von Bewegungsgleichungen in der Praxis überlegen.<br />
Wir gehen aus von der d’Alembert-Gleichung (2.22),<br />
N<br />
(mi ¨ ri − Fi) · δri = 0, ri = ri(q1, . . . , qn; t), i = 1, . . . , N<br />
i=1<br />
wobei die verallgemeinerten Koordinaten qj, j = 1, . . . , n voneinander abhängen dürfen. Mit der Ersetzung<br />
erhalten wir<br />
N<br />
Fi · δri = <br />
<br />
N<br />
i=1<br />
Wir definieren also die verallgemeinerte Kraft<br />
j<br />
δri = ∂ri<br />
δqj<br />
∂qj<br />
i=1<br />
Qj =<br />
j=1 i=1<br />
j<br />
Fi · ∂ri<br />
∂qj<br />
N<br />
i=1<br />
<br />
δqj ≡ <br />
Qjδqj . (3.1)<br />
j<br />
Fi · ∂ri<br />
. (3.2)<br />
∂qj<br />
Wir machen weiterhin in der d’Alembert-Gleichung die folgende Umformung:<br />
N<br />
mi<br />
i=1<br />
¨ ri · δri =<br />
n<br />
<br />
N<br />
mi<br />
j=1 i=1<br />
¨ ri · ∂ri<br />
<br />
δqj<br />
∂qj<br />
=<br />
n N<br />
<br />
d<br />
mi<br />
dt<br />
j=1 i=1<br />
˙ ri · ∂ri<br />
<br />
− mi<br />
∂qj<br />
˙ ri · d<br />
=<br />
<br />
∂ri<br />
δqj<br />
dt ∂qj<br />
n N<br />
<br />
d<br />
mi<br />
dt<br />
˙ ri · ∂ ˙ <br />
ri<br />
− mi<br />
∂ ˙qj<br />
˙ ri · ∂ ˙ <br />
ri<br />
δqj ,<br />
∂qj<br />
wobei für die letzte Umformung<br />
˙ri = ∂ri<br />
∂qj<br />
j<br />
˙qj + ∂ri<br />
∂t ⇒ ∂ ˙ ri<br />
∂ ˙qj<br />
25<br />
= ∂ri<br />
∂qj<br />
(3.3)
und<br />
d ∂ri<br />
=<br />
dt ∂qj<br />
∂2ri ∂ql∂qj<br />
l<br />
˙ql + ∂2 ri<br />
∂t∂qj<br />
benutzt wurde.<br />
Mit der Notation vi = ˙ ri und vi = |vi| ist demnach<br />
N<br />
mi ¨ ri · δri = <br />
<br />
N<br />
d ∂ 1<br />
dt ∂ ˙qj 2<br />
j<br />
i=1<br />
miv 2 <br />
i<br />
= <br />
<br />
d ∂T<br />
−<br />
dt ∂ ˙qj<br />
∂T<br />
<br />
δqj<br />
∂qj<br />
i=1<br />
j<br />
= ∂ dri<br />
∂qj dt ≡ ∂ ˙ ri<br />
∂qj<br />
− ∂<br />
∂qj<br />
mit der kinetischen Energie T = 1 <br />
2 i miv2 i . Mit (3.1) und (3.5) folgt<br />
N<br />
(mi ¨ ri − Fi) · δri = <br />
<br />
d ∂T<br />
dt ∂ ˙qj<br />
i=1<br />
j<br />
N<br />
i=1<br />
1<br />
2 miv 2 <br />
i δqj<br />
(3.4)<br />
(3.5)<br />
− ∂T<br />
<br />
− Qj δqj = 0 . (3.6)<br />
∂qj<br />
Wenn wir k holonome Zwangsbedingungen haben, also n = 3N − k unabhängige qj und daher auch n<br />
unabhängige δqj, dann folgt<br />
d ∂T<br />
dt ∂ ˙qj<br />
− ∂T<br />
− Qj = 0 j = 1, . . . , 3N − k . (3.7)<br />
∂qj<br />
Gleichung (3.7) gilt für beliebige verallgemeinerte Kräfte Qj. Mit der weiteren Annahme, dass Kräfte<br />
konservativ sind (d.h. Fi = − ∇iV ), gilt<br />
Qj =<br />
N<br />
i=1<br />
∂ri Fi<br />
∂qj<br />
= −<br />
N<br />
i=1<br />
∇iV · ∂ri<br />
, j = 1, . . . , 3N − k .<br />
∂qj<br />
Letztes ist wegen ri = ri(q1, . . . , q3N−k; t) die partielle Ableitung der Potenzialfunktion V (r1, . . . , rN):<br />
also<br />
∂V<br />
∂qj<br />
Damit kann (3.7) geschrieben werden als<br />
=<br />
N<br />
i=1<br />
Qj = − ∂V<br />
∇iV · ∂ri<br />
,<br />
∂qj<br />
∂qj<br />
d ∂T ∂(T − V )<br />
− = 0 .<br />
dt ∂ ˙qj ∂qj<br />
. (3.8)<br />
Da das Potenzial V unabhängig von den generalisierten Geschwindigkeiten ist, d.h. ∂V/∂ ˙qj = 0,<br />
können wir auch schreiben<br />
d ∂(T − V ) ∂(T − V )<br />
− = 0 .<br />
dt ∂ ˙qj ∂qj<br />
Wir definieren nun die Lagrange-Funktion<br />
L = T − V (3.9)<br />
26
und erhalten damit die Lagrange-Gleichungen zweiter Art<br />
d ∂L<br />
dt ∂ ˙qj<br />
− ∂L<br />
∂qj<br />
= 0 , j = 1, . . . , 3N − k . (3.10)<br />
Die Lagrange-Gleichungen zweiter Art gelten auch für manche geschwindigkeitsabhängige, “generalisierte”<br />
Potenziale<br />
V = V (q1, . . . , q3N−k, ˙q1, . . . , ˙q3N−k; t) , (3.11)<br />
und zwar dann, wenn die Kräfte sich in der Form<br />
Qj = − ∂V<br />
+<br />
∂qj<br />
d ∂V<br />
dt ∂ ˙qj<br />
(3.12)<br />
schreiben lassen. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist die elektromagnetische Kraft auf eine bewegte Ladung<br />
e, die Lorentzkraft, die sich aus dem generalisierten Potenzial<br />
V = e(φ − v · A) (3.13)<br />
ableiten lässt, wobei φ(r, t) das skalare Potenzial und A(r, t) das Vektorpotenzial des Elektrodynamik ist.<br />
(siehe Übungen.)<br />
3.2 Gebrauchsanweisung<br />
Mit den Lagrange-Gleichungen zweiter Art lassen sich viele <strong>Mechanik</strong>-Aufgaben elegant lösen. Die Gebrauchsanweisung<br />
zur Aufstellung dieser Gleichungen ist folgende:<br />
(i) Schreibe L = T − V als Funktion der 3N kartesischen Koordinaten oder als Funktion von 3N<br />
geeigneten generalisierten Koordinaten q1, . . . , q3N und der 3N Geschwindigkeiten ˙q1, . . . , ˙q3N.<br />
(ii) Drücke die 3N Koordinaten durch 3N − k unabhängige generalisierte Koordinaten aus, bei k holonomen<br />
Zwangsbedingungen. (Bemerkung: Mit etwas Übung kann man oft die Lagrange-Funktion<br />
L direkt als Funktion der q1, . . . , q3N−k schreiben. Dann kann man Schritt 1 überspringen.)<br />
(iii) Bestimme L als Funktion der unabhängigen Koordinaten, Geschwindigkeiten und evtl. der Zeit.<br />
(iv) Stelle die Lagrange-Gleichungen zweiter Art auf.<br />
3.3 Beispiele<br />
Als Beispiel nehmen wir wieder das Teilchen im Kreiskegel und das Rollpendel. Die vier Schritte der<br />
Gebrauchsanweisung sind für das Teilchen im Kreiskegel die folgenden:<br />
x<br />
z<br />
ϕ<br />
r<br />
g<br />
y<br />
27
(i)<br />
(ii)<br />
(iii)<br />
(iv)<br />
(i)<br />
(ii)<br />
(iii)<br />
(iv)<br />
L = m<br />
2<br />
T − V = m<br />
2 ( ˙r2 + ˙z 2 + r 2 ˙ϕ 2 ) − mgz<br />
z = r cot α<br />
(1 + cot 2 α) ˙r 2 + r 2 ˙ϕ 2 − mgr cot α<br />
d ∂L ∂L<br />
−<br />
dt ∂ ˙r ∂r = (1 + cot 2 α)¨r − r ˙ϕ 2 + g cot α = 0 , (2.16)<br />
d ∂L ∂L<br />
−<br />
dt ∂ ˙ϕ ∂ϕ<br />
= mr(2 ˙r ˙ϕ + r ¨ϕ) = 0 . (2.15)<br />
Für das Rollpendel sind die 4 Schritte:<br />
− ∂L<br />
∂x1<br />
T = m1<br />
2 ( ˙x2 2 + ˙y 2 2)<br />
V = m2gy2 + const<br />
L = T − V<br />
2 ˙x2 1 + m2<br />
x2 = x1 + l sin ϕ , y2 = −l cos ϕ<br />
˙x2 = ˙x1 + l ˙ϕ cos ϕ , ˙y2 = l ˙ϕ sin ϕ<br />
L = m1<br />
2 ˙x2 1 + m2<br />
2 ( ˙x2 1 + l 2 ˙ϕ 2 + 2l ˙x1 ˙ϕ cos ϕ) + m2gl cos ϕ = const<br />
d ∂L<br />
dt ∂ ˙x1<br />
d ∂L ∂L<br />
−<br />
dt ∂ ˙ϕ ∂ϕ = m2l(l ¨ϕ + ¨x1 cos ϕ + g sin ϕ) = 0<br />
= d<br />
dt [m1 ˙x1 + m2( ˙x1 + l ˙ϕ cos ϕ)] = (m1 + m2)¨x1 + m2l( ¨ϕ cos ϕ − ˙ϕ 2 sin ϕ) = 0<br />
28
3.4 Lagrange-Formalismus mit Reibung<br />
Reibungskräfte sind wegabhängig und können nicht aus einem Potenzial V abgeleitet werden. Zu ihrer<br />
Beschreibung gehen wir von (3.7) für beliebige eingeprägte generalisierte Kräfte Qj aus (k holonome<br />
Zwangsbedingungen). Diejenigen Kräfte, die sich aus einem Potenzial ableiten lassen, berücksichtigen wir<br />
wieder in der Funktion L, und die Nicht-Potenzial-Kräfte bezeichnen wir mit Rj (diese müssen nicht<br />
notwendig Reibungskräfte sein). Wir erhalten dann eine erweiterte Gleichung (3.10):<br />
d ∂L<br />
dt ∂ ˙qj<br />
Für Reibungskräfte F (R)<br />
i , i = 1, . . . , N, ist nach (3.2)<br />
3.4.1 Einschub: Reibungstypen<br />
− ∂L<br />
− Rj = 0 , j = 1, . . . , 3N − k . (3.14)<br />
∂qj<br />
Rj ≡<br />
N<br />
i=1<br />
F (R)<br />
i<br />
· ∂ri<br />
. (3.15)<br />
∂qj<br />
1. Haftreibung: Die Haftreibungskraft hat einen maximalen Wert, bei dessen Überschreiten die Haftung<br />
endet und Gleiten beginnt.<br />
F (R)<br />
Haft ≤ f0N<br />
mit einer dimensionslose Haftreibungszahl f0 und der Normalkraft N, die z.B. die Zwangskraft<br />
N = | Z| sein kann.<br />
2. Gleitreibung: Der Betrag der Reibungskraft ist nahezu geschwindigkeitsunabhängig<br />
F (R) = −fN v<br />
v<br />
3. Reibung in Fluiden (also Gasen und Flüssigkeiten):<br />
F (R) = −cwA ϱ v<br />
v2<br />
2 v<br />
mit der Querschnittsfläche A des bewegten Objekts und der Dichte ϱ des Fluids. Der Widerstandsbeiwert<br />
cw ist für große Geschwindigkeiten konstant, so dass die Reibungskraft proportional zu<br />
v 2 ist, und diese Reibung tritt in Form von Wirbeln und Turbulenzen auf. Für kleine v ist cw<br />
proportional zu 1/v, so dass die Reibungskraft proportional zu v wird.<br />
3.4.2 Dissipationsfunktion<br />
Oft lassen sich Reibungskräfte auf das i-te Teilchen schreiben als<br />
Mit (3.15) folgt:<br />
F (R)<br />
i<br />
Rj = −<br />
= −<br />
vi<br />
= −hi(vi)<br />
N<br />
i=1<br />
N<br />
i=1<br />
vi<br />
hi(vi) vi<br />
·<br />
vi<br />
∂ri<br />
∂qj<br />
, vi ≡ |vi| i = 1, . . . , N . (3.16)<br />
(3.3)<br />
= −<br />
N<br />
i=1<br />
hi(vi) vi<br />
·<br />
vi<br />
∂vi<br />
∂ ˙qj<br />
hi(vi) ∂vi<br />
. (3.17)<br />
∂ ˙qj<br />
29
Für die letzte Gleichung wurde benutzt:<br />
vi · ∂vi<br />
∂ ˙qj<br />
= 1 ∂(vi · vi)<br />
2 ∂ ˙qj<br />
= 1 ∂v<br />
2<br />
2 i<br />
∂ ˙qj<br />
Die sogenannte Dissipationsfunktion P erfüllt die Beziehung<br />
d.h. mit (3.17):<br />
∂P<br />
∂ ˙qj<br />
≡<br />
N<br />
i=1<br />
hi(vi) ∂vi<br />
∂ ˙qj<br />
Nach (3.14) lautet die “Lagrange-Gleichung mit Reibung” dann<br />
d ∂L<br />
dt ∂ ˙qj<br />
∂vi<br />
= vi .<br />
∂ ˙qj<br />
j = 1, . . . , 3N − k , (3.18)<br />
Rj = − ∂P<br />
. (3.19)<br />
∂ ˙qj<br />
− ∂L<br />
+<br />
∂qj<br />
∂P<br />
∂ ˙qj<br />
Die Dissipationsfunktion P kann gemäß (3.18) geschrieben werden als<br />
d.h. mit (3.21) gilt<br />
und daher (3.18).<br />
∂P<br />
∂vi<br />
P =<br />
N<br />
i=1<br />
= hi(vi) ⇒ ∂<br />
P =<br />
∂ ˙qj<br />
vi<br />
0<br />
i=1<br />
= 0 . (3.20)<br />
hi(ˆvi)dˆvi , (3.21)<br />
N ∂P ∂vi<br />
∂vi ∂ ˙qj<br />
Wir betrachten ein Beispiel:<br />
Eine Masse m gleite mit Gleitreibung auf der (x, y)-Ebene.<br />
Es ist also F (R) = −fmg v<br />
v<br />
und damit h(v) = fmg. Also ist<br />
P =<br />
v<br />
0<br />
=<br />
N<br />
i=1<br />
h(ˆv)dˆv = fmgv = fmg ˙x 2 + ˙y 2<br />
Es ist<br />
L = T − V = T = m<br />
2 ( ˙x2 + ˙y 2 ) .<br />
Wir überprüfen noch die Gültigkeit von (3.20):<br />
d ∂L ∂L ∂P<br />
− +<br />
dt ∂ ˙x ∂x ∂ ˙x<br />
d ∂L ∂L ∂P<br />
− +<br />
dt ∂ ˙y ∂y ∂ ˙y<br />
= m¨x + fmg<br />
= m¨y + fmg<br />
30<br />
˙x<br />
˙x 2 + ˙y 2<br />
˙y<br />
˙x 2 + ˙y 2<br />
hi(vi) ∂vi<br />
∂ ˙qj<br />
= 0<br />
= 0
Wir wählen die x-Achse in v-Richtung, d.h. y = ˙y = ¨y = 0. Dann ist<br />
m¨x + fmg = 0 bzw. ¨x = −fg .<br />
Mit den Anfangsbedingungen x(0) = x0 und ˙x(0) = v0 ergibt sich<br />
x(t) = x0 + v0t − 1<br />
2 fgt2 ,<br />
wobei der maximale Wert von t, bei dem die Masse zur Ruhe kommt, durch die Bedingung ˙x(t) =<br />
v0 − fgt = 0 festgelegt ist, also tmax = v0<br />
fg .<br />
Aufgaben<br />
1. Betrachten Sie die Perle auf dem gebogenen rotierenden Draht (Abschnitt 2.1.1. aus dem Skript),<br />
die auch auf dem vorigen Übungsblatt behandelt wurde. Stellen Sie die Bewegungsgleichungen auf,<br />
indem Sie die 4 Schritte der Gebrauchsanweisung für den Lagrange-Formalismus durchgehen. Sie<br />
haben nun diese Aufgabe auf drei verschiedene Arten gelöst. Welche fanden Sie am einfachsten?<br />
2. Betrachten Sie ein Teilchen der Ladung e in einem homogenen E-Feld und B-Feld.<br />
(a) Drücken Sie die Kraft auf das Teilchen durch E und B und die Geschwindigkeit v des Teilchens<br />
aus.<br />
(b) Geben Sie die zugehörigen Potenziale φ und A der Elektrodynamik an, aus denen sich E und<br />
B ermitteln lassen. (Zur Erinnerung: Es ist E = − ∇φ − ∂ A/dt und B = ∇ × A.<br />
(c) Zeigen Sie, dass die drei Komponenten der Kraft auf das Teilchen sich schreiben lassen als<br />
Qj = −∂V/∂qj + (d/dt)(∂V/∂ ˙qj) mit V = e(φ −v · A). (Es reicht, wenn Sie das in kartesischen<br />
Koordinaten zeigen.)<br />
3. (= Aufgabe 2 Blatt 6 Berges-Uebungen) Eine Kugel mit Radius r und Masse m ist an einer Feder<br />
mit Federkonstante k befestigt und bewegt sich nur in z-Richtung. Die Kugel befinde sich in einer<br />
Flüssigkeit mit Viskosität η. Auf die Kugel wirkt die Stokessche Reibungskraft<br />
F (R) = −6πηr ˙z ,<br />
wobei ˙z die Geschwindigkeit der Kugel ist (der Auftrieb kann vernachlässigt werden). Auf die Kugel<br />
wirkt die Gewichtskraft in negativer z-Richtung.<br />
(a) Bestimmen Sie die Bewegungsgleichung der Kugel mit Hilfe des Lagrange-Formalismus mit<br />
Reibung.<br />
(b) Zum Zeitpunkt t = 0 befinde sich die Kugel im Abstand b von der Gleichgewichtslage in Ruhe.<br />
Lösen Sie die Bewegungsgleichung unter der Annahme<br />
k > (3πηr)2<br />
m<br />
31<br />
.
Kapitel 4<br />
Symmetrien und Erhaltungssätze;<br />
Noether-Theorem<br />
4.1 Forminvarianz der Lagrange-Gleichungen<br />
Die Lagrange-Gleichungen haben den großen Vorteil, dass sie für holonome Zwangsbedingungen wie geschaffen<br />
sind, und dass ihre Form immer dieselbe ist, egal welche Koordinaten und Bezugssysteme man<br />
verwendet. Dies ist bei den Newtonschen Gleichungen nicht so. Für die Bewegung in einem Zentralpotenzial<br />
lauten die Gleichungen in Polarkoordinaten nämlich nicht m¨r = −∂V/∂r und mr 2 ¨ϕ = −∂V/∂ϕ = 0,<br />
wie man bei Forminvarianz erwarten würde, sondern<br />
m(¨r − r ˙ϕ 2 ) = −∂V/∂r und mr(r ¨ϕ + 2 ˙r ˙ϕ) = 0 .<br />
(Herleitung geht am schnellsten über Lagrange, mit T = m( ˙r 2 + r 2 ˙ϕ 2 )/2 und V = V (r).) Auch beim<br />
d’Alembert-Prinzip müssen Beschleunigungen und Verrückungen umständlich auf die generalisierten Variablen<br />
umgerechnet werden.<br />
Wir zeigen jetzt explizit, dass die Lagrange-Gleichungen unter Punkttransformationen invariant sind,<br />
also dass sie in allen Koordinaten- und Bezugssystemen die gleiche Form haben: Wir betrachten die<br />
“alten” Koordinaten {qi}, für die die Lagrange-Gleichungen gelten sollen, und wir wechseln zu neuen<br />
Koordinaten {Qj}, die mit den alten Koordinaten über die Beziehungen qi = qi(Q, t) zusammenhängen.<br />
Wir verwenden im folgenden öfter die vereinfachte Schreibweise q bzw. Q für {qi} bzw. {Qj}. Es gilt<br />
˙qi =<br />
3N−k <br />
j=1<br />
∂qi<br />
∂Qj<br />
Daraus folgt die für das Folgende wichtige Beziehung<br />
∂ ˙qi<br />
∂ ˙ Qj<br />
˙Qj + ∂qi<br />
∂t .<br />
= ∂qi<br />
. (4.1)<br />
∂Qj<br />
Die Lagrange-Funktion in den neuen Koordinaten nennen wir L ′ (Q, ˙ Q, t), und sie hängt mit der “alten”<br />
Lagrange-Funktion zusammen über<br />
L ′ (Q, ˙ <br />
Q, t) = L q(Q, t), ˙q(Q, ˙ <br />
Q, t), t . (4.2)<br />
Wir müssen jetzt noch zeigen, dass auch mit der neuen Lagrange-Funktion und den neuen Koordinaten<br />
die Lagrange-Gleichungen gelten. Dazu berechnen wir<br />
∂L ′ 3N−k <br />
<br />
∂L ∂qi<br />
=<br />
+<br />
∂Qj ∂qi ∂Qj<br />
∂L<br />
<br />
∂ ˙qi<br />
∂ ˙qi ∂Qj<br />
i=1<br />
32
und<br />
und folglich<br />
∂L ′<br />
∂ ˙ Qj<br />
=<br />
d ∂L<br />
dt<br />
′<br />
∂ ˙ =<br />
Qj<br />
3N−k <br />
i=1<br />
3N−k <br />
i=1<br />
∂L<br />
∂ ˙qi<br />
∂ ˙qi<br />
∂ ˙ Qj<br />
(4.1)<br />
=<br />
<br />
d ∂L ∂qi<br />
dt ∂ ˙qi ∂Qj<br />
3N−k <br />
i=1<br />
∂L<br />
∂ ˙qi<br />
+ ∂L<br />
∂ ˙qi<br />
woraus die Lagrange-Gleichungen in den neuen Koordinaten folgen:<br />
d ∂L<br />
dt<br />
′<br />
∂ ˙ Qj<br />
− ∂L′<br />
∂Qj<br />
∂qi<br />
∂Qj<br />
<br />
∂ ˙qi<br />
,<br />
∂Qj<br />
= 0 , j = 1, . . . , 3N − k . (4.3)<br />
Die Forminvarianz der Lagrange-Gleichungen ist sehr nützlich. Dadurch kann man leicht und schnell<br />
die Bewegungsgleichungen in allen Koordinatensystemen und auch in beschleunigten Bezugssystemen<br />
aufstellen.<br />
Auch zur Konstruktion von Erhaltungsgrößen ist der Lagrange-Formalismus wie geschaffen. Kontinuierliche<br />
Transformationen, die die Lagrange-Funktion invariant lassen, deuten auf Erhaltungsgrößen hin,<br />
wie wir im nächsten Teilkapitel sehen werden.<br />
Darüber hinaus ist der Lagrange-Formalismus für die klassische Feldtheorie von großer Bedeutung.<br />
4.2 Zyklische Koordinaten und Erhaltungssätze<br />
Die Lösung der aufgestellten Bewegungsgleichungen erfordert für jede Gleichung, die zweiter Ordnung in<br />
der Zeit ist, zwei Integrationen. Bei vielen Problemen kann man mehrere erste Integrale der Bewegungsgleichungen<br />
sofort erhalten, d.h. Beziehungen der Form<br />
f(q1, q2, . . . ; ˙q1, ˙q2, . . . ; t) = konst<br />
für alle Lösungen qj(t) von (3.10). Dazu gehören die in Kapitel 1 abgeleiteten Erhaltungssätze.<br />
Ist L = T − V von einer bestimmten Koordinate nicht explizit abhängig, so findet man mit den<br />
Lagrange-Gleichungen zweiter Art sofort eine Erhaltungsgröße:<br />
d ∂L<br />
dt ∂ ˙qj<br />
− ∂L<br />
∂qj<br />
= d ∂L<br />
dt ∂ ˙qj<br />
= 0 ⇒ ∂L<br />
∂ ˙qj<br />
= konst . (4.4)<br />
Eine Koordinate qj heißt zyklisch, wenn ˙qj in L = T − V auftritt, nicht jedoch qj. Nach (4.4) ist also<br />
der sogenannte konjugierte Impuls (oder kanonische Impuls)<br />
pj ≡ ∂L<br />
∂ ˙qj<br />
eine Erhaltungsgröße, wenn qj eine zyklische Variable ist.<br />
Wir betrachten zwei Beispiele, eines mit und eines ohne zyklische Variablen:<br />
• Wurf: Es ist<br />
L = T − V = 1<br />
2 m( ˙x2 + ˙y 2 + ˙z 2 ) − mgz ,<br />
d.h. x und y sind zyklisch. Die entsprechenden Erhaltungsgrößen sind<br />
px = ∂L<br />
∂ ˙x = m ˙x , py = ∂L<br />
= m ˙y .<br />
∂ ˙y<br />
33<br />
(4.5)
• Pendel:<br />
Es ist<br />
und<br />
und damit<br />
T = 1<br />
2 m( ˙x2 + ˙y 2 ) = 1<br />
2 ml2 ˙ϕ 2<br />
V = mgy + konst = −mgl cos ϕ + konst<br />
L = 1<br />
2 ml2 ˙ϕ 2 + mgl cos ϕ + konst .<br />
Die einzige unabhängige Variable, ϕ, ist nicht zyklisch, und folglich ist der Drehimpuls pϕ =<br />
∂L/∂ ˙ϕ = ml 2 ˙ϕ nicht erhalten.<br />
Bemerkungen:<br />
(i) Ist qj keine kartesische Koordinate, so hat pj nicht notwendig die Dimension eines Impulses. Das<br />
Produkt pjqj hat aber immer dieselbe Dimension, nämlich die einer Wirkung, also kg m 2 s −1 .<br />
(ii) Für geschwindigkeitsabhängige Potenziale wird der konjugierte Impuls nicht mit dem üblichen mechanischen<br />
Impuls identisch sein. Für das Teilchen im elektromagnetischen Feld (3.13) gilt<br />
und damit<br />
L = 1<br />
2 m ˙ r 2 − eφ(r) + e A(r) · ˙ r (4.6)<br />
px = ∂L<br />
∂ ˙x = m ˙x + eAx . (4.7)<br />
Der letzte Term ist ein Zusatzterm, der den mechanischen Impuls vom kanonischen Impuls verschieden<br />
macht. Wenn φ und A unabhängig von r sind, so ist r zyklisch und (4.7) eine Erhaltungsgröße.<br />
(iii) Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Erhaltungsgrößen und Symmetrien. Ist ein physikalisches<br />
System invariant unter einer Verschiebung qj → q ′ j = qj + α, so hängt L nicht explizit<br />
von qj ab, und pj ist eine Erhaltungsgröße. So impliziert zum Beispiel eine Invarianz des Systems<br />
unter Translationen r → r ′ = r + αa die Impulserhaltung. (Siehe den Abschnitt 4.5 zum Noether-<br />
Theorem.)<br />
(iv) Zu L(q, ˙q, t) kann die totale zeitliche Ableitung einer Funktion addiert werden, ohne die Lagrange-<br />
Gleichungen zu ändern:<br />
L ′ (q, ˙q, t) = L(q, ˙q, t) + d<br />
f(q, t) . (4.8)<br />
dt<br />
Wir zeigen dies, indem wir nachrechnen, dass<br />
ist. Es ist nämlich<br />
d ∂ df ∂ df<br />
− = 0<br />
dt ∂ ˙qj dt ∂qj dt<br />
d ∂f<br />
f(q, t) = ˙qj +<br />
dt ∂qj j<br />
∂f<br />
∂t<br />
34
und damit<br />
und<br />
∂ df ∂f<br />
= und<br />
∂ ˙qj dt ∂qj<br />
d ∂ df ∂<br />
=<br />
dt ∂ ˙qj dt<br />
l<br />
2f ∂ql∂qj<br />
∂<br />
∂qj<br />
df <br />
=<br />
dt<br />
l<br />
∂ 2 f<br />
∂qj∂ql<br />
˙ql + ∂2f ,<br />
∂t∂qj<br />
˙ql + ∂2 f<br />
∂t∂qj<br />
was derselbe Ausdruck wie in der Zeile darüber ist. Koordinatentransformationen, die L bis auf<br />
eine totale Zeitableitung einer Funktion invariant lassen, heißen Symmetrietransformationen.<br />
4.3 Hamiltonfunktion<br />
Hängt L nicht explizit von der Zeit ab, ∂L/∂t = 0, dann gilt<br />
dL <br />
<br />
∂L<br />
= ˙qj +<br />
dt ∂qj<br />
∂L<br />
<br />
¨qj =<br />
∂ ˙qj<br />
<br />
<br />
d ∂L<br />
˙qj +<br />
dt ∂ ˙qj<br />
∂L<br />
<br />
¨qj =<br />
∂ ˙qj<br />
<br />
<br />
d ∂L<br />
˙qj .<br />
dt ∂ ˙qj<br />
j<br />
Also ist die sogenannte Hamiltonfunktion<br />
j<br />
H ≡ <br />
eine Erhaltungsgröße, d.h. dH/dt = 0, wenn ∂L/∂t = 0 ist.<br />
j<br />
j<br />
∂L<br />
˙qj − L (4.9)<br />
∂ ˙qj<br />
Als Beispiel betrachten wir eine gleitende Perle auf einem rotierenden, geraden Draht.<br />
Die Zwangsbedigung ϕ − ωt = 0 mit ω = konst ist rheonom. Wegen V = 0 gilt L = T = E. Die<br />
Lagrange-Funktion ist<br />
L = m<br />
2 ( ˙x2 + ˙y 2 ) = m<br />
2 <br />
2<br />
d<br />
d<br />
(r cos ϕ) + (r sin ϕ) =<br />
2 dt dt m<br />
2 ( ˙r2 + r 2 ω 2 ) = E = konst ,<br />
und die Hamiltonfunktion ist<br />
H = ∂L m<br />
˙r − L =<br />
∂ ˙r 2 ( ˙r2 − r 2 ω 2 ) = konst ,<br />
da ∂L/∂t = 0 ist.<br />
Wir können dies auch explizit nachrechnen: Aus den Lagrange-Gleichungen zweiter Art erhalten wir<br />
mit den Anfangsbedingungen r(0) = a und ˙r(0) = 0 die Lösung r(t) = a cosh(ωt) und ˙r(t) = aω sinh(ωt).<br />
Also ist<br />
E = m<br />
2 a2 ω 2 (sinh 2 (ωt) + cosh 2 (ωt)) = E(t)<br />
und<br />
H = m<br />
2 a2ω 2 (sinh 2 (ωt) − cosh 2 (ωt)<br />
<br />
=−1<br />
35<br />
) = konst .
4.4 Energieerhaltung<br />
Da Zwangskräfte in der Lagrangeschen <strong>Mechanik</strong> eliminiert sind, kann die reale Zwangsarbeit rheonomer<br />
Zwangsbedingungen nicht berücksichtigt werden. Folglich lässt sich für rheonome Zwangsbedingungen<br />
aus L nicht E = konst ableiten, wie das vorige Beispiel zeigt.<br />
Es gilt der folgende Satz: Wenn L nicht explizit zeitabängig ist, ist H konstant und entspricht für<br />
skleronome, holonome Zwangsbedingungen und konservative Kräfte der Gesamtenergie, d.h.,<br />
H = E = T + V . (4.10)<br />
Wir wir gesehen haben, sind aber im Allgemeinen die Bedingungen H = konst und H = E zwei<br />
verschiedene Sachverhalte.<br />
Wir zeigen, dass für konservative Kräfte und zeitunabhängiges L die Hamiltonfunktion H = T + V<br />
ist, indem wir benützen, dass ∂V/∂ ˙qj = 0 ist (woraus ∂L/∂ ˙qj = ∂T/∂ ˙qj folgt), und indem wir T durch<br />
die unabhängigen Koordinaten qj ausdrücken:<br />
T =<br />
Damit ist<br />
N<br />
i=1<br />
mi<br />
2 ˙ r 2 i =<br />
N<br />
i=1<br />
H = <br />
⎛<br />
mi ⎝<br />
2<br />
<br />
⎞2<br />
∂ri<br />
˙qj ⎠ =<br />
∂qj j<br />
1 N<br />
<br />
∂ri ∂ri<br />
mi ˙ql ˙qj =<br />
2<br />
∂ql ∂qj<br />
j i=1 l<br />
<br />
∂T/∂ ˙qj<br />
1 ∂T<br />
˙qj . (4.11)<br />
2 ∂ ˙qj j<br />
j<br />
∂L<br />
˙qj − L =<br />
∂ ˙qj<br />
∂T<br />
˙qj − L = 2T − L = T + V = E .<br />
∂ ˙qj j<br />
Nun haben wir genügend Werkzeuge erarbeitet, um mit Hilfe der Erhaltungsgrößen das Lösen der<br />
Bewegungsgleichungen zu vereinfachen. Wir nehmen wieder das Beispiel des Teilchens im Kreiskegel:<br />
Die Lagrange-Funktion hatten wir schon hergeleitet:<br />
L = T − V = m 2 2 2 2<br />
(1 + cot α) ˙r + r ˙ϕ<br />
2<br />
− mgr cot α .<br />
Sie hängt nicht explizit von ϕ ab, also ist ϕ eine zyklische Variable und<br />
pϕ = ∂L<br />
∂ ˙ϕ = mr2 ˙ϕ = konst (4.12)<br />
eine Erhaltungsgröße. Dies sieht man auch anhand der Bewegungsgleichung (2.15), die ja mr(2 ˙r ˙ϕ+r ¨ϕ) =<br />
d<br />
dt mr2 ˙ϕ = 0 lautet.<br />
Es gibt noch eine zweite Erhaltungsgröße, nämlich die Energie, deren Ausdruck sich von demjenigen<br />
für L nur durch das Vorzeichen des Potenzialterms unterscheidet:<br />
E = T + V = m 2 2 2 2<br />
(1 + cot α) ˙r + r ˙ϕ<br />
2<br />
+ mgr cot α = konst . (4.13)<br />
36
Auch diese Gleichung können wir aus den Bewegungsgleichungen herleiten, doch das ist umständlicher:<br />
Wir setzen (4.12) in (2.16) ein und multiplizieren mit ˙rm cot α und erhalten<br />
<br />
m (1 + cot 2 α) ˙r¨r − p2ϕ ˙r<br />
m2 <br />
+ g ˙r cot α =<br />
r3 d<br />
<br />
m<br />
dt 2 (1 + cot2 α) ˙r 2 + p2 <br />
ϕ<br />
+ gmr cot α = 0 .<br />
2mr2 Die zwei Gleichungen (4.12) und (4.13) sind Differenzialgleichungen erster Ordnung für die beiden<br />
unabhängigen Variablen r(t) und ϕ(t). Auflösen der Gleichung (4.13) nach dt und Integration ergibt<br />
t = ± 1<br />
<br />
dr<br />
. (4.14)<br />
sin α<br />
<br />
2<br />
m E − p2 ϕ<br />
2mr2 − mgr cot α<br />
Für Bahnbereiche, in denen r(t) wächst (fällt), ist das positive (negative) Vorzeichen zu nehmen. Diese<br />
Gleichung liefert r(t). Nach ihrer Berechnung kann ϕ(t) mit Hilfe der Gleichung (4.12) ermittelt werden:<br />
ϕ(t) = pϕ<br />
<br />
dt<br />
m r2 . (4.15)<br />
(t)<br />
Wir haben also gesehen, dass aufgrund der beiden Erhaltungsgrößen nur noch zwei Integrationen zur<br />
Berechnung des Bahnverlaufs nötig sind.<br />
Wir werden insbesondere im Zusammenhang mit der Planetenbewegung den Vorteil dieser Methode<br />
an weiteren Beispielen schätzen lernen.<br />
In dem betrachteten Beispiel gab es genauso viele Erhaltungsgrößen wie Freiheitsgrade, nämlich zwei,<br />
und dies ermöglichte es uns, explizite Ausdrücke für die Teilchenbahn zu ermitteln. Wir werden später<br />
sehen, dass ganz allgemein ein mechanisches System dann integrabel (also im Prinzip lösbar) ist, wenn<br />
die Zahl der unabhängigen Erhaltungsgrößen genauso groß ist wie die Zahl der Freiheitsgrade. Wenn die<br />
Zahl der Erhaltungsgrößen kleiner ist, ist das System nicht integrabel, sondern es führt auf chaotische<br />
Bewegung. Chaotische Systeme haben die Eigenschaft, dass sich ihr Zeitverlauf aus den Anfangsbedingungen<br />
nur begrenzt vorhersagen lässt, da winzige Veränderungen der Anfangsbedingungen schon nach<br />
kurzer Zeit zu einem völlig anderen Verhalten führen können.<br />
Leider gibt es für das Auffinden von Erhaltungsgrößen kein Patentrezept. Nur wenn Symmetrien vorliegen,<br />
können wir Erhaltungsgrößen auf einfach Weise finden, indem wir die generalisierten Koordinaten<br />
so wählen, dass mit der Symmetrie eine zyklische Variable verbunden ist. Im folgenden Teilkapitel sehen<br />
wir, dass ganz allgemein Symmetrien mit Erhaltungsgrößen verbunden sind.<br />
4.5 Das Noether-Theorem<br />
Wir haben gesehen, dass Koordinaten, deren Verschiebung<br />
qi → qi ′ = qi + α<br />
die Lagrange-Funktion nicht ändert, zyklisch sind, und dass die entsprechenden Impulse Erhaltungsgrößen<br />
sind.<br />
Wir wollen dieses Ergebnis jetzt verallgemeinern und zeigen, dass ein genereller Zusammenhang besteht<br />
zwischen dem Auftreten von Erhaltungsgrößen und Transformationen, die die Lagrange-Funktion<br />
nicht ändern, also invariant lassen. Zu diesem Zweck untersuchen wir die Koordinatentransformationen<br />
die invertierbar seien,<br />
qi → qi ′ = qi ′ (q1, . . . , q3N−k, t, α) , i = 1, . . . , 3N − k , (4.16)<br />
qi = qi(q ′ 1, . . . , q ′ 3N−k, t, α) , i = 1, . . . , 3N − k , (4.17)<br />
37
und in den kontinuierlichen Parametern α stetig differenzierbar sein müssen. Ferner soll für α = 0 die<br />
identische Transformation vorliegen,<br />
Wir schreiben verkürzt<br />
qi ′ (q1, . . . , q3N−k, t, α = 0) = qi , i = 1, . . . , 3N − k .<br />
qi ′ = qi ′ (q, t, α) und qi = qi(q ′ , t, α) .<br />
Wichtige Beispiele für solche Koordinatentransformationen sind Translationen<br />
und Rotationen um die z-Achse<br />
⎛<br />
⎝ x<br />
⎞ ⎛ ⎞<br />
y ⎠ → ⎠ =<br />
z<br />
⎝ x′<br />
y ′<br />
z ′<br />
⎛<br />
⎝<br />
r → r ′ = r + αa<br />
cos α − sin α 0<br />
sin α cos α 0<br />
0 0 1<br />
⎞ ⎛<br />
⎠ · ⎝ x<br />
⎞ ⎛<br />
y ⎠ = ⎝<br />
z<br />
x cos α − y sin α<br />
x sin α + y cos α<br />
z<br />
Die neue Lagrange-Funktion L ′ erhalten wir, indem wir in der alten Lagrange-Funktion die Ersetzung<br />
(4.17) machen:<br />
L ′ (q ′ , ˙q ′ <br />
, t, α) = L q(q ′ , t, α), d<br />
dt q(q′ <br />
, t, α), t . (4.18)<br />
Wir berechnen im Folgenden, wie L ′ sich mit α ändert und betrachten dann den Fall, dass L nicht<br />
von α abhängt. Dies wird uns einen Erhaltungssatz liefern.<br />
Es ist<br />
∂L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α)<br />
∂α<br />
=<br />
=<br />
3N−k <br />
i=1<br />
3N−k <br />
i=1<br />
= d<br />
dt<br />
<br />
∂L<br />
i=1<br />
∂qi(q ′ , t, α)<br />
∂α<br />
∂qi<br />
<br />
d ∂L ∂qi(q<br />
dt ∂ ˙qi<br />
′ , t, α)<br />
∂α<br />
<br />
3N−k ∂L ∂qi(q<br />
∂ ˙qi<br />
′ <br />
, t, α)<br />
.<br />
∂α<br />
+ ∂L ∂<br />
∂ ˙qi<br />
d<br />
dtqi(q ′ , t, α) <br />
∂α<br />
+ ∂L<br />
<br />
d<br />
∂ ˙qi dt<br />
∂qi(q ′ <br />
, t, α)<br />
∂α<br />
Diese Gleichung gilt für alle α. Wenn wir α = 0 setzen, gehen die qi ′ in die qi über. Es ist<br />
∂L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α)<br />
∂α<br />
<br />
<br />
<br />
α=0<br />
= d<br />
<br />
3N−k ∂L<br />
dt ∂ ˙qi i=1<br />
⎞<br />
⎠ .<br />
∂qi(q ′ <br />
, t, α)<br />
∂α<br />
.<br />
α=0<br />
(4.19)<br />
Bemerkung: Die partielle Ableitung bzgl. α ist bei festgehaltenen übrigen Argumenten der Funktion<br />
L ′ , also bei festen q ′ und ˙q ′ und t zu nehmen. Den Unterschied zwischen einer partiellen und einer<br />
totalen Ableitung wird deutlich, wenn man Gleichung (4.18) nach α ableitet: Während die Funktion L ′<br />
die Argumente q ′ , ˙q ′ , t, α hat, hat die Funktion L die Argumente q, ˙q, t. Weil q und ˙q widerum von α<br />
abhängen, können wir also schreiben<br />
∂L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α)<br />
∂α<br />
= dL(q, ˙q, t)<br />
dα<br />
wobei die Abhängigkeit von α auf der rechten Seite in den q und ˙q versteckt ist. Die Auswertung der<br />
rechten Seite erfolgt wie in der oben an (4.18) anschließenden Rechnung.<br />
Wir betrachten nun den Fall, dass die Koordinatentransformation (4.16) die Lagrange-Funktion invariant<br />
lässt:<br />
L(q, ˙q, t) (4.18)<br />
= L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α) Invarianz<br />
= L(q ′ , ˙q ′ , t) . (4.20)<br />
38
Dann haben die neuen Koordinaten qi ′ dieselbe Lagrange-Funktion und dieselben Bewegungsgleichungen<br />
wie die alten Koordinaten qi. Die neue Lagrange-Funktion hängt nicht vom Parameter α ab, also<br />
∂L ′<br />
<br />
<br />
= 0 .<br />
∂α<br />
i=1<br />
α=0<br />
Zusammen mit Gleichung (4.19) folgt damit das für die moderne Physik bedeutende Noether-Theorem:<br />
Die Funktion<br />
3N−k ∂L<br />
I(q, ˙q, t) =<br />
∂ ˙qi<br />
∂qi(q ′ <br />
, t, α) <br />
<br />
∂α<br />
(4.21)<br />
ist eine Erhaltungsgröße, wenn die Lagrange-Funktion unter der kontinuierlichen, stetig differenzierbaren<br />
Koordinatentransformation (4.16) invariant ist. Zu jeder Transformation (4.16), die die Lagrange-<br />
Funktion nicht ändert, gehört also eine Erhaltungsgröße, die durch (4.21) leicht ermittelt werden kann.<br />
Der Umkehrschluss gilt allerdings nicht: nicht zu jeder Erhaltungsgröße gibt es eine Symmetrietransformation<br />
der Lagrange-Funktion, wie wir im Zusammenhang mit der Planetenbewegung am Beispiel des<br />
Lenzschen Vektors sehen werden.<br />
Der Erhaltungssatz, der zu einer zyklischen Koordinate qi gehört, ist ein Spezialfall des Noether-<br />
Theorems, da die Unabhängigkeit der Lagrange-Funktion von qi die Invarianz von L unter Translation<br />
von qi zur Folge hat.<br />
Es gibt sogar auch dann eine Erhaltungsgröße, wenn die Lagrange-Funktion unter den Transformationen<br />
(4.16) nicht invariant ist, sondern einen zusätzlichen Term erhält, der die totale zeitliche Ableitung<br />
einer beliebigen Funktion F (q ′ , t, α) ist:<br />
Es folgt nämlich<br />
L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α) = L<br />
und folglich ist die Funktion<br />
eine Erhaltungsgröße.<br />
J(q, ˙q, t) =<br />
<br />
q(q ′ , t, α), d<br />
dt q(q′ <br />
, t, α), t<br />
∂L ′ (q ′ , ˙q ′ , t, α)<br />
∂α<br />
3N−k <br />
i=1<br />
<br />
<br />
<br />
∂L(q, ˙q, t)<br />
∂ ˙qi<br />
α=0<br />
= d<br />
dt<br />
∂qi(q ′ , t, α)<br />
∂α<br />
α=0<br />
= L(q ′ , ˙q ′ , t) + d<br />
dt F (q′ , t, α) . (4.22)<br />
∂F (q ′ , t, α)<br />
∂α<br />
<br />
<br />
<br />
α=0<br />
<br />
<br />
<br />
α=0<br />
− ∂F (q′ , t, α)<br />
∂α<br />
4.5.1 Die 10 Erhaltungsgrößen abgeschlossener N-Teilchensysteme<br />
,<br />
<br />
<br />
<br />
α=0<br />
(4.23)<br />
Wir leiten im Folgenden die im ersten Kapitel erwähnten 10 Erhaltungsgrößen abgeschlossener N-<br />
Teilchensysteme aus dem Noether-Theorem her. Wir beschränken uns auf den wichtigen Fall, dass die<br />
Zweiteilchenpotenziale nur vom Abstand der Teilchen abhängen. Die Lagrange-Funktion ist dann<br />
L =<br />
N<br />
i=1<br />
mi<br />
2 ˙ r 2 i −<br />
N<br />
Vij(|ri − rj|) .<br />
i
2. Die Lagrange-Funktion ist unter Drehungen invariant, denn sie hängt nur vom Betrag der Geschwindigkeits-<br />
und Abstandsvektoren ab, nicht von ihrer Richtung. Wir zeigen im Folgenden, dass aus<br />
Invarianz unter Drehungen um die z-Achse die Erhaltung von Lz folgt. Analog lässt sich die Erhaltung<br />
von Lx und Ly zeigen, so dass auch der Gesamtdrehimpuls<br />
zi<br />
L =<br />
N<br />
ri × pi<br />
i=1<br />
erhalten ist. Eine Rotation um die z-Achse entspricht der Transformation (vgl. die Gleichung vor<br />
(4.18))<br />
⎛<br />
⎝ xi<br />
⎞ ⎛<br />
⎞ ⎛<br />
′<br />
cos α sin α 0 xi<br />
yi ⎠ = ⎝ − sin α cos α 0 ⎠ · ⎝ yi<br />
0 0 1<br />
′<br />
zi ′<br />
⎞ ⎛<br />
⎠ = ⎝ xi ′ cos α + yi ′ sin α<br />
−xi ′ sin α + yi ′ ⎞<br />
cos α ⎠ .<br />
Also ist<br />
und<br />
Mit<br />
∂xi(r ′ , α)<br />
∂α<br />
∂yi(r ′ , α)<br />
∂α<br />
L ′ =<br />
N<br />
i=1<br />
ergibt sich die gesuchte Erhaltungsgröße zu<br />
N<br />
<br />
∂L<br />
i=1<br />
∂ ˙xi<br />
= −xi ′ sin α + yi ′ cos α = yi<br />
= −xi ′ cos α − yi ′ sin α = −xi .<br />
mi<br />
2 ˙ r ′ 2<br />
i −<br />
yi + ∂L<br />
<br />
(−yi) =<br />
∂ ˙yi<br />
N<br />
i
Die Erhaltungsgröße J(r, ˙ r, t) lautet<br />
N ∂L<br />
J =<br />
∂ ˙ r · ∂ri(r ′ <br />
, t, α)<br />
<br />
<br />
−<br />
∂α<br />
∂F<br />
<br />
<br />
<br />
∂α<br />
i=1<br />
α=0<br />
α=0<br />
=<br />
N<br />
(−pi · vt + miri · v) = (− P t + MrS) · v<br />
mit der Schwerpunktkoordinate rS und der Gesamtmasse M. Da J für jedes v eine Erhaltungsgröße<br />
ist, ist auch der Ausdruck in Klammern<br />
eine Erhaltungsgröße.<br />
i=1<br />
− P t + MrS<br />
Damit haben wir die 10 Erhaltungsgrößen bestimmt: E, L, P und − P t + MrS.<br />
Aufgaben<br />
1. Begründen Sie, dass ein eindimensionales mechanisches System m¨x = F (x), dessen Kraft nicht<br />
explizit zeitabhängig ist, nicht chaotisch sein kann.<br />
2. Betrachten Sie das Rollpendel.<br />
(a) Wieviele Freiheitsgrade und wieviele Erhaltungsgrößen hat dieses System? Schreiben Sie explizit<br />
die Erhaltungsgrößen hin. Nennen Sie diejenige Erhaltungsgröße, die nicht die Energie<br />
ist, px.<br />
(b) Berechnen Sie die Koordinaten (x2, y2) als Funktion von ϕ und zeigen Sie, dass sich m2 für<br />
px = 0 auf einer Ellipsenbahn bewegt.<br />
(c) Berechnen Sie den Zusammenhang zwischen ϕ und t in der Gestalt t = dϕ . . . .<br />
41
Kapitel 5<br />
Lagrange-Gleichungen erster Art<br />
5.1 Vorbemerkungen<br />
Die Lagrange-Gleichungen erster Art (Lagrange-I) sind den Lagrange-Gleichungen zweiter Art (Lagrange-<br />
II) recht ähnlich. Sie unterscheiden sich in drei Aspekten:<br />
1. In Lagrange-II wird die Lagrange-Funktion nur durch die 3N − k unabhängigen verallgemeinerten<br />
Koordinaten und die zugehörigen Geschwindigkeiten ausgedrückt. In Lagrange-I wird die Lagrange-<br />
Funktion durch alle 3N verallgemeinerten Koordinaten ausgedrückt. Man darf im Lagrange-I-<br />
Formalismus also keine Koordinaten mit Hilfe der Zwangsbedingungen eliminieren, wenn man die<br />
Lagrange-Funktion L = T − V aufstellt.<br />
2. Die Lagrange-I-Gleichungen sind den Lagrange-II-Gleichungen sehr ähnlich (s.u.), aber sie enthalten<br />
jeweils einen zusätzlichen Summanden, der von den Zwangskräften herrührt.<br />
3. Die Lagrange-I-Gleichungen gelten auch für nicht holonome Zwangsbedingungen, wenn diese sich<br />
in differenzieller Form schreiben lassen, während die Lagrange-II-Gleichungen nur für holonome<br />
Zwangsbedingungen gelten.<br />
Da in den Lagrange-I-Gleichungen die Zwangskräfte explizit drinstehen, ist es praktisch, sie zu verwenden,<br />
wenn man Zwangskräfte berechnen muss. Das Berechnen von Zwangskräften wird z.B. bei Gleitreibung<br />
nötig (weil F (R) = −f| Z|ˆv ist, siehe Abschnitt 3.4.1), bei der Berechnung der realen Zwangsarbeit<br />
bei rheonomen Zwangsbedingungen, oder auch bei der Dimensionierung von technischen Anlagen, z.B.<br />
Achterbahnen.<br />
Allerdings kann man bei holonomen Zwangsbedingungen die Zwangskräfte auch aus dem Lagrange-II-<br />
Formalismus herleiten. Wir demonstrieren dies im Folgenden, bevor wir dann den Lagrange-I-Formalismus<br />
vorstellen.<br />
Die Berechnung der Zwangskräfte über den Lagrange-II-Formalismus geht über die Beziehung (2.11),<br />
also<br />
Zi = mi ¨ ri − Fi .<br />
Wenn man die Lösung ri(t) bestimmt hat, hat man auch ¨ ri und damit Zi.<br />
Um diese Beziehung auf verallgemeinerte Koordinaten qj umzuschreiben (mit j = 1, . . . , 3N), definieren<br />
wir analog zu den verallgemeinerten Kräften Qj (siehe (3.2)) nun verallgemeinerte Zwangskräfte Zj<br />
als<br />
Zj<br />
≡<br />
(3.6)<br />
=<br />
N<br />
i=1<br />
d ∂T<br />
dt ∂ ˙qj<br />
Zi · ∂ri<br />
∂qj<br />
=<br />
N<br />
i=1<br />
mi ¨ ∂ri<br />
ri −<br />
∂qj<br />
N<br />
i=1<br />
Fi · ∂ri<br />
, j = 1, . . . , 3N<br />
∂qj<br />
− ∂T<br />
− Qj . (5.1)<br />
∂qj<br />
42
Falls sich die Kräfte Qj aus einem Potenzial gemäß (3.8) bzw. (3.12) ableiten lassen, so gilt mit<br />
L = T − V<br />
d ∂L<br />
−<br />
dt ∂ ˙qj<br />
∂L<br />
= Zj ,<br />
∂qj<br />
j = 1, . . . , 3N . (5.2)<br />
An dieser Stelle ist ganz wichtig, dass L nun eine Funktion von allen 3N Variablen ist und nicht nur der<br />
3N − k unabhängigen Variablen.<br />
Wir merken uns also den auch für das Folgende wichtigen Sachverhalt: Wenn man die Lagrange-<br />
Funktion durch alle 3N Variablen ausdrückt, steht bei den entsprechenden Lagrange-Gleichungen auf der<br />
rechten Seite nicht Null, sondern die jeweilige Komponente der verallgemeinerten Zwangskraft.<br />
(Man kann (5.2) wieder in die Lagrange-Gleichungen zweiter Art überführen, indem man mit den<br />
virtuellen Verrückungen δqj multipliziert und über j = 1, . . . , 3N summiert. Der Term mit den Zwangskräften<br />
verschwindet mit dem d’Alembert-Prinzip (2.21). Wenn man L nun als Funktion der 3N − k<br />
unabhängigen Variablen schreibt, verschwinden die Summanden für die abhängigen Variablen, und wir<br />
erhalten die Lagrange-II-Gleichungen (3.10) für die 3N − k unabhängigen Koordinaten.)<br />
Wir erhalten folgendes Rezept für die Berechnung der Zwangskräfte aus Lagrange-II bei holonomen<br />
Zwangsbedingungen:<br />
(i) Stelle L für die unabhängigen Koordinaten auf und löse Lagrange-II<br />
(ii) Drücke L durch alle 3N (abhängigen) Koordinaten aus und bestimme (5.2).<br />
Als Beispiel verwenden wir die gleitende Perle auf einem rotierenden, geraden Draht aus dem vorigen<br />
Kapitel.<br />
Zunächst stellen wir die Lagrange-Gleichungen zweiter Art auf und lösen sie:<br />
L = m<br />
2 ( ˙r2 + r 2 ω 2 ) ,<br />
¨r − rω = 0<br />
r(t) = a cosh(ωt) für r(t = 0) = a , ˙r(t = 0) = 0 .<br />
Dann nehmen wir die zweite Koordinate, ϕ, dazu und berechnen die Zwangskräfte:<br />
L = m<br />
2 ( ˙r2 + r 2 ˙ϕ 2 ) ,<br />
Zr = d ∂L ∂L<br />
−<br />
dt ∂ ˙r ∂r = m(¨r − r ˙ϕ2 ) = 0 ,<br />
Zϕ = d ∂L ∂L<br />
−<br />
dt ∂ ˙ϕ ∂ϕ = mr(2 ˙r ˙ϕ + r ¨ϕ) = ma2ω 2 sinh(2ωt) .<br />
Im letzten Schritt der Berechnung der Zwangskräfte haben wir jeweils r = a cosh(ωt) und ϕ = ωt<br />
eingesetzt und am Schluss das Additionstheorem 2 cosh(ωt) sinh(ωt) = sinh(2ωt) verwendet.<br />
43
5.2 Herleitung der Lagrange-Gleichungen erster Art<br />
Wir beginnen mit dem d’Alembert-Prinzip und (3.6), d.h.<br />
3N<br />
j=1<br />
<br />
d ∂T<br />
dt ∂ ˙qj<br />
− ∂T<br />
<br />
− Qj δqj = 0 ,<br />
∂qj<br />
bzw., falls die verallgemeinerten Kräfte Qj aus einem Potenzial V ableitbar sind,<br />
3N<br />
j=1<br />
<br />
d ∂L<br />
dt ∂ ˙qj<br />
− ∂L<br />
<br />
δqj = 0 . (5.3)<br />
∂qj<br />
Hierbei ist L eine Funktion von allen 3N Koordinaten und 3N Geschwindigkeiten.<br />
Ein solches “Variationsproblem” (nämlich die Bestimmung der qj(t) mit Nebenbedingungen – den<br />
Zwangsbedingungen) löst man mit Hilfe von sogenannten Lagrange-Multiplikatoren. Wir schreiben für<br />
die Zwangsbedingungen wie in (2.8)<br />
3N<br />
j=1<br />
Da für virtuelle Verrückungen dt = 0 ist, gilt<br />
Also gilt auch<br />
aijdqj + bidt = 0 , i = 1, . . . , k .<br />
3N<br />
j=1<br />
aijδqj = 0 , i = 1, . . . , k .<br />
k<br />
3N<br />
λi<br />
i=1 j=1<br />
aijδqj = 0 (5.4)<br />
mit zunächst beliebigen Lagrange-Multiplikatoren λi, die i.A. eine Funktion der qj und ˙qj und von t sind.<br />
Wenn man die Gleichungen gelöst und folglich q(t) bestimmt hat, hat man auch λi als Funktion der Zeit.<br />
Subtraktion von (5.3) und (5.4) gibt<br />
3N<br />
j=1<br />
<br />
d ∂L<br />
dt ∂ ˙qj<br />
− ∂L<br />
−<br />
∂qj<br />
k<br />
i=1<br />
λiaij<br />
<br />
δqj = 0 . (5.5)<br />
Nun kommt der entscheidende gedankliche Schritt: Wir können die λi so wählen, dass jede der Klammern<br />
in (5.5) verschwindet. Wir können nämlich die k Funktionen λi so wählen, dass k Klammern (sagen wir:<br />
Nummer 3N − k + 1 bis 3N) in (5.5) verschwinden. Dann haben wir noch eine verbleibende Summe<br />
über 3N − k Terme, in denen aber nun die δqj unabhängig voneinander gewählt werden können, weil<br />
wir ja 3N − k unabhängige Variablen haben. Also müssen auch die verbleibenden 3N − k Klammern<br />
verschwinden.<br />
Wir erhalten somit die Lagrange-Gleichungen erster Art:<br />
d ∂L<br />
dt ∂ ˙qj<br />
= ∂L<br />
+<br />
∂qj<br />
k<br />
λiaij , j = 1, . . . , 3N . (5.6)<br />
i=1<br />
Dies sind 3N Gleichungen für 3N +k Unbekannte (die qj und die λi), die zusammen mit den k Gleichungen<br />
für die Zwangsbedingungen alle Unbekannten festlegen.<br />
44
ist.<br />
Durch Vergleich mit (5.2) erkennen wir, dass<br />
k<br />
λiaij = Zj , j = 1, . . . , 3N (5.7)<br />
i=1<br />
Die Gebrauchsanweisung für Lagrange-Gleichungen erster Art ist die folgende:<br />
(i) Wähle 3N Koordinaten und stelle die Zwangsbedingungen in differenzieller Form auf.<br />
(ii) Schreibe L = T − V als Funktion der 6N Variablen qj, ˙qj.<br />
(iii) Stelle die 3N Lagrange-I-Gleichungen auf und löse sie zusammen mit den Zwangsbedingungen.<br />
Bemerkung: In der Praxis verwendet man auch gerne eine Variante mit weniger Koordinaten. Die eben<br />
durchgeführte Herleitung der Lagrange-I-Gleichungen kann auch mit n < 3N generalisierten Koordinaten<br />
durchgeführt werden, wobei n > 3N − k ist. Die Zahl der Lagrange-Parameter in (5.4) reduziert sich<br />
hierbei auf k + n − 3N. In der Gleichung (5.6) ist dann i nur bis k + n − 3N zu summieren, und j läuft<br />
von 1 bis n.<br />
5.3 Beispiele<br />
5.3.1 Teilchen im Kreiskegel<br />
x<br />
z<br />
ϕ<br />
r<br />
g<br />
y<br />
Wir wählen als Koordinaten die Zylinderkoordinaten z, r, ϕ. Die Zwangsbedingung ist f(z, r, ϕ) =<br />
r − z tan α = 0, bzw. in differenzieller Form:<br />
Die Lagrange-Funktion ist<br />
Die Lagrange-I-Gleichungen sind also<br />
∂f ∂f<br />
dz + dr = − tan α dz + dr = 0 .<br />
∂z ∂r<br />
L = T − V = m<br />
2 ( ˙z2 + ˙r 2 + r 2 ˙ϕ 2 ) − mgz .<br />
d ∂L ∂L<br />
− = λ∂f ⇒ m¨z + mg = −λ tan α<br />
dt ∂ ˙z ∂z ∂z<br />
d ∂L ∂L<br />
− = λ∂f<br />
dt ∂ ˙r ∂r ∂r ⇒ m¨r − mr ˙ϕ2 = λ<br />
d ∂L ∂L ∂f<br />
− = λ<br />
dt ∂ ˙ϕ ∂ϕ ∂ϕ ⇒ mr2 ¨ϕ + 2mr ˙r ˙ϕ = 0 .<br />
45
Wir haben also drei Lagrange-I-Gleichungen und eine Zwangsbedingung zur Bestimmung der 4 Unbekannten<br />
z(t), r(t), ϕ(t), λ(t). Wenn man die Unbekannten bestimmt hat, hat man auch die Zwangskräfte:<br />
Zz = −λ(t) tan α Zr = λ(t) , Zϕ = 0 .<br />
Zur Lösung dieser Gleichungen kann man zunächst die Zwangskraft samt einer der drei Variablen (z.B.<br />
z) eliminieren und die Bewegungsgleichungen für die nun unabhängigen verbleibenden Variablen r und ϕ<br />
lösen. Hierzu kann man die Zwangsbedingung in der Form ¨z = ¨r cot α in die erste Lagrange-I-Gleichung<br />
einsetzen (das gibt m(¨r cot α + g) = −λ tan α) und dann hierzu die mit tan α multiplizierte zweite<br />
Lagrange-I-Gleichung addieren. Dies gibt<br />
(tan α + cot α)¨r − r ˙ϕ 2 tan α + g = 0 .<br />
Zusammen mit der dritten Lagrange-I-Gleichung haben wir wieder die schon bekannten Bewegungsgleichungen<br />
ermittelt. Wenn man r(t) und ϕ(t) berechnet hat, kann man dann über die Zwangsbedingung<br />
auch z(t) bestimmen und über eine der drei Lagrange-I-Gleichungen dann λ(t). Dann hat man auch Zz<br />
und Zϕ.<br />
5.3.2 Rollpendel<br />
Im Folgenden stellen wir die Lagrange-Gleichungen erster Art für das Rollpendel auf und bestimmen einen<br />
Zusammenhang zwischen der Zwangskraft, die die Schiene ausübt, und der Zwangskraft, die der Faden<br />
ausübt. Die Lagrange-Gleichungen zweiter Art für das Rollpendel haben wir in Abschnitt 3.3 aufgestellt.<br />
Die beiden Zwangsbedingungen lauten<br />
und<br />
f1(x1, y1, r, ϕ) = y1 = 0<br />
f2(x1, y1, r, ϕ) = r − l = 0 .<br />
Nur zwei der insgesamt 8 partiellen Ableitungen der beiden Zwangsbedingungen nach den 4 Variablen<br />
sind von Null verschieden. Diese partiellen Ableitungen entsprechen den Koeffizienten aij aus (2.8), und<br />
die beiden von Null verschiedenen Koeffizienten sind<br />
Die Lagrange-Funktion ist<br />
T − V = m1<br />
2<br />
∂f1<br />
∂y1<br />
= a12 = 1 und ∂f2<br />
∂r = a23 = 1 .<br />
2<br />
˙x 1 + ˙y 2 m2 2<br />
1 + ˙x 2 + ˙y<br />
2<br />
2 2 − m1gy1 − m2gy2 ,<br />
bzw ausgedrückt durch die verallgemeinerten Koordinaten r und ϕ statt x2 = x1 + r sin ϕ und y2 =<br />
y1 − r cos ϕ:<br />
L = m1 + m2<br />
2<br />
2<br />
˙x 1 + ˙y 2 m2 2 2 2<br />
1 + ˙r + r ˙ϕ + 2 ˙r ( ˙x1 sin ϕ − ˙y1 cos ϕ) + 2r ˙ϕ ( ˙x1 cos ϕ + ˙y1 sin ϕ)<br />
2<br />
−m1gy1−m2g(y1−r cos ϕ) .<br />
Die Lagrange-Gleichungen lauten nach Einsetzen der Zwangsbedingungen:<br />
Lx1 : (m1 + m2)¨x1 + m2l( ¨ϕ cos ϕ − ˙ϕ 2 sin ϕ) = 0 (5.8)<br />
Ly1 : m2l( ¨ϕ sin ϕ + ˙ϕ 2 cos ϕ) + (m1 + m2)g = λ1 = ZSchiene (5.9)<br />
Lr : m2(¨x1 sin ϕ − l ˙ϕ 2 − g cos ϕ) = λ2 = −ZF aden (5.10)<br />
Lϕ : m2l(¨x1 cos ϕ − l ¨ϕ + g sin ϕ) = 0 . (5.11)<br />
Die erste und letzte dieser Gleichungen sind die Bewegungsgleichungen für x1 und ϕ, die wir schon früher<br />
hergeleitet haben. Für den Fall px1 = 0 berechnen wir in den Übungen eine Lösung (Aufgabe 2 zu Kapitel<br />
46
4). Wenn man eine Lösung hat, kann man mit Hilfe der zweiten und dritten Gleichung die Zwangskräfte<br />
ermitteln.<br />
Wir bestimmen jetzt noch einen Zusammenhang der beiden verallgemeinerten Zwangskräfte: ZSchiene<br />
lässt sich mit der vierten Lagrange-Gleichung umrechnen:<br />
ZSchiene = (m1 + m2 cos 2 ϕ)g + m2(l ˙ϕ 2 − ¨x1 sin ϕ) cos ϕ = m1g + ZF aden cos ϕ .<br />
Dieses Ergebnis ist anschaulich plausibel, da die Schiene zum einen die Gewichtskraft der Masse m1 und<br />
zum anderen die Zugkraft des Fadens kompensieren muss.<br />
5.3.3 Ein Beispiel mit Reibung<br />
Als weiteres Beispiel betrachten wir eine Perle auf einem ruhenden, parabelförmigen Draht mit Gleitreibung,<br />
Die Dissipationsfunktion (3.21) ist<br />
F (R) = −f| Z|ˆv = −f| ( ˙x, ˙y)<br />
Z| <br />
˙x 2 + ˙y 2 .<br />
P =<br />
v<br />
0<br />
f| Z|dˆv = f| Z| ˙x 2 + ˙y 2 .<br />
Die Zwangsbedingung lautet f(x, y) = y − ax 2 = 0, bzw. df = dy − 2ax dx.<br />
Die Lagrange-Funktion ist<br />
L = T − V = m<br />
2 ( ˙x2 + ˙y 2 ) − mgy ,<br />
und die Lagrange-I-Gleichungen sind<br />
und<br />
d ∂L ∂L ∂P<br />
− +<br />
dt ∂ ˙x ∂x ∂ ˙x<br />
d ∂L ∂L ∂P<br />
− +<br />
dt ∂ ˙y ∂y ∂ ˙y<br />
= λ∂f<br />
∂x ⇒ m¨x + f| ˙x<br />
Z| = −2axλ = Zx<br />
˙x 2 + ˙y 2<br />
= λ∂f<br />
∂y ⇒ m¨y + mg + f| ˙y<br />
Z| <br />
˙x 2 + ˙y 2 = λ = Zy .<br />
Wir verwenden die Zwangsbedingung, um y zu eliminieren: y − ax 2 = 0 ⇒ ˙y = 2ax ˙x , ¨y = 2a( ˙x 2 + x¨x).<br />
Der Betrag der Zwangskraft ist | Z| =<br />
<br />
Z 2 x + Z 2 y = λ √ 4a 2 x 2 + 1, er ist also von y unabhängig.<br />
Dies ist in die beiden Lagrange-I-Gleichungen einzusetzen, aus denen dann λ eliminiert werden kann.<br />
Das Vorzeichen der Wurzel und damit die Richtung der Zwangskraft hängt davon ab, ob die Perle sich<br />
gerade nach rechts bewegt (positives ˙x) oder nach links (negatives ˙x). Es ergibt sich für ˙x > 0:<br />
m¨x + fλ√ 4a 2 x 2 + 1 ˙x<br />
√ ˙x 2 + 4a 2 x 2 ˙x 2<br />
= −2axλ ⇒ m¨x + fλ = −2axλ<br />
47
und<br />
2ma( ˙x 2 + x¨x) + mg + fλ√ 4a 2 x 2 + 1 2ax ˙x<br />
√ ˙x 2 + 4a 2 x 2 ˙x 2 = λ ⇒ 2ma( ˙x2 + x¨x) + mg + 2axfλ = λ .<br />
Elimination von λ führt nach elementaren Rechenschritten auf<br />
Für ˙x < 0 ergibt sich entsprechend<br />
(1 + 4a 2 x 2 )¨x + (2ax + f)(2a ˙x 2 + g) = 0 .<br />
(1 + 4a 2 x 2 )¨x + (2ax − f)(2a ˙x 2 + g) = 0 .<br />
Damit haben wir sowohl die Zwangskräfte, als auch die Bewegungsgleichungen bestimmt.<br />
Aufgaben<br />
1. In dem Beispiel mit der Leiter an der Wand (s. Ende von Kapitel 2) wurde die Kraft F auf ein Seil,<br />
das die Leiter an ihrem Ort festhält, mit Hilfe des d’Alembert-Prinzips errechnet. Bestimmen Sie<br />
die Zwangskraft F nun mit den Lagrange-Gleichungen erster Art.<br />
2. Berechnen Sie die Lagrange-Gleichungen erster Art und die Ausdrücke für die verallgemeinerte<br />
Zwangskraft für ein gewöhnliches Pendel, also für eine Masse m an einem Faden der Länge l, das<br />
nur in der x − y-Ebene schwingen kann.<br />
3. (Aufgabe 2 der Bachelor-Klausur von 2005)<br />
48
Ein Massepunkt (1) bewegt sich auf der x-Achse und ein zweiter Massepunkt (2) bewegt sich auf<br />
der y-Achse. Beide Massepunkte haben gleiche Massen m und sind durch eine masselose Stange<br />
der Länge b miteinander verbunden. Die Bewegung sei reibungsfrei und die Schwerkraft wirke in<br />
Richtung der Winkelhalbierenden der x-Richtung und y-Richtung.<br />
(a) Stellen Sie die lagrangeschen Bewegungsgleichungen erster Art für x1 und y2 auf.<br />
(b) Drücken Sie x1 und y2 durch den Winkel ϕ der Stange mit der x-Achse aus und berechnen Sie<br />
die Bewegungsgleichung für ϕ.<br />
(c) Bestimmen Sie die Gleichgewichtslagen.<br />
(d) Berechnen Sie die Frequenz ω0 der Schwingung für kleine Auslenkungen aus der stabilen Gleichgewichtslage.<br />
49
Kapitel 6<br />
Hamiltonsches Prinzip<br />
Das von W. R. Hamilton (1805 - 1864) im Alter von 18 Jahren entdeckte Hamiltonsche Prinzip ist gleichwertig<br />
mit den Lagrange-Formalismen. Letztere können sehr effizient aus dem Hamiltonschen Prinzip<br />
abgeleitet werden. Das Hamiltonsche Prinzip ist ein Extremalprinzip. Wir werden also eine Größe definieren,<br />
die durch die klassischen Bahnen minimiert oder maximiert wird oder dort einen Sattelpunkt<br />
hat. Diese Größe ist die sogenannte “Wirkung”. Solche Extremalprinzipien stecken nicht nur hinter den<br />
Bewegungsgleichungen der klassischen <strong>Mechanik</strong>, sondern treten auch in anderen Gebieten der Physik<br />
auf. Ein Beispiel hierfür ist das Prinzip der Strahlenoptik, dass die Lichtstrahlen den zeitlich kürzesten<br />
Weg nehmen.<br />
6.1 Variationsrechnung (ohne Nebenbedingungen)<br />
Bevor wir das Hamiltonsche Prinzip behandeln, befassen wir uns zunächst allgemein mit der Variationsrechnung.<br />
Bei der Variationsrechnung geht es darum, eine Funktion zu finden, die eine bestimmte Größe<br />
maximiert oder minimiert. Wir formulieren diese Aufgabe folgendermaßen:<br />
Gegeben sei eine Funktion F = F (y(x), y ′ (x), x) mit stetig differenzierbarem y(x) und mit y ′ (x) ≡<br />
dy/dx. Gegeben seien außerdem zwei Punkte P1 und P2 mit den Koordinaten (x1, y1) und (x2, y2). Für<br />
welche Kurve y(x) zwischen P1 und P2 wird das Integral<br />
x2<br />
I ≡ F (y(x), y ′ (x), x) dx (6.1)<br />
extremal?<br />
x1<br />
Zur Lösung dieser Aufgabe betrachten wir alle Kurven in der Umgebung der gesuchten Lösung: Sei<br />
y(x) die gesuchte Kurve und η(x) eine beliebige Funktion mit η(x1) = η(x2) = 0. Dann heißt<br />
die variierte Kurve. ε ist ein kleiner Parameter, und<br />
heißt Variation der Kurve y(x). Es gilt<br />
d.h. Variation und Differentiation sind vertauschbar.<br />
ˆy(x) = y(x) + εη(x) (6.2)<br />
δy(x) ≡ εη(x) (6.3)<br />
d<br />
dx δy(x) = εη′ (x) ≡ δy ′ (x) = δ d<br />
y(x) , (6.4)<br />
dx<br />
50
Nach diesen Definitionen und Vorüberlegungen betrachten wir jetzt das Integral I, wobei wir für y(x)<br />
den Ansatz (6.2) einsetzen und I als Funktion von ɛ ansehen:<br />
x2<br />
I(ε) ≡ F (y + εη, y ′ + εη ′ , x) dx . (6.5)<br />
Wir suchen ein Extremum von I. Das bedeutet, dass<br />
x2<br />
dI <br />
′<br />
<br />
∂F (y, y , x)<br />
dε =<br />
ε=0 x1 ∂y<br />
x1<br />
η(x) + ∂F (y, y′ , x)<br />
∂y ′ η ′ (x)<br />
<br />
dx = 0 (6.6)<br />
sein muss für alle Funktionen η(x).<br />
Wir formen den zweiten Summanden durch partielle Integration um:<br />
x2<br />
∂F (y, y<br />
x1<br />
′ , x)<br />
∂y ′ η ′ x2<br />
partielle Integration d ∂F (y, y<br />
(x)dx = −<br />
x1 dx<br />
′ <br />
, x)<br />
η(x) dx +<br />
∂y<br />
∂F (y, y′ , x)<br />
∂y ′<br />
x2<br />
<br />
η(x) <br />
. (6.7)<br />
x1<br />
<br />
Eingesetzt in (6.6) ergibt sich<br />
x2<br />
x1<br />
∂F (y, y ′ , x)<br />
∂y<br />
− d<br />
dx<br />
Dies ist genau dann für alle möglichen Funktionen η(x) erfüllt, wenn<br />
null, da η(x1)=η(x2)=0<br />
∂F (y, y ′ , x)<br />
∂y ′<br />
<br />
η(x)dx = 0 (6.8)<br />
d ∂F ∂F<br />
− = 0 (6.9)<br />
dx ∂y ′ ∂y<br />
ist. (Das folgt aus dem “Fundamental-Lemma der Variationsrechnung ohne Nebenbedingungen”.)<br />
Wir haben also die Aufgabe, das Integral I zu maximieren (oder minimieren), zurückgeführt auf die<br />
Aufgabe, die Differenzialgleichung (6.9) zu lösen.<br />
Hängt der Integrand F (y, y ′ ) nicht explizit von x ab, ist es zur Lösung konkreter Aufgaben zweckmäßig,<br />
die Bedingung (6.9) auf die Bedingung<br />
′ ∂F<br />
H ≡ F − y = konst (6.10)<br />
∂y ′<br />
umzuschreiben.<br />
Test: H = konst bedeutet dH/dx = 0, und dies sieht man anhand von<br />
<br />
dH ∂F ∂F ∂F d ∂F ∂F d ∂F<br />
= y′ + y′′ − y′′ − y′ = y′ −<br />
dx ∂y ∂y ′ ∂y ′ dx ∂y ′ ∂y dx ∂y ′<br />
<br />
= 0 .<br />
<br />
=0 nach Gl. (6.9)<br />
Also ist H = konst genau dann erfüllt, wenn Gl. (6.9) erfüllt ist.<br />
6.2 Beispiel: Brachistochronen-Problem<br />
Als Beispiel für die Variationsrechnung mit einer Variablen betrachten wir das sogenannte Brachistochronen-<br />
Problem. Dieses in der Geschichte der Mathematik berühmte Problem wurde 1696 von Johann Bernoulli<br />
gestellt und begründete die Variationsrechnung: Ein Massepunkt mit Anfangsgeschwindigkeit Null soll<br />
im Gravitationsfeld reibungsfrei von P1 = (x1, 0) nach P2 = (x2, y2) laufen. (Es zeige die y-Achse in<br />
Richtung der Gravitationskraft, so dass y2 > 0 ist.) Gesucht ist diejenige Zwangsfläche, die die hierfür<br />
benötigte Zeit minimiert.<br />
51
Wir beschreiben die Zwangsfläche, auf der die Masse rutscht, durch die Kurve y(x), wobei y(x1) = 0<br />
und y(x2) = y2 ist. Die Laufzeit ist gegeben durch<br />
mit<br />
x2<br />
T =<br />
ds 2 = dx 2 + dy 2 und 1<br />
2 mv2 = mgy(x) .<br />
(Beim letzten Schritt haben wir den Energieerhaltungssatz mit v0 = 0 verwendet.) Also ist<br />
T = 1<br />
<br />
<br />
x2<br />
1 + y<br />
√<br />
2g x1<br />
′2<br />
dx .<br />
y<br />
Ein Extremum von T zu finden bedeutet, Gl. (6.9) mit F = (1 + y ′2 )/y zu lösen, bzw. die Gleichung<br />
(6.10) H = konst mit H = F − y ′ ∂F/∂y ′ zu lösen.<br />
Letzteres führt auf <br />
1<br />
(1 + y ′2 = c<br />
)y<br />
bzw. mit der Ersetzung r0 = 1/(2c 2 )<br />
Mit der Substitution<br />
wird dies zu<br />
x2 − x1 = 2r0<br />
ϕ2<br />
ϕ1<br />
2 ϕ<br />
sin<br />
2<br />
cos ϕ<br />
2<br />
<br />
1 − sin<br />
2 ϕ<br />
2<br />
x1<br />
ds<br />
v<br />
x2 y2<br />
y<br />
dx =<br />
dy .<br />
2r0 − y<br />
x1<br />
y1<br />
2 ϕ<br />
y = 2r0 sin<br />
2 = r0(1 − cos ϕ)<br />
ϕ2<br />
ϕ2<br />
2 ϕ<br />
dϕ = 2r0 sin dϕ = r0<br />
2<br />
ϕ1<br />
ϕ1<br />
(1 − cos ϕ)dϕ = r0(ϕ − sin ϕ)| ϕ2<br />
ϕ1 .<br />
Zur Vereinfachung setzen wir x1 = 0. Außerdem ist wegen y1 = 0 auch ϕ1 = 0. Dann gilt<br />
y2 = r0(1 − cos ϕ2) und x2 = r0(ϕ2 − sin ϕ2) .<br />
Diese beiden Gleichungen legen die Parameter r0 und ϕ2 fest, weil ja x2 und y2 gegeben sind. Wenn wir<br />
als obere Integrationsgrenze nicht x2 und y2 bzw. ϕ2 wählen, sondern einen beliebigen Wert zwischen<br />
dem Anfangs- und Endpunkt, erhalten wir die gesamte Form der Zwangsfläche:<br />
y = r0(1 − cos ϕ) und x = r0(ϕ − sin ϕ) .<br />
Man nennt dies eine Zykloide. Die Steigung y ′ = dy/dx bekommt man, indem man dy/dϕ und dx/dϕ<br />
berechnet und durcheinander dividiert. Dies ergibt<br />
dy sin ϕ<br />
=<br />
dx 1 − cos ϕ ,<br />
was für ϕ < π positiv ist und für ϕ > π negativ wird. Wenn also x2/y2 so groß ist, dass ϕ > π wird,<br />
hat die Zwangsfläche ein Minimum, d.h. der tiefste Punkt liegt tiefer als der Endpunkt. Dies tritt auf für<br />
x2 > y2π/2.<br />
52
6.3 Verallgemeinerung auf mehrere Variablen<br />
Wenn F von mehreren Funktionen yi(x) und ihren Ableitungen abhängt, also F = F (y1, ..., yn; y ′ 1, ..., y ′ n; x),<br />
dann erhalten wir ganz analog<br />
d ∂F ∂F<br />
− = 0 , i = 1, ..., n . (6.11)<br />
dx ∂yi<br />
′ ∂yi<br />
Diese Gleichungen werden als Euler-Lagrange-Gleichungen bezeichnet. Wir definieren wieder ˆyi(x) =<br />
yi(x) + δyi(x) mit δyi(x) = ɛiηi(x). Die Variation δI des Integrals (6.1) auf den Kurven yi(x) ist definiert<br />
als<br />
δI =<br />
n<br />
i=1<br />
εi<br />
<br />
x2<br />
∂I <br />
n<br />
<br />
<br />
∂F<br />
∂εi<br />
=<br />
−<br />
ε1=...=εn=0 x1 ∂yi<br />
d ∂F<br />
dx ∂yi ′<br />
<br />
δyidx . (6.12)<br />
I heißt stationär falls δI = 0 ist für alle ηi(x), also wenn die Euler-Lagrange-Gleichungen erfüllt sind.<br />
Wenn I stationär ist, heißt das allerdings noch nicht, dass ein Maximum oder Minimum von I vorliegt.<br />
Es kann auch eine Art “Sattelpunkt” vorliegen. Aber für das folgende Hamiltonsche Prinzip ist die Frage,<br />
ob I extremal ist oder “nur” stationär, irrelevant, da in seiner Formulierung nur erwähnt wird, dass I<br />
stationär ist. Es wird keine Aussage darüber gemacht, dass I einen Extremwert annehmen muss.<br />
6.4 Hamiltonsches Prinzip<br />
Die Euler-Lagrange-Gleichungen haben genau die Form der Lagrange-Gleichungen zweiter Art. Dies sehen<br />
wir, wenn wir die Ersetzungen x → t, y → q, F → L machen. Die Funktion I nennen wir jetzt S.<br />
Das Hamiltonsche Prinzip lautet folgendermaßen: Die Bewegung eines mechanischen Systems zwischen<br />
den Zeiten t1 und t2 verläuft derart, dass die Wirkung<br />
Das bedeutet, dass<br />
i=1<br />
t2<br />
S ≡ L (q, ˙q, t) dt stationär ist. (6.13)<br />
t1<br />
δS = 0 (6.14)<br />
ist, was auch das Prinzip der stationären Wirkung genannt wird. In der Formulierung (6.13) ist dieses<br />
Prinzip für alle Systeme gültig, deren Kräfte sich gemäß (3.8) oder (3.12) aus einem Potenzial ableiten<br />
lassen und deren Zwangsbedingungen holonom bzw. differentiell sind.<br />
Wenn es k holonome Zwangsbedingungen gibt, ist L = L (q1, ..., q3N−k; q1, ˙ ..., ˙q3N−k; t) und<br />
t2<br />
δS =<br />
t1<br />
3N−k <br />
j=1<br />
<br />
∂L<br />
−<br />
∂qj<br />
d<br />
<br />
∂L<br />
δqjdt = 0 . (6.15)<br />
dt ∂qj ˙<br />
Hier repräsentiert δqi(t) eine Variation von qi(t) zum Zeitpunkt t. Das entspricht der in Kapitel 2 definierten<br />
virtuellen Verrückung. Mit (6.15) ist nach dem Fundamental-Lemma der Variationsrechnung das<br />
Hamiltonsche Prinzip zu den Lagrange-Gleichungen zweiter Art (3.10) äquivalent.<br />
Mit dem Hamiltonschen Prinzip lässt sich auf elegante Art die “Eichinvarianz” der Lagrange-Gleichungen<br />
zeigen, also dass die zwei Lagrange-Funktionen L(q, ˙q, t) und L ′ (q, ˙q, t) mit<br />
L ′ (q, ˙q, t) = cL(q, ˙q, t) + d<br />
f(q, t) (6.16)<br />
dt<br />
auf dieselben Lagrange-Gleichungen führen. Wir haben dies schon in Anschluss an (4.8) gezeigt, und wir<br />
53
zeigen dies jetzt nochmal auf eine andere Art:<br />
t2<br />
δ Ldt = 0<br />
t1<br />
t2<br />
⇒ δ<br />
t1<br />
L ′ t2<br />
dt = δ c<br />
t2<br />
= δ<br />
= 0<br />
t1<br />
t1<br />
t2<br />
Ldt +<br />
da an den Endpunkten keine Variation durchgeführt wird.<br />
t1<br />
<br />
d<br />
f(q, t)dt<br />
dt<br />
d<br />
dt f(q, t)dt = δ (f (q(t2), t2) − f (q(t1), t1))<br />
6.5 Variation mit Nebenbedingungen und Lagrange-Gleichungen<br />
erster Art<br />
Die Lagrange-Gleichungen erster Art (5.6) lassen sich durch die Methode der Lagrange-Multiplikatoren<br />
ableiten. Die Lagrange-Funktion wird jetzt in Abhängigkeit von allen 3N verallgemeinerten Koordinaten<br />
aufgestellt. Die Gleichung (6.15) wird also dahingehend geändert, dass eine Summation über alle 3N<br />
verallgemeinerten Koordinaten auftritt,<br />
t2<br />
t1<br />
3N<br />
j=1<br />
<br />
∂L<br />
−<br />
∂qj<br />
d<br />
<br />
∂L<br />
δqjdt = 0 . (6.17)<br />
dt ∂qj ˙<br />
Die virtuellen Verrückungen δqi(t) sind Zwangsbedingungen unterworfen und nicht unabhängig. Es gilt<br />
wieder<br />
3N<br />
aijδqj = 0 , i = 1, . . . , k .<br />
Wir addieren nun einen Term<br />
zu (6.17) und erhalten<br />
t2<br />
t1<br />
3N<br />
j=1<br />
j=1<br />
t2<br />
t1<br />
3N<br />
j=1 i=1<br />
<br />
∂L<br />
−<br />
∂qj<br />
d ∂L<br />
+<br />
dt ∂qj ˙<br />
k<br />
λiaijδqjdt = 0<br />
k<br />
i=1<br />
λiaij<br />
<br />
δqjdt = 0 . (6.18)<br />
Die Lagrangeschen Multiplikatoren λi werden so gewählt, dass die Terme in den k runden Klammern, die<br />
vor den k abhängigen δqj stehen, Null ergeben. Die restlichen 3N − k Klammern verschwinden ebenfalls,<br />
da die zugehörigen δqj unabhängig sind. Es ergeben sich also wieder die Lagrange-Gleichungen erster Art<br />
(5.6).<br />
6.6 Beispiele<br />
Als erstes Beispielsystem betrachten wir einen harmonischen Oszillator. Hier werden wir zeigen, dass die<br />
Wirkung nicht immer minimal ist, sondern dass sie für Zeiten, die größer als die halbe Schwingungsperiode<br />
sind, einen Sattelpunkt hat.<br />
Die Wirkung des harmonischen Oszillators ist<br />
t2<br />
m<br />
S[x] =<br />
2 ˙x2 − D<br />
2 x2<br />
<br />
dt .<br />
t1<br />
54
Wir setzen in Folgenden t1 = 0 und x(t1) = 0. Die Lösung der Bewegungsgleichungen ist x(t) = A sin ωt<br />
mit ω = D/m, und sie ist die Lösung der Bedingung δS = 0. Wir betrachten nun eine variierte Bahn<br />
ˆx(t) = x(t) + ɛη(t)<br />
mit η(0) = η(t2) = 0. Für diese Bahn lautet die Wirkung<br />
t2<br />
S[x + ɛη] = S[x] + ɛ [m ˙x ˙η − Dxη]dt + ɛ2<br />
2<br />
0<br />
t2 2 2<br />
m ˙η − Dη dt .<br />
Wir integrieren jeweils den ersten Term in den eckigen Klammern partiell und verwenden η(0) = η(t2) = 0.<br />
Dies führt auf<br />
t2<br />
S[x + ɛη] = S[x] − ɛ [m¨x + Dx]ηdt −<br />
0<br />
<br />
=0<br />
ɛ2<br />
t2<br />
[m¨η + Dη] ηdt ≡ S[x] + ∆S .<br />
2 0<br />
Wir entwickeln die Abweichungen η(t) in eine Fourierreihe,<br />
0<br />
η(t) =<br />
∞<br />
k=1<br />
<br />
kπ<br />
bk sin t<br />
t2<br />
und benutzen die Orthogonalitätsrelationen<br />
<br />
t2<br />
kπ lπ<br />
sin t sin t dt =<br />
t2 t2<br />
t2<br />
2 δkl ,<br />
woraus<br />
m¨η + Dη =<br />
folgt. Also ist<br />
∆S = − ɛ2<br />
∞<br />
<br />
2<br />
kπ<br />
D − m<br />
2<br />
Für<br />
k,l=1<br />
t2<br />
bkbl<br />
∞<br />
<br />
2 <br />
kπ<br />
kπ<br />
D − m bk sin t<br />
t2<br />
t2<br />
k=1<br />
t2<br />
0<br />
<br />
kπ lπ<br />
sin t sin t dt = −<br />
t2 t2<br />
ɛ2 t2<br />
2 2<br />
<br />
m π<br />
t2 > π = =<br />
D ω0<br />
T<br />
2<br />
0<br />
∞<br />
<br />
2<br />
kπ<br />
D − m<br />
gibt es ein k0 so, dass die eckigen Klammern für k < k0 positiv und für k > k0 negativ sind. Also ist für<br />
das ∆S negativ, also S[x] > S[x + ɛη1]. Für<br />
k0 <br />
<br />
kπ<br />
η1(t) ≡ bk sin t<br />
t2<br />
η2(t) ≡<br />
k=1<br />
∞<br />
k=k0+1<br />
<br />
kπ<br />
bk sin t<br />
t2<br />
dagegen ist ∆S positiv, also S[x] < S[x+ɛη2]. Folglich ist S[x] für t2 > T/2 weder minimal noch maximal.<br />
Als zweite Anwendung betrachten wir eine schwingende Saite. Hier ist unser Ziel, aus dem Prinzip<br />
der stationären Wirkung die Wellengleichung für diese Saite abzuleiten. Wir bezeichnen die Länge der<br />
Saite mit l und ihre Massenbelegung mit ϱ (das hat die Einheit kg/m). Die Saite werde an beiden Enden<br />
55<br />
k=1<br />
t2<br />
b 2 k .
festgehalten und mit einer konstanten Kraft F vorgespannt. Die Auslenkung an der Stelle x wird mit<br />
y(x, t) bezeichnet. Wir gehen davon aus, dass die Auslenkung so klein ist, dass dadurch F nicht verändert<br />
wird. Gegenüber der bisher betrachteten Situation sind die y jetzt keine diskreten Variablen (wie es die qj<br />
waren), sondern sie hängen kontinuierlich von x ab. Man hat also statt den Summen über j ein Integral<br />
über x in der Lagrange-Funktion.<br />
Wir berechnen zuerst die Lagrange-Funktion L = T − V . Es ist<br />
T = ϱ<br />
l<br />
˙y<br />
2<br />
2 (x, t)dx<br />
und<br />
<br />
V = F δl = F<br />
0<br />
<br />
ds − l = F<br />
<br />
l <br />
1 + y ′2dx − l .<br />
An geeigneter Stelle werden wir uns daran erinnern, dass y ′ eine kleine Größe ist. Variation der Wirkung<br />
ergibt<br />
<br />
<br />
t2 l <br />
ϱ<br />
δ Ldt = δ<br />
t1 0 2 ˙y2 − F 1 + y ′2<br />
<br />
<br />
dx + F l dt<br />
t2 <br />
l<br />
˙y<br />
= ϱ ˙yδ ˙y − F <br />
1 + y ′2 δy′<br />
t2 l<br />
dxdt [ϱ ˙yδ ˙y − F ˙yδy ′ ] dxdt<br />
=<br />
=<br />
t1<br />
l<br />
0<br />
0<br />
ϱ ˙yδy| t2<br />
t1 dx − F<br />
t2<br />
t1<br />
y ′ δy| l t2<br />
0 dt −<br />
t1<br />
t1<br />
0<br />
0<br />
l<br />
[ϱ¨y − F y ′′ ] δy dx dt<br />
0<br />
l<br />
t2<br />
ϱ ˙y[δy(x, t2) − δy(x, t1)]dx − F y ′ t2 l<br />
[δy(l, t) − δy(0, t)]dt − [ϱ¨y − F y ′′ ] δy dx dt .<br />
0<br />
t1<br />
Die Variation verschwindet am Anfang und am Ende der Zeit, also ist δy(x, t1) = δy(x, t2) = 0 für alle<br />
x. Außerdem verschwindet die Variation an den Rändern der Saite, und es ist δy(0, t) = δy(l, t) = 0 für<br />
alle t. Damit bleibt nur der dritte Term übrig, und es folgt<br />
t2 l<br />
δS = − [ϱ¨y − F y ′′ ] δy dx dt .<br />
t1<br />
0<br />
Da die Variationen δy(x, t) beliebig sind, kann das Doppelintegral nur verschwinden, wenn der Term in<br />
der eckigen Klammer Null ist. Damit haben wir die Wellengleichung<br />
erhalten. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Welle ist c = F/ϱ.<br />
1<br />
c 2 ¨y(x, t) = y′′ (x, t) (6.19)<br />
Bemerkung: Man kann die Bewegungsgleichung der Saite auch direkt aus den Lagrange-Gleichungen<br />
zweiter Art erhalten, wenn man die Saite diskretisiert. Wir unterteilen die Saite in N = l/∆x kleine<br />
Abschnitte der Länge ∆x. Wir schreiben also<br />
und machen die Ersetzung <br />
Damit ist<br />
xj = j∆x , yj = y(xj) , y ′ = yj+1 − yj<br />
∆x<br />
dxf(x, t) → <br />
∆xf(xj, t) .<br />
L = ϱ<br />
N−1 <br />
˙y<br />
2<br />
j=0<br />
2 j (t)∆xj − F<br />
2<br />
j<br />
56<br />
N−1 <br />
j=0<br />
yj+1 − yj<br />
(∆xj) 2 ∆xj ,<br />
t1<br />
0
wobei wir wieder 1 + y ′2 durch 1+y ′2 /2 ersetzt haben. Die Lagrange-Gleichungen zweiter Art sind also<br />
<br />
d ∂L<br />
yj − yj−1<br />
= ϱ¨yj∆xj = F<br />
+<br />
dt ∂ ˙yj<br />
∆x<br />
yj<br />
<br />
− yj+1<br />
=<br />
∆x<br />
∂L<br />
.<br />
∂yj<br />
Das führt auf<br />
ϱ¨yj = F 2yj − yj+1 − yj−1<br />
(∆x) 2<br />
und schließlich, wenn wir wieder zum Kontinuum gehen, auf<br />
Aufgaben<br />
ϱ¨y = F y ′′ .<br />
1. Seifenhaut: Eine Seifenhaut, die zwischen zwei an den Positionen x1 und x2 um die x-Achse zentrierten<br />
Kreisen mit den Radien y1 und y2 eingespannt ist, nimmt eine minimale Fläche ein.<br />
(a) Stellen Sie eine Bedingung für diese Fläche auf.<br />
(b) Berechnen Sie die Kurve y(x), die die minimale Fläche beschreibt. Gehen Sie dabei aus von<br />
′ ∂F F − y ∂y ′ = konst. ≡ a (siehe Gleichung (6.10) im Skript). In Ihrem Ergebnis für y(x) darf<br />
die Konstante a drinstehen. Erklären Sie am Ende, durch welche Bedingung der Wert von a<br />
festgelegt wird. (Hinweis: Vielleicht brauchen Sie folgende Beziehung: cosh 2 (x)−1 = sinh 2 (x).)<br />
2. Weisen Sie nach, dass sich ein Teilchen, das infolge von Zwangskräften auf einer gekrümmten Fläche<br />
laufen muss, ansonsten aber kräftefrei ist, auf einer Geodäten (also der kürzest möglichen Verbindung<br />
zwischen zwei Punkten) bewegt. (Statt der gekrümmten Fläche kann man auch einen gekrümmten<br />
Raum betrachten - das findet bei der Allgemeinen Relativitätstheorie eine Anwendung.)<br />
3. Hochspannungsleitung: Gegeben ist ein Kabel, das an den Enden xA und xB auf derselben Höhe<br />
yA = yB aufgehängt ist und nicht den Boden berühren kann. Im Folgenden soll schrittweise die<br />
Form des Kabels berechnet werden, indem die potenzielle Energie minimiert wird.<br />
(a) Stellen Sie die potenzielle Energie in der Form Upot = F (y, y ′ ) dx auf, wobei y(x) die Form<br />
des Kabels beschreibt.<br />
(b) Das Kabel habe die Länge L (wobei der Abstand der beiden Pfosten xB − xA < L sei).<br />
Schreiben Sie diese Nebenbedingung in Form eines Integrals g(y, y ′ ) dx − L = 0.<br />
(c) Um die Variation mit Nebenbedingungen zu lösen, soll eine erweiterte Funktion ˜ F aufgestellt<br />
werden, die die Nebenbedingungen enthält: ˜ F = F + λg mit λ ∈ R.<br />
Gehen Sie nun von der Beziehung ˜ F − y ′ ∂ ˜ F<br />
∂y ′ = konst. ≡ a (analog zu Gleichung (6.10) im<br />
Skript) aus, um aus der erweiterten Funktion ˜ F eine Lösung für die Kurve des Kabels y(x) zu<br />
bestimmen. Ihr Ergebnis für y(x) darf von a und λ abhängen. (Hinweis: Vielleicht brauchen<br />
Sie folgende Beziehung: cosh 2 (x) − 1 = sinh 2 (x).)<br />
(d) Geben Sie die beiden Beziehungen an, durch die a und λ festgelegt sind.<br />
57
Kapitel 7<br />
Zentralkraft<br />
In diesem und den folgenden drei Kapiteln behandeln wir Anwendungen des bisher behandelten Stoffs.<br />
In diesem Kapitel diskutieren wir das Problem zweier Körper, die sich unter dem Einfluss einer wechselseitigen<br />
Zentralkraft bewegen. Zentralkräfte zeigen in Richtung der Verbindungslinie der beiden Körper.<br />
Wir beschränken uns wie in Abschnitt 1.5 auf konservative Zentralkräfte, deren Betrag nur vom Betrag<br />
des Abstands der beiden Körper abhängt, aber nicht von der Richtung. Wir betrachten zwei Teilchen mit<br />
den Massen m1, m2 und der Kraft F = F (r, t) zwischen ihnen, wobei r ≡ r1 − r2 ist:<br />
m1 ¨ r1 = F (r, t) , m2 ¨ r2 = − F (r, t) (7.1)<br />
7.1 Allgemeine Lösung der Bewegungsgleichungen<br />
Unser Ziel ist es, diese Bewegungsgleichungen zu lösen. Da dies ein abgeschlossenes Zweiteilchensystem<br />
ist, ist es zweckmäßig, einen Koordinatenwechsel zu Schwerpunkts- und Relativkoordinaten vorzunehmen.<br />
Von der Schwerpunktbewegung wissen wir nämlich schon, dass für sie die Erhaltung von Impuls und<br />
Drehimpuls gilt.<br />
Der Schwerpunkts-Vektor ist<br />
R = m1r1 + m2r2<br />
.<br />
m1 + m2<br />
Addition der beiden Gleichungen in (7.1) führt auf (vgl. (1.17))<br />
m1 ¨ r1 + m2 ¨ r2 = 0 ⇒ ¨ m1<br />
R = ¨ r1 + m2 ¨ r2<br />
= 0 . (7.2)<br />
m1 + m2<br />
Die Bewegung des Schwerpunkts ist also gleichförmig.<br />
Subtraktion der aus (7.1) durch Multiplikation mit den Massen erhaltenen Gleichungen<br />
ergibt<br />
mit der sogenannten reduzierten Masse<br />
m2m1 ¨ r1 = m2 F , m1m2 ¨ r2 = −m1 F<br />
m1m2<br />
m1 + m2<br />
¨r = F (r, t) (7.3)<br />
m ≡ m1m2<br />
. (7.4)<br />
m1 + m2<br />
Aus Gleichungen (7.2) und (7.3) erkennen wir, dass die Schwerpunktsbewegung und die Relativbewegung<br />
völlig voneinander entkoppelt sind, also dass die Gleichung für R nicht von der für r abhängt und<br />
umgekehrt.<br />
58
Im Folgenden betrachten wir nur noch die Relativbewegung. Wir sehen an Gleichung (7.3), dass die<br />
Relativbewegung zweier Massen, die von außen nicht beeinflusst werden, zur Bewegung eines Einteilchensystems<br />
mit reduzierter Masse m äquivalent ist:<br />
m ¨ r = F (r, t) (7.5)<br />
Zentralkräfte zeigen immer auf einen bestimmten Punkt, das sog. Kraftzentrum, den wir o.B.d.A. in den<br />
Ursprung des Koordinatensystems legen.<br />
Ein Beispiel hierfür ist die Gravitationskraft zwischen zwei Massen (1.13)<br />
m ¨ r = −G m1m2<br />
r 2<br />
wobei M ≡ m1 + m2.<br />
Nach (1.21) ist der Drehimpuls konstant, d.h.<br />
r<br />
= −GmM<br />
r r2 r<br />
r<br />
L = r × p = konst.<br />
Dies folgt auch aus dem Noether-Theorem, da eine Rotationsinvarianz vorliegt: weder die kinetische,<br />
noch die potenzielle Energie ändern sich bei einer Rotation des Koordinatensystems. Das Problem besitzt<br />
Kugelsymmetrie, d.h. Drehungen um irgendeine feste Achse haben keinen Einfluss auf die Lösungen.<br />
Da der Ortsvektor senkrecht zum konstanten Drehimpuls steht,<br />
r · L = r · (r × p) = 0 ,<br />
verlaufen Zentralkraftbewegungen in einer Ebene. (Für den Spezialfall L = 0 ist r ˙ r, d.h. die Bewegung<br />
verläuft sogar längs einer Linie.)<br />
Konservative Zentralkräfte lassen sich ausdrücken als<br />
F (r) = f(r) r<br />
(r)<br />
, f(r) = −dV , (7.6)<br />
r dr<br />
wobei das Potenzial V (r) nur von r ≡ |r| abhängt (Vgl. Abschnitt 1.5).<br />
Weil die Bewegung in einer Ebene stattfindet, reicht es, das System durch zwei Freiheitsgrade zu<br />
beschreiben. Wir wählen Polarkoordinaten und verwenden den Lagrange-Formalismus:<br />
L = m<br />
2<br />
Die entsprechenden Bewegungsgleichungen sind<br />
und<br />
˙r 2 + r 2 ˙ϕ 2 − V (r) . (7.7)<br />
m¨r = − dV<br />
dr<br />
+ mr ˙ϕ2<br />
mr(r ¨ϕ + 2 ˙r ˙ϕ) = 0 .<br />
Wegen der zweiten Zeitableitungen sind zur Lösung eigentlich vier Integrationen nötig. Unter Verwendung<br />
der Erhaltungsgrößen können wir dies auf zwei Integrationen reduzieren.<br />
Die Variable ϕ ist zyklisch, also ist<br />
pϕ = ∂L<br />
∂ ˙ϕ = mr2 ˙ϕ = konst (7.8)<br />
eine Erhaltungsgröße. Dies ist der Drehimpuls.<br />
Außerdem sind alle zu Beginn von Abschnitt 4.4 genannten Bedingungen dafür erfüllt, dass die Energie<br />
eine Erhaltungsgröße ist. Insbesondere ist L nicht explizit zeitabhängig. Es gilt also<br />
E = m<br />
2<br />
˙r 2 + r 2 ˙ϕ 2 + V (r) (7.8)<br />
= m<br />
59<br />
2 ˙r2 + p2ϕ 2mr<br />
2 + V (r) = konst . (7.9)
Wir gehen weiterhin so vor wie beim Lösen der Aufgabe mit dem Teilchen im Kreiskegel (Abschnitt 4.4).<br />
Auflösen von (7.9) nach ˙r ergibt<br />
˙r ≡ dr<br />
<br />
<br />
2<br />
= ± E − V (r) −<br />
dt m<br />
p2ϕ 2mr2 <br />
. (7.10)<br />
Die beiden Vorzeichen gelten jeweils für verschiedene Bahnabschnitte, nämlich für diejenigen, bei denen<br />
r mit der Zeit zunimmt, und für diejenigen, bei denen r mit der Zeit abnimmt. Der Ausdruck unter der<br />
Wurzel in Gleichung (7.10) darf nicht negativ sein. Wenn er Null wird, also wenn<br />
˙r = 0 bzw. V (r) + p2ϕ = E (7.11)<br />
2mr2 ist, hat die Bewegung dort einen Umkehrpunkt. Damit es einen minimalen Abstand gibt, muss −V (r)<br />
im Limes r → 0 negativ werden, oder, wenn es positiv ist, langsamer anwachsen als p2 ϕ/2mr2 . Wenn es<br />
auch einen maximal möglichen Abstand gibt, nennt man die Bewegung “gebunden”.<br />
Es bleiben jetzt noch zwei Integrationen übrig, denn die Gleichungen erster Ordnung (7.8),(7.10) sind<br />
noch zu lösen. Integration von (7.10) mit r0 ≡ r(t = 0) ergibt<br />
dt<br />
dr<br />
= ± <br />
2<br />
m<br />
1<br />
<br />
E − V (r) − p2 ϕ<br />
2mr 2<br />
<br />
r<br />
⇒ t = ± <br />
r0<br />
2<br />
m<br />
dr ′<br />
<br />
E − V (r ′ ) − p2 ϕ<br />
2mr ′2<br />
. (7.12)<br />
Die Radialbewegung r = r(t) ergibt sich aus der Umkehrung von (7.12) für vorgegebene V (r), E, pϕ. Diese<br />
Lösungen gelten jeweils für Abschnitte, bei denen ˙r ein festes Vorzeichen hat. An den Umkehrpunkten<br />
werden die Lösungen zu verschiedenen Vorzeichen aneinander gefügt.<br />
Mit (7.8), d.h. ˙ϕ = dϕ<br />
dt<br />
= pϕ<br />
mr 2 (t) und ϕ0 ≡ ϕ(t = 0) ist<br />
ϕ(t) = pϕ<br />
t<br />
m 0<br />
dt ′<br />
r 2 (t ′ ) + ϕ0 . (7.13)<br />
Damit ist das Problem formal auf Integrale mit vier (Integrations-)konstanten pϕ, E, r0, ϕ0 zurückgeführt.<br />
Wenn man sich nur für die Bahngestalt, und nicht für den zeitlichen Ablauf interessiert, bestimmt<br />
man die geometrische Bahn r(ϕ) bzw. ϕ(r) statt der beiden Größen r(t), ϕ(t). Die Berechnung geht so:<br />
1) dt (7.8)<br />
= mr2<br />
dϕ , 2) dt (7.10)<br />
= ± <br />
1),2)<br />
pϕ<br />
mr<br />
⇒ 2<br />
dϕ = ± <br />
pϕ<br />
2<br />
m<br />
⇒ ϕ(r) = ± pϕ<br />
r<br />
m r0<br />
dr<br />
<br />
E − V (r) − p2 ϕ<br />
2mr 2<br />
dr ′<br />
<br />
r ′2<br />
<br />
2<br />
m E − V (r ′ ) − p2ϕ 2mr ′2<br />
7.2 Das zweite Keplersche Gesetz<br />
2<br />
m<br />
dr<br />
<br />
E − V (r) − p2 ϕ<br />
2mr 2<br />
⇔ dϕ = ±pϕ<br />
m<br />
r 2<br />
<br />
2<br />
m<br />
<br />
dr<br />
<br />
E − V (r) − p2 ϕ<br />
2mr 2<br />
+ ϕ0 . (7.14)<br />
Das zweite Keplersche Gesetz besagt, dass der “Fahrstrahl”, also die Verbindungslinie von der Sonne zu<br />
dem betrachteten Planeten, in gleicher Zeit gleiche Flächen überstreicht. Historisch betrachtet hat Kepler<br />
dieses Gesetz vor seinen beiden anderen Gesetzen gefunden, als er die Bahn des Planeten Mars genau<br />
untersuchte und feststellte, dass die Geschwindigkeit des Planeten schneller ist, wenn der Planet näher<br />
an der Sonne ist.<br />
60
Dieses Gesetz folgt direkt aus der Drehimpulserhaltung und gilt für alle konservativen Zentralkräfte,<br />
nicht nur für Kräfte der Form f(r) ∝ 1/r 2 . Wir bezeichnen die überstrichene Fläche mit A, und für die<br />
Änderung von A gilt<br />
dA = 1<br />
r rdϕ<br />
2<br />
⇒ dA<br />
dt<br />
=<br />
1 dϕ (7.8) pϕ<br />
r2 = = konst .<br />
2 dt 2m<br />
(7.15)<br />
Also ist 1<br />
2 r2 ˙ϕ die Flächengeschwindigkeit, d.h. die Fläche, die vom Radiusvektor pro Zeiteinheit<br />
überstrichen wird, und sie ist identisch mit dem Drehimpuls.<br />
7.3 Das effektive Potenzial<br />
Für Potenziale vom Typ V (r) = ar n+1 , d.h. Kräfte F ∝ r n , führen die Bewegungsgleichungen für<br />
n = 1, −2, −3 auf elementare Integrale und für n = 5, 3, 0, −4, −5, −7 auf die sogenannten elliptischen<br />
Funktionen (siehe z.B. Goldstein S.81-83). Berechnungen und Ergebnisse sind i.A. kompliziert. Qualitative<br />
Aussagen über die radiale Bewegung lassen sich aber durch Betrachtung des effektiven Potenzials Veff(r)<br />
machen. Wir schreiben die Gesamtenergie (7.9) als<br />
mit dem sogenannten “effektiven Potenzial”<br />
E = m<br />
2 ˙r2 + Veff(r) (7.16)<br />
Veff(r) ≡ V (r) +<br />
p 2 ϕ<br />
2mr 2<br />
<br />
Zentrifugalpotenzial<br />
. (7.17)<br />
Dieses setzt sich zusammen aus dem zur Zentralkraft gehörenden Potenzial und dem “Zentrifugalpotenzial”,<br />
aus dessen Ableitung nach r sich die Zentrifugalkraft ergibt.<br />
Als Beispiel betrachten wir den harmonischen Oszillator, der durch das Potenzial<br />
definiert ist, also ist die Kraft<br />
V (r) = 1<br />
2 fr2<br />
F (r) = −fr<br />
eine lineare Rückstellkraft, wie z.B. bei einem Pendel mit kleiner Auslenkung oder einer Masse an einer<br />
elastischen Feder.<br />
61
Das effektive Potenzial geht sowohl für r → 0 als auch für r → ∞ gegen Unendlich und hat dazwischen<br />
irgendwo ein Minimum. Die Energie muss mindestens so groß wie das effektive Potenzial an diesem<br />
Minimum sein, damit eine Lösung (7.10) existiert. Die Bewegung hat zwei Umkehrpunkte, die sich aus<br />
der Bedingung E = Veff(r) ergeben. Die Bewegung ist also “gebunden”.<br />
Für pϕ = 0 gilt Veff = V , und die Bewegung verläuft längs einer Geraden, z.B. längs der x-Achse. Die<br />
lineare Rückstellkraft Fx = −fx führt dann auf eine einfache harmonische Schwingung.<br />
Für pϕ = 0 geht die Bewegung nicht durch das Kraftzentrum. An der komponentenweisen Darstellung<br />
Fx = −fx und Fy = −fy sehen wir, dass die Bewegung die Resultierende zweier harmonischer Schwingungen<br />
im rechten Winkel zueinander mit gleicher Frequenz ist. Dies führt i.A. auf elliptische Bahnen.<br />
(Wenn die Frequenzen nicht gleich wären, ergäben sich Lissajous-Figuren.)<br />
Wenn E den minimal möglichen Wert hat, nämlich den des Minimums von Veff(r), dann liegt eine<br />
Kreisbahn vor. Das Minimum von Veff ergibt sich aus der Gleichung<br />
0 = dVeff<br />
dr = fr − p2ϕ ,<br />
mr3 und der Radius der Kreisbahn ergibt sich folglich zu<br />
r0 =<br />
1/4 2 pϕ .<br />
mf<br />
7.4 Geschlossene und offene Bahnen<br />
Für eine gebundene Bewegung zwischen zwei Umkehrpunkten r1, r2 ändert sich ϕ bei einem vollen Zyklus<br />
r1 → r2 → r1 mit (7.14) um<br />
Die Bahn heißt geschlossen, falls<br />
∆ϕ = + pϕ<br />
r2<br />
m r1<br />
− pϕ<br />
r1<br />
m r2<br />
= 2 pϕ<br />
r2<br />
m r1<br />
dr ′<br />
r ′2<br />
<br />
2<br />
m E − V (r ′ ) − p2ϕ 2mr ′2<br />
dr ′<br />
r ′2<br />
<br />
2<br />
m E − V (r ′ ) − p2 ϕ<br />
2mr ′2<br />
dr ′<br />
r ′2<br />
<br />
2<br />
m E − V (r ′ ) − p2 ϕ<br />
2mr ′2<br />
<br />
<br />
.<br />
∆ϕ = m<br />
2π (7.18)<br />
n<br />
62
ist mit ganzen Zahlen m und n, d.h. wenn n Radialzyklen m Umläufe ergeben, so dass sich die Kurve<br />
nach m Umfäufen schließt.<br />
Sonst ist die Bahn offen. Nur der harmonische Oszillator, V = f<br />
2 r2 , und das Keplerpotenzial, V = − α<br />
r ,<br />
haben finite geschlossene Bahnen für alle Anfangsbedingungen.<br />
7.5 Kepler-Potenzial<br />
Das wichtigste Zentralkraftpotenzial, das Kepler-Potenzial<br />
V (r) = −G m1m2<br />
r<br />
≡ −α<br />
r<br />
(7.19)<br />
der Planetenbewegung, wird im Folgenden ausführlich behandelt. Das effektive Potenzial für Bewegungen<br />
im Gravitationsfeld ist nach (7.17)<br />
Veff(r) = − α<br />
r + p2ϕ .<br />
2mr2 Damit ist<br />
E = Veff(r) + 1<br />
2 m ˙r2 ,<br />
was genau derselbe Ausdruck ist, den man in einem eindimensionalen System hätte, in dem das Potenzial<br />
dem Veff entspricht.<br />
Folgende Fälle sind zu unterscheiden:<br />
1) E = E1 ≥ 0: Da das effektive Potenzial für r → 0 gegen +∞ geht, gibt es einen minimalen Abstand<br />
r1 der Masse m vom Kraftzentrum. Dieser ist durch die Bedingung Veff(r1) = E1 festgelegt. Da Veff<br />
für genügend große r negativ ist, gibt es keinen äußeren Umkehrpunkt. Die Bahn ist infinit und<br />
beschreibt einen Streuvorgang, d.h. ein aus dem Unendlichen ankommendes Teilchen wird aufgrund<br />
des Zentrifugalpotenzials zurückgestoßen und wandert wieder ins Unendliche. Nur für pϕ = 0 stürzt<br />
das Teilchen ins Kraftzentrum. Wir werden später herausfinden, dass für pϕ = 0 und E1 > 0 eine<br />
Hyperbelbahn und für E1 = 0 eine Parabelbahn vorliegt.<br />
2) Wenn E negativ ist, ist die Bewegung gebunden, weil Veff für r → ∞ gegen Null geht, also für<br />
genügend große r über dem Wert von E liegt. Es gibt also zwei Umkehrpunkte, diese seien bei den<br />
Radien r2 (innen) und r3 (außen). Wir bezeichnen mit E2 die Energie Veff(r2) und mit E3 den<br />
minimalen Wert von Veff. Wenn E3 < E = E2 < 0 ist, ist die Bahn finit und beschreibt einen<br />
gebundenen Zustand. Das Teilchen läuft zwischen den Umkehrpunkten r2 und r3 hin und her.<br />
3) Die Energie entspricht dem Minimum von Veff. Die Bahn bildet einen Kreis mit Radius<br />
63
dVeff<br />
dr<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
r<br />
= r0 = α<br />
r2 −<br />
0<br />
p2ϕ mr3 0<br />
= 0 ⇒ r0 = p2ϕ . (7.20)<br />
mα<br />
Wir berechnen nun noch die geometrische Bahn ϕ(r). (7.19) in (7.14) eingesetzt ergibt:<br />
r<br />
ϕ(r) = ±<br />
Substitution u ′ = 1<br />
r ′ ⇒ du ′ = − 1<br />
r ′2 dr ′ ergibt<br />
Unter Benutzung von<br />
r0<br />
dr ′<br />
<br />
r ′2<br />
− 1<br />
r ′2 + 2mα<br />
p2 ϕr′ + 2mE<br />
p2 ϕ<br />
u<br />
du<br />
ϕ(u) = ∓<br />
u0<br />
′<br />
<br />
−u ′2 2mα + p2 u<br />
ϕ<br />
′ + 2mE<br />
p2 ϕ<br />
<br />
dx<br />
√ ax 2 + bx + c =<br />
für a < 0 , b 2 − 4ac > 0 ergibt sich<br />
+ ϕ0 . (7.21)<br />
+ ϕ0 .<br />
<br />
1<br />
2ax + b<br />
√ arccos √<br />
−a b2 − 4ac<br />
⎛<br />
−2u + 2mα<br />
p2 ϕ<br />
2 ⎜<br />
ϕ(u) = ∓ arccos ⎜<br />
⎝<br />
<br />
<br />
2mα<br />
p2 +<br />
ϕ<br />
8mE<br />
p2 ⎟<br />
⎠ + ˆϕ0 (7.22)<br />
ϕ<br />
⎛<br />
p2<br />
ϕ<br />
1 −<br />
= ∓ arccos ⎝ mαu ⎞<br />
⎠ + ˆϕ0 . (7.23)<br />
<br />
1 + 2Ep2 ϕ<br />
mα 2<br />
Auflösen von (7.22) nach u ergibt mit cos (±(ϕ − ˆϕ0)) = cos(ϕ − ˆϕ0) dann<br />
1 mα<br />
≡ u =<br />
r p2 <br />
1 − 1 +<br />
ϕ<br />
2Ep2 <br />
ϕ<br />
cos(ϕ − ˆϕ0) .<br />
mα2 Wir wählen ϕ0 ≡ ˆϕ0 + π. Mit cos(ϕ − ϕ0 + π) = − cos(ϕ − ϕ0) lautet dann die Bahngleichung<br />
Wir definieren die Exzentrizität ε der Bahn<br />
1<br />
r = C (1 + ε cos(ϕ − ϕ0)) . (7.24)<br />
ε ≡<br />
<br />
1 + 2Ep2ϕ . (7.25)<br />
mα2 C −1 = p2<br />
ϕ<br />
mα heißt “Parameter” der Bahn, der Winkel ϕ0 das Perihel. (Bei ϕ = ϕ0 ist die Bahn dem<br />
Koordinatenursprung am nächsten.)<br />
Die Bahngleichung (7.24) ist die Gleichung eines Kegelschnittes, dessen einer Brennpunkt im Koordinatenursprung<br />
(Kraftzentrum) liegt. Für die betrachteten Fälle in der Diskussion des effektiven Potenzials<br />
ergeben sich die folgenden Bahneigenschaften:<br />
1) E = E1 ≥ 0:<br />
a) E = E1 > 0 (7.25)<br />
⇒ ε > 1, d.h. die Bahn ist eine Hyperbel<br />
b) E = E1 = 0 ⇒ ε = 1, d.h. die Bahn ist eine Parabel<br />
64<br />
⎞
2) E3 < E = E2 < 0 ⇒ 0 < ε < 1, d.h. die Bahn ist eine Ellipse. Dass die Planetenbahnen Ellipsen<br />
sind, ist das Erste Keplersche Gesetz.<br />
Perihel-Abstand: rp<br />
Aphel-Abstand: rA<br />
(7.25) mit cos(ϕp−ϕ0)=1<br />
=<br />
cos(ϕA−ϕ0)=−1<br />
=<br />
1<br />
C(1 − ε)<br />
1<br />
C(1 + ε) ,<br />
vom Koordinatenursprung. Die große Halbachse a der Ellipse ist definiert als<br />
a = rP + rA<br />
2<br />
(7.26)<br />
=<br />
1<br />
C(1 − ε2 (7.25) p<br />
= −<br />
)<br />
2 ϕ<br />
mα<br />
mα 2<br />
2Ep 2 ϕ<br />
= − α<br />
2E .<br />
(7.26)<br />
Also ist<br />
E = − α<br />
,<br />
2a<br />
(7.27)<br />
d.h. die Energie des Teilchens auf der Ellipsenbahn hängt nur von a ab.<br />
Zur Bestimmung der kleinen Halbachse b setzen wir ϕ0 = 0. Der Abstand c des Kraftzentrums vom<br />
Ellipsenmittelpunkt ist<br />
ɛ<br />
c = a − rP =<br />
C(1 − ɛ2 ) .<br />
Die kleine Halbachse schneidet die Ellipse bei einem Winkel ϕ, der durch die Bedingung r(ϕ) cos(ϕ) =<br />
−c gegeben ist. Dies ergibt cos(ϕ) = −ɛ und r −1 = C(1 − ɛ 2 ). Die Länge der kleinen Halbachse ist<br />
gegeben durch die Bedingung b 2 = r 2 − c 2 , was schließlich<br />
ergibt.<br />
1<br />
b =<br />
C √ 1 − ɛ2 Damit können wir das dritte Keplersche Gesetz herleiten: Die Fläche der Ellipse ist<br />
1<br />
A = πab = π<br />
C2 (1 − ɛ2 )<br />
√ C .<br />
3/2 = πa3/2<br />
Außerdem ist die Fläche A wegen dem zweiten Keplerschen Gesetz (7.15) identisch mit pϕT/2m,<br />
wobei T die Umlaufdauer ist. Gleichsetzen dieser beiden Ausdrücke für A und Einsetzen der Konstanten<br />
ergibt das Dritte Keplersche Gesetz<br />
wobei wir seit Newton auch den Wert der Konstanten kennen,<br />
a3 = konst , (7.28)<br />
T 2<br />
konst = α<br />
4mπ2 = G(m1 + m2)<br />
4π2 .<br />
Da die Masse eines Planenten sehr viel kleiner ist als die Sonnenmasse, kann die Summe der beiden<br />
Massen durch die Sonnenmasse genähert werden. Dann ist das Verhältnis a 2 /T 3 weder von der<br />
Planetenmasse, noch von seiner Energie oder seienm Drehimpuls abhängig. Also ist dieses Verhältnis<br />
für alle Planeten gleich.<br />
65
3) E = E3 ≡ Veff<br />
<br />
p<br />
= 2<br />
<br />
(7.20) ϕ<br />
r0 mα<br />
= − mα2<br />
p2 +<br />
ϕ<br />
<br />
−α/r<br />
mα2<br />
2p2 ϕ<br />
<br />
p2 ϕ /(2mr2 = −<br />
)<br />
mα2<br />
2p2 ϕ<br />
(7.25)<br />
⇒ ε = 0 , d.h. die Bahn ist ein Kreis; aus (7.24) für ε = 0 folgt:<br />
r0 = C −1 = p2 ϕ<br />
mα<br />
⇒ E = − α<br />
2r0<br />
D.h., für r0 = a sind die Energien für Kreis- und Ellipsenbahnen gleich.<br />
Aufgaben<br />
1. Betrachten Sie das Teilchen im Kreiskegel. Gehen Sie aus von der Rechnung in Abschnitt 4.4.<br />
(7.29)<br />
(a) Schreiben Sie durch Einführen einer modifizierten Masse und eines modifizierten Winkels die<br />
Lagrange-Funktion so um, dass sie genau wie diejenige eines Zentralpotenzials aussieht.<br />
(b) Was ist das effektive Potenzial?<br />
(c) Skizzieren Sie Veff(r) und begründen Sie hieraus, dass die Bewegung gebunden ist. Zeichnen<br />
Sie in Ihrer Skizze den minimalen und den maximalen Radius ein.<br />
(d) Für welches r resultiert eine Kreisbahn?<br />
(e) Erwarten Sie, dass die Bahnen geschlossen sind?<br />
2. Lenz-Vektor: Für die Bahn r(t) im Kepler-Potenzial definieren wir den Lenzschen Vektor Λ als<br />
Zeigen Sie<br />
(a) Λ ist eine Erhaltungsgröße, d.h. d Λ/dt = 0.<br />
(b) | Λ| ist gleich der Exzentrizität ɛ.<br />
Λ = m<br />
α ˙ r × (r × ˙ r) − r<br />
r = p × L r<br />
−<br />
αm r .<br />
(c) Λ zeigt zum Perihel, also Λ rP . (rP ist der Vektor vom Kraftzentrum zum Perihel.)<br />
66
Kapitel 8<br />
Streuung im Zentralkraftfeld<br />
Eine wichtige Anwendung von Zentralkraftfeldern ist die Streutheorie. Streuphänomene werden in vielen<br />
Bereichen der Physik untersucht, um die Eigenschaften der Materie auf verschiedensten Längen- und<br />
Energieskalen zu ergründen, von Femtometern (und GeV) in der Teilchenphysik bis zu Nanometern (und<br />
meV) in der Festkörperphysik. Wegen der Wellennatur von Teilchen muss die Energie der Geschosse um<br />
so höher sein, je kleiner die Struktur ist, die man anhand ihres Streuverhaltens untersuchen möchte. Die<br />
Berechnungen müssen deshalb in der Regel im Rahmen der Quantentheorie durchgeführt werden. Trotzdem<br />
ist die Methode der Streutheorie in der klassischen <strong>Mechanik</strong> und der Quantenmechanik weitgehend<br />
gleich, und teilweise werden Aussagen der klassischen Streutheorie zumindest approximativ in der Quantenmechanik<br />
bestätigt. Die Bilder und Formeln im folgenden Text sind für den Fall eines abstoßenden<br />
Potenzials gemacht. Streuung in einem anziehenden Potenzial geht analog.<br />
8.1 Stoßparameter<br />
Als erstes wichtiges Konzept definieren wir den Stoßparameter s. Wir gehen davon aus, dass die Kraft im<br />
Unendlichen auf Null geht, so dass das Teilchen zunächst mit Geschwindigkeit v0 auf einer geraden Bahn<br />
angeflogen kommt, dann durch das Kraftzentrum abgelenkt wird, und sich nach dem Stoß wieder einer<br />
(anderen) geraden Bahn annähert. Verlängert man diese asymptotischen geraden Bahnen am Kraftzentrum<br />
vorbei, dann ist der Stoßparameter s der geringste Abstand dieser Geraden vom Kraftzentrum.<br />
Der Drehimpuls der einlaufenden Teilchen bzgl. des Kraftzentrums lässt sich durch s ausdrücken:<br />
pϕ = mv0s = √ 2mE s , E = 1<br />
2 mv2 0 = konst<br />
wobei v0 die Anfangsgeschwindigkeit für große Abstände vom Kraftzentrum ist und die Kraft für große<br />
Abstände gegen Null gehen soll.<br />
Im Zentralkraftfeld ist die Bewegung symmetrisch bzgl. des Perihels P . Daher ist der Streuwinkel<br />
θ = π − 2ϕ0 .<br />
67
Der Winkel ϕ0 im Perihel der Bahn ist nach (7.14):<br />
ϕ0 = ϕ(r∞) − ϕ(rmin)<br />
= pϕ<br />
m<br />
∞<br />
rmin<br />
r 2<br />
<br />
2<br />
m<br />
dr<br />
<br />
E − V (r) − p2 ϕ<br />
2mr 2<br />
Durch die Substitution u = 1/r und mit p 2 ϕ = 2mEs 2 ergibt sich für den Streuwinkel:<br />
umax<br />
du<br />
θ(s) = π − 2s . (8.1)<br />
0 1 − s2u2 − V (1/u)/E<br />
8.2 Differentieller Wirkungsquerschnitt<br />
Um genügend Statistik zu erhalten, schießt man nicht nacheinander einzelne Teilchen auf das Target,<br />
sondern verwendet “homogene” Teilchenstrahlen mit möglichst großer Teilchendichte. Die Intensität I ist<br />
die Zahl der Teilchen, die pro Sekunde durch eine Einheitsfläche senkrecht zur Teilchengeschwindigkeit<br />
laufen (Einheit von I: s −1 m −2 ).<br />
Der Teilchenstrahl enthält also Teilchen mit verschiedenen Stoßparametern. Die Zahl der pro Zeiteinheit<br />
einfallenden Teilchen mit einem Stoßparameter, der zwischen s und s + ds liegt, beträgt<br />
2πsds<br />
<br />
I .<br />
Fläche<br />
Dies muss gleich der Anzahl der Teilchen sein, die in einen Raumwinkel dΩ = 2π sin θdθ zwischen<br />
θ und θ + dθ gestreut werden (vorausgesetzt der Zusammenhang zwischen θ und s ist eindeutig). Den<br />
Zusammenhang zwischen dem Stoßparameter s und dem Streuwinkel θ schreiben wir als<br />
2πsds I = −σ(θ)<br />
<br />
2π sin<br />
<br />
θdθ<br />
<br />
I .<br />
dΩ<br />
Das negative Vorzeichen kommt daher, dass für größere s eine geringere Kraft auf das Teilchen wirkt,<br />
d.h. der Streuwinkel wird kleiner. Der Proportionalitätsfaktor σ(θ) ≡ dσ/dΩ mit der Einheit Fläche wird<br />
als differentieller Wirkungsquerschnitt bezeichnet:<br />
σ(θ) = − s ds<br />
, 0 ≤ θ ≤ π .<br />
sin θ dθ<br />
Integriert man den Wirkungsquerschnitt über den gesamten Raumwinkel, der zu dem Bereich θ > θ0<br />
gehört, so erhält man diejenige Querschnittsfläche des einfallenden Teilchenstrahls, deren Teilchen um<br />
68
mindestens den Winkel θ0 gestreut werden. Für den Wirkungsquerschnitt hat sich die Einheit “Barn”<br />
eingebürgert. Ein Barn ist 10 −28 Quadratmeter. Das englische Wort “barn” bedeutet “Scheune”. Bei<br />
Streuexperimenten mit Atomkernen maß man überraschend große Wirkungsquerschnitte für die Streuung<br />
mit Streuwinkeln größer als 90 Grad, verglichen mit der Querschnittsfläche der Atomkerne. So kam es zu<br />
der Namensgebung.<br />
8.3 Rutherford-Streuung<br />
Wir betrachten die Streuung geladener Teilchen im Coulomb-Feld, mit einem abstoßenden Potenzial der<br />
Form<br />
V (r) = + K<br />
r ,<br />
d.h. die Energie ist immer größer als Null, und es treten nur infinite Bahnen auf. Das Coulomb-Potenzial<br />
hat genau dieselbe Form wie das Gravitationspotenzial, das wir im vorigen Kapitel ausführlich behandelt<br />
haben. Wir müssen nur den Parameter α durch −K ersetzen. Also erhalten wir die (7.24) entsprechende<br />
Bahngleichung, indem wir das Vorzeichen von C umkehren:<br />
wobei ɛ definiert ist als (vgl. (7.25))<br />
1<br />
r = C (−1 + ε cos(ϕ − ϕ0)) ,<br />
<br />
ε ≡ 1 + 2Ep2ϕ mK .<br />
Im Gegensatz zum vorigen Kapitel verschieben wir ϕ0 nicht um π, da wir ϕ0 wieder so definieren wollen,<br />
dass bei diesem Winkel das Perihel ist. Also ist r minimal für ϕ = ϕ0. Wir wählen ϕ0 so, dass ϕ(r∞) = 0<br />
ist. Also ist<br />
0 = 1<br />
= C (−1 + ε cos(0 − ϕ0))<br />
r∞<br />
⇔ cos ϕ0 = 1<br />
ε .<br />
Für den Streuwinkel θ gilt 0 ≤ θ ≤ π und<br />
Mit pϕ = √ 2mE s ergibt Auflösen von<br />
nach s:<br />
s = K<br />
<br />
2E<br />
mK 2 , C−1 = p2 ϕ<br />
θ ≡ π − 2ϕ0 ⇒ sin θ<br />
≡ sin<br />
2<br />
1<br />
2 θ sin 2<br />
Also ist der Wirkungsquerschnitt<br />
− 1<br />
sin θ 1<br />
=<br />
2 ε =<br />
1/2<br />
<br />
<br />
π<br />
<br />
− ϕ0 = cos ϕ0 .<br />
2<br />
1<br />
1 + 2Es<br />
K<br />
2<br />
= K θ<br />
cot<br />
2E 2 mit sin2 1<br />
x =<br />
1 + cot2 x .<br />
σ(θ) = − s<br />
cot<br />
ds<br />
sin θ dθ<br />
′ ( θ<br />
2 )=− 1 1<br />
2 sin2 θ 2<br />
=<br />
2 K<br />
cot<br />
2E<br />
θ 1<br />
2 sin θ<br />
sin θ=2 sin θ θ<br />
2 cos 2<br />
=<br />
2 1 K<br />
4 2E<br />
1<br />
4 . θ sin 2<br />
1<br />
2 θ 2 sin 2<br />
1906 bis 1913 führten Rutherford, Geiger und Marsden Streuexperimente durch, bei denen sie α-Teilchen<br />
auf eine nur ca einen µm dicke Goldfolie schossen. Für die Auswertung der Experimente war die exakte<br />
Übereinstimmung von klassischem und (erst später berechneten) quantenthereotischem Wirkungsquerschnitt<br />
ein glücklicher Umstand.<br />
69
8.4 Totaler Wirkungsquerschnitt<br />
Der totale Wirkungsquerschnitt ist definiert als<br />
<br />
σtot = σ(θ)dΩ = 2π<br />
π<br />
0<br />
σ(θ) sin θ dθ . (8.2)<br />
In der Rutherford-Streuung ist der totale Wirkungsquerschnitt unendlich. Dies kommt daher, dass das<br />
Coulomb-Potenzial eine unendliche Reichweite hat. Der totale Wirkungsquerschnitt ist die Zahl aller<br />
Teilchen, die pro Sekunde in alle Richtungen gestreut werden, dividiert durch die einfallende Intensität<br />
I. Wegen der unendlichen Reichweite des Potenzials werden auch noch solche Teilchen gestreut, die einen<br />
großen Stoßparameter haben. Die Gesamtzahl der pro Zeiteinheit gestreuten Teilchen divergiert also. Nur<br />
wenn das Potenzial für große Abstände schnell genug abfällt, ist der totale Wirkungsquerschnitt endlich.<br />
8.5 Streuung an einer ideal reflektierenden Kugel<br />
Wir wählen eine feststehende Kugel vom Radius R als Streuzentrum und streuen Massepunkte elastisch<br />
an ihr. Den Einfallswinkel senkrecht zur Kugeloberfläche, der mit dem Ausfallswinkel identisch ist, nennen<br />
wir γ. Er hängt mit dem Stoßparameter s über die Beziehung<br />
zusammen. Also ist der Streuwinkel θ<br />
Der Zusammenhang zwischen s und θ ist also<br />
sin γ = s<br />
R<br />
θ = π − 2γ = π − 2 arcsin s<br />
R .<br />
s = R sin<br />
π − θ<br />
2<br />
= R cos θ<br />
2 .<br />
Daraus ergibt sich der differenzielle Wirkungsquerschnitt<br />
σ(θ) = s<br />
<br />
<br />
<br />
ds <br />
<br />
s R θ<br />
sin θ dθ<br />
= sin<br />
sin θ 2 2<br />
Er ist also unabhängig vom Winkel θ.<br />
Für den totalen Wirkungsquerschnitt erhalten wir<br />
<br />
σtot = σ(θ)dΩ = 2π<br />
π<br />
0<br />
θ R cos 2 R θ R2<br />
= sin =<br />
sin θ 2 2 4 .<br />
σ(θ) sin θdθ = πR 2 .<br />
Dies entspricht der Querschnittsfläche der Kugel, was zu erwarten war.<br />
8.6 Streuung im Laborsystem<br />
Bisher wurde nur die Streuung im Feld eines im Koordinatenursprung verankerten Kraftzentrums untersucht.<br />
In der Praxis aber werden Teilchen nicht auf ein ortsfestes Kraftzentrum geschossen, sondern<br />
auf andere Teilchen, die entweder durch den Stoß in Bewegung versetzt werden oder sich von Anfang an<br />
ebenfalls bewegen.<br />
Der im Laborsystem gemessene Streuwinkel θL ist nicht identisch mit dem Streuwinkel θ im Schwerpunktsystem.<br />
Wir müssen daher eine Beziehung zwischen den Winkeln θ und θL aufstellen. Wir beschränken<br />
uns dabei auf den Fall, dass das Targetteilchen mit der Masse m2 vor der Streuung im Laborsystem<br />
ruht. Wir bezeichnen die Geschwindigkeiten vor der Streuung mit v und nach der Streuung mit<br />
70
u. Im Laborsystem geben wir allen Ortsvektoren und Geschwindigkeiten den Index L, und im Schwerpunktsystem<br />
geben wir ihnen keinen Index.<br />
Da das Teilchen 2 vor dem Stoß ruht, ist die Geschwindigkeit des Schwerpunkts im Laborsystem<br />
gegeben durch<br />
vSL =<br />
m1<br />
v1L .<br />
m1 + m2<br />
Die Geschwindigkeit nach der Streuung erfüllt die Gleichung<br />
u1L sin θL = u1 sin θ ,<br />
da die Geschwindigkeitskomponenten senkrecht zur Schwerpunktsbewegung in beiden Bezugssystemen<br />
gleich sind. Außerdem gilt<br />
u1L cos θL = u1 cos θ + vSL .<br />
Division der ersten durch die zweite Gleichung führt auf<br />
sin θ<br />
tan θL =<br />
cos θ + m1 . (8.3)<br />
vL1<br />
m1+m2 u1<br />
Wegen der Energieerhaltung ist im Schwerpunktsystem die Geschwindigkeit u1 des Teilchens 1 nach der<br />
Streuung gleich der Geschwindigkeit v1L − vSL des Teilchens 1 vor der Streuung:<br />
Einsetzen in (8.3) ergibt<br />
u1 = v1L − vSL = v1L −<br />
tan θL =<br />
m1<br />
m1 + m2<br />
sin θ<br />
cos θ + m1<br />
m2<br />
v1L =<br />
m2<br />
v1L .<br />
m1 + m2<br />
. (8.4)<br />
Der Streuwinkel im Laborsystem ist also stets kleiner als im Schwerpunktsystem.<br />
Quadrieren der Gleichung (8.4) führt auf eine quadratische Gleichung für cos θ. Von den beiden<br />
Lösungen dieser Gleichung ist diejenige zu nehmen, für die im Fall m1 ≪ m2 der Streuwinkel im Laborund<br />
Schwerpunktsystem fast gleich ist. Man erhält also<br />
cos θ = − m1<br />
m2<br />
2<br />
1 − cos θL + cos θL<br />
<br />
1 −<br />
m1<br />
m2<br />
2<br />
(1 − cos 2 θL) . (8.5)<br />
Wir haben also unter Verwendung des Energie- und des Impulssatzes die Beziehung zwischen dem Streuwinkel<br />
θ im Schwerpunktsystem und dem Streuwinkel θL im Laborsystem gefunden.<br />
Der Streuwinkel ψL des Targetteilchens kann durch eine ähnliche Rechnung ermittelt werden. Das<br />
Ergebnis ist<br />
ψL =<br />
π − θ<br />
2<br />
. (8.6)<br />
Es ist noch interessant, den Fall m1 = m2 zu betrachten. Gleichung (8.4) liefert<br />
Daraus folgt<br />
tan θL =<br />
sin θ θ<br />
= tan . (8.7)<br />
1 + cos θ 2<br />
θL = θ<br />
2 .<br />
Da θ nicht größer als 180 o sein kann, ist der Streuwinkel θL < 90 o . Wenn Projektil und Targetteilchen<br />
gleich schwer sind, erfolgt die Streuung im Laborsystem also in Vorwärtsrichtung. Die Gleichungen (8.6)<br />
und (8.7) ergeben zusammen<br />
ψL + θL = π<br />
2 .<br />
71
Also laufen gleich schwere Teilchen nach der elastischen Streuung unter einem Winkel von 90 o im Laborsystem<br />
auseinander (wenn der Stoß nicht so zentral ist, dass die erste Kugel nach dem Stoß liegenbleibt).<br />
Dieses Ergebnis ist jedem Billardspieler bekannt und setzt vier Bedingungen voraus: Der Stoß ist elastisch,<br />
beide Teilchen sind gleich schwer, die Masse m2 ruht vor dem Stoß und die Kräfte beim Stoß wirken in<br />
radialer Richtung.<br />
Nicht nur der Streuwinkel, auch die differenziellen Wirkungsquerschnitte sind in beiden Bezugssystemen<br />
verschieden. Im Laborsystem ist die Intensität der einfallenden Teilchen größer als im Schwerpunktsystem,<br />
weil ihre Geschwindigkeit größer ist. Wir bezeichnen diese Intensität mit IL. Der differenzielle<br />
Wirkungsquerschnitt im Laborsystem wird durch folgende Beziehung definiert:<br />
σL(θL)dΩL = σL(θL)2π sin θLdθL = Zahl der pro Sekunde in den Raumwinkel dΩL gestreuten Teilchen<br />
.<br />
Intensität IL der einfallenden Teilchen<br />
(8.8)<br />
Die Zahl der Teilchen, die pro Sekunde mit einem Stoßparameter im Intervall [s, s + ds] einlaufen, ist<br />
gleich der Zahl der Teilchen, die pro Sekunde in den Winkelbereich [θL, θL + dθL] gestreut werden:<br />
Daraus folgt<br />
σL(θL) = s<br />
sin θL<br />
<br />
<br />
<br />
ds <br />
<br />
dθL<br />
<br />
IL · 2πs|ds| = IL · σL(θL)2π sin θL|dθL| .<br />
= s<br />
sin θ<br />
<br />
<br />
<br />
ds <br />
<br />
dθ<br />
<br />
· sin θ<br />
sin θL<br />
<br />
<br />
<br />
dθ <br />
<br />
dθL<br />
<br />
= σ(θ) sin θ<br />
sin θL<br />
<br />
<br />
<br />
dθ <br />
<br />
dθL<br />
= σ(θ) <br />
d cos θ <br />
<br />
d<br />
cos θL<br />
.<br />
Wenn wir für cos θ die rechte Seite von (8.5) einsetzen, ergibt sich nach einer kurzen Rechnung<br />
⎡<br />
⎢<br />
σL(θL) = σ(θ) ⎣2 m1<br />
2 m1<br />
1 + cos (2θL)<br />
m2<br />
cos θL + <br />
m2<br />
2<br />
m1<br />
1 − sin 2 ⎤<br />
⎥<br />
⎦ . (8.9)<br />
θL<br />
Für den Streuwinkel θ im Laborsystem in dieser Formel ist Gleichung (8.5) zu nehmen.<br />
Wir betrachten wieder den Spezialfall m1 = m2. Dann ist wegen (8.7) θL = θ/2 und folglich<br />
<br />
<br />
1 + cos(2θL)<br />
σL(θL) = σ(θ) · 2 cos θL + = 4σ(2θL) cos θL . (8.10)<br />
cos θL<br />
Aufgaben<br />
1. Berechnen Sie den differenziellen Wirkungsquerschnitt σ(θ) im Zentralkraftfeld V (r) = β/r 2 mit<br />
β > 0.<br />
(a) Stellen Sie eine Beziehung für den Streuwinkel in Abhängigkeit vom Stoßparameter, also für<br />
θ(s), in Form eines Integrals auf.<br />
(b) Welche Beziehung besteht zwischen dem minimalen Abstand rmin und dem Stoßparameter s?<br />
(c) Lösen Sie das unter a) erhaltene Integral für θ(s). (Hinweis: Für das Kepler-Potenzial haben<br />
wir in Kap. 7 bereits ein ähnliches Integral gelöst.)<br />
(d) Stellen Sie nun den differentiellen Wirkungsquerschnitt σ(θ) auf.<br />
2. Betrachten Sie zwei identische Kugeln der Masse m1 und des Radius R1. Die eine Kugel sei am<br />
Anfang ruhend, und die andere wird an ihr elastisch gestreut. Berechnen Sie den differenziellen und<br />
den totalen Wirkungsquerschnitt im Laborsystem.<br />
72<br />
m2
Kapitel 9<br />
Starrer Körper<br />
In diesem Kapitel betrachten wir die Bewegung starrer Körper. Ein starrer Körper ist ein Körper mit<br />
fest vorgegebener Massenverteilung ϱ(r), dessen Gestalt sich nicht ändert. Seine Masse ist<br />
<br />
M = d 3 rϱ(r) .<br />
In diesem Kapitel werden keine Deformationen betrachtet. Der starre Körper kann also nur seine Lage<br />
und seine Orientierung ändern, d.h. er hat 6 Freiheitsgrade, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben.<br />
Wir betrachten zwei verschiedene Koordinatensysteme: Ein raumfestes Koordinatensystem K (Laborsystem)<br />
mit den Achsen x, y, z, und ein fest im Schwerpunkt S des starren Körpers verankertes<br />
intrinsisches Koordinatensystem K mit den Achsen x1, x2, x3. Im System K ist die Massenverteilung ϱ<br />
unabhängig von der Zeit, ganz gleich, welche Bewegung der Körper ausführt.<br />
9.1 Kinetische Energie und Trägheitstensor<br />
Um die kinetische Energie zu ermitteln, beginnen wir mit der Betrachtung infinitesimaler Verrückungen<br />
des Körpers. Der Punkt P habe die Position r in K und die Position x = r − rS in K. Verschiebt und<br />
rotiert man den starren Körper ein wenig, so gilt für P :<br />
Die Richtung<br />
dr = drS + dϕ × x . (9.1)<br />
ˆn = dϕ<br />
|dϕ|<br />
ist die Rotationsachse (Rotation im Uhrzeigersinn wenn man in Achsenrichtung schaut), und |dϕ| ist<br />
der Winkel, um den der Körper gedreht wird bei festgehaltenem S. Die Drehung ist im folgenden Bild<br />
veranschaulicht:<br />
Wir verwenden |dx| = |x| sin (α)|dϕ| und dx ⊥ ˆn, x, und erhalten somit dx = dϕ × x.<br />
Wir dividieren die Gleichung (9.1) durch dt<br />
dr<br />
dt<br />
|dϕ|<br />
ˆn<br />
= drs<br />
dt<br />
73<br />
dx<br />
x<br />
α<br />
+ dϕ<br />
dt<br />
× x<br />
(9.2)
und schreiben dies in der Form<br />
v = V + ω × x . (9.3)<br />
V ist die Geschwindigkeit des Schwerpunkts S.<br />
Als nächstes bestimmen wir den Ausdruck für die kinetische Energie. Im körperfesten Koordinatensystem<br />
ist <br />
d 3 x xϱ(x) = 0 , (9.4)<br />
da der Ursprung im Schwerpunkt liegt.<br />
Die kinetische Energie ist dann<br />
T = 1<br />
<br />
d<br />
2<br />
3 =<br />
2 xϱ(x) V + ω × x<br />
1<br />
2 V 2<br />
<br />
d 3 xϱ(x) +<br />
<br />
M<br />
1<br />
2 <br />
V × ω d 3 x xϱ(x) +<br />
<br />
0<br />
1<br />
<br />
2<br />
d 3 xϱ(x)(ω × x) 2 . (9.5)<br />
Den letzten Summanden schreiben wir unter Verwendung der Beziehung (a × b) 2 = a 2 b 2 − (a · b) 2 als<br />
mit<br />
1<br />
2 ωjJjkωk<br />
<br />
Jjk := d 3 xϱ(x) x 2 δjk − xjxk . <br />
Hier haben wir die “Einsteinsche Summenkonvention” verwendet, d.h. es wird über doppelt auftretende<br />
Indizes summiert.<br />
Also haben wir die kinetische Energie in zwei Beiträge zerlegt, die wir unter Verwendung der Matrixschreibweise<br />
für den Trägheitstensor schreiben können als<br />
(9.6)<br />
T = Ttrans + Trot = 1<br />
2 M V 2 + 1<br />
2 ωt Jω . (9.7)<br />
Das Trägheitsmoment bezgl. eines anderen Koordinatensystems, dessen Ursprung nicht im Schwerpunkt<br />
ist, erhalten wir mit dem<br />
Satz von Steiner:<br />
Sei J der Trägheitstensor, wie er im körperfesten System K berechnet wird, das im Schwerpunkt S<br />
zentriert ist, und sei K ′ ein zu K achsenparalleles System, das gegenüber diesem um a verschoben ist.<br />
Dann ist der in K ′ berechnete Trägheitstensor<br />
<br />
=<br />
(9.8)<br />
J ′ ij<br />
d 3 x ′ ϱ(x ′ ) x ′2 δij − x ′ ix ′ <br />
j<br />
x ′ =x+a<br />
↓<br />
= Jij + M a 2 <br />
δij − aiaj<br />
(denn alle in x linearen Terme verschwinden wegen der Schwerpunktbedingung).<br />
74<br />
(9.9)
Hauptträgheitsachsensystem:<br />
Da der Trägheitstensor reell und symmetrisch ist, lässt er sich durch eine orthogonale Transformation auf<br />
Diagonalform bringen:<br />
R J R<br />
0 −1<br />
0<br />
=<br />
⎛<br />
J = ⎝<br />
0 I1 0<br />
0 I2<br />
0 0<br />
<br />
0<br />
0<br />
I3<br />
⎞<br />
⎠<br />
= d 3 ⎛<br />
⎞<br />
yϱ(y)<br />
⎠ (9.10)<br />
⎝ y2 2 + y 2 3 0 0<br />
0 y 2 3 + y 2 1 0<br />
0 0 y 2 1 + y 2 2<br />
Hierzu bestimmt man die Eigenwerte Ii und Eigenvektoren ω (i) :<br />
Jω (i) = Iiω (i) . (9.11)<br />
R −1<br />
0 hat als Spalten die ω(i) . I1, I2, I3 sind die (Haupt-)Trägheitsmomente des starren Körpers. Sie sind<br />
positiv und erfüllen die Ungleichung<br />
I1 + I2 ≥ I3<br />
(und analog unter zyklischer Vertauschung der Indizes). Dasjenige körperfeste System, in dem der Trägheitstensor<br />
diagonal ist, heißt Hauptträgheitsachsensystem. (Bei Entartung der Eigenwerte gibt es eine Wahlfreiheit.)<br />
Als Beispiel berechnen wir das Trägheitsmoment einer homogenen Kugel der Dichte ϱ und des Radius<br />
R: Es ist I1 = I2 = I3 aus Symmetriegründen, und das Hauptachsensystem ist im Kugelzentrum<br />
verankert. Es ist<br />
Mit ϱ = 3M<br />
4πR 3 erhalten wir daraus<br />
<br />
I1 + I2 + I3 = 3I = 2ϱ<br />
r 2 d 3 x = 8πϱ<br />
R<br />
0<br />
r 4 dr = 8πϱR5<br />
5<br />
I = 2<br />
5 MR2 . (9.12)<br />
9.2 Drehimpuls und Bewegungsgleichung des starren Körpers<br />
Wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, setzt sich der Drehimpuls zusammen aus dem Bahndrehimpuls und<br />
dem Eigendrehimpuls. Wenn wir den Ursprung des Laborsystems in den Schwerpunkt des Körpers legen,<br />
verschwindet der Bahndrehimpuls. Es bleibt also<br />
Also ist<br />
L =<br />
=<br />
<br />
<br />
d 3 xϱ(x)x × ˙ x<br />
˙x=ω×x<br />
↓<br />
=<br />
d 3 xϱ(x) x 2 ω − (x · ω)x = Jω .<br />
<br />
d 3 xϱ(x)x × (ω × x)<br />
L = Jω . (9.13)<br />
L hat im allgemeinen nicht dieselbe Richtung wie ω. Es hat nur dann dieselbe Richtung, wenn ω parallel<br />
zu einer Hauptachse ist.<br />
Die Rotationsenergie können wir nun auch durch den Drehimpuls ausdrücken: Aus (9.7) und (9.13)<br />
erhalten wir<br />
Trot = 1<br />
2 ω · L . (9.14)<br />
75<br />
.
Wenn ω zur i-ten Hauptachse parallel ist, vereinfachen sich die beiden letzten Gleichungen zu<br />
und<br />
L = Iiω (9.15)<br />
Trot = 1<br />
2 Iiω 2 . (9.16)<br />
Eine zeitliche Änderung des Drehimpulses wird durch ein Drehmoment verursacht (siehe (1.20)),<br />
d L<br />
dt<br />
9.3 Kräftefreier Kreisel<br />
= <br />
i<br />
ri × F (ex)<br />
i<br />
= <br />
Ni .<br />
Wir betrachten einen rotationssymmetrischen starren Körper (Kreisel) in Abwesenheit von äußeren<br />
Kräften. Sei die x3-Achse die Symmetrieachse, so dass I1 = I2 = I3 ist. Weiterhin sei L vorgegeben<br />
und bilde den Winkel θ = 0 mit der Symmetrieachse. Wir legen die x1-Achse in die von L und der Symmetrieachse<br />
aufgespannte Ebene. Dann steht die x2-Achse senkrecht auf dieser Ebene, und L2 = ω2 = 0.<br />
Also liegt ω in der (1, 3)-Ebene. Diese Situation ist in der folgenden Abbildung am Beispiel eines ellipsoidförmigen<br />
Kreisels dargestellt, wobei die (1, 3)-Ebene die Papierebene ist:<br />
x1<br />
L<br />
ωPr<br />
ω<br />
ωl<br />
Wie schon erwähnt, liegen die Vektoren L, ω und die Symmetrieachse in einer Ebene, und da man diese<br />
Betrachtung zu jedem Zeitpunkt anstellen kann, liegen sie folglich immer in einer Ebene.<br />
In unserem Beispiel ist I1 > I3. Deshalb liegt der Vektor L näher an der x1-Achse als der Vektor ω. Die<br />
Symmetrieachse x3 bewegt sich nach ” hinten“ (also senkrecht zur Papierebene). Sie rotiert gleichförmig<br />
um die Richtung des raumfesten L. Man nennt dies die ” reguläre Präzession“. Die Frequenz der regulären<br />
Präzession erhalten wir durch Aufspalten von ω in eine Komponente ωl parallel zur x3-Achse und eine<br />
Komponente ωP r parallel zu L:<br />
ω = ωl + ωP r .<br />
ωl ist irrelevant für die Präzessionsbewegung. Wir berechnen daher ωP r = |ωP r|: Aus<br />
und<br />
erhalten wir<br />
i<br />
x3<br />
ω1 = ωP r sin (θ) (9.17)<br />
L1 = | L| sin (θ) = I1ω1 = I1ωP r sin (θ) (9.18)<br />
ωP r = | L|<br />
. (9.19)<br />
ω überstreicht bei der regulären Präzession den ” Spurkegel“, die Symmetrieachse den ” Nutationskegel“:<br />
76<br />
I1
L<br />
Die Winkelgeschwindigkeit um die Symmetrieachse können wir auch durch den Drehimpuls und die<br />
Trägheitsmomente ausdrücken: Es ist<br />
ω3 = L3<br />
I3<br />
ω<br />
x3<br />
= | L| cos(θ)<br />
I3<br />
9.4 Starre Körper mit nur einem Freiheitsgrad<br />
. (9.20)<br />
Nun betrachten wir starre Körper mit äußeren Kräften und beschränken uns zunächst auf Systeme mit<br />
nur einem Freiheitsgrad. Es ist zum Beispiel der Körper fest auf einer Rotationsachse montiert, oder er<br />
rollt auf einer Unterlage in nur einer Richtung. In beiden Fällen behält die Rotationsachse ihre Richtung<br />
bei, und wir können den Winkel ϕ als Freiheitsgrad wählen.<br />
Wir wählen die z-Richtung parallel zur Rotationsachse. Die kinetische Energie im Laborsystem hat<br />
dann die Beiträge<br />
Trot = 1<br />
2 Jzz ˙ϕ 2<br />
(9.21)<br />
Ttrans = 1<br />
2 M V 2 = 1<br />
2 M ˙ r 2 s , (9.22)<br />
wobei ˙ rs die Geschwindigkeit des Schwerpunkts längs seiner Bahnkurve ist.<br />
Als Beispiel betrachten wir eine Walze auf einer schiefen Ebene:<br />
y<br />
Die Walze habe den Radius R, die Masse M und die Länge l. Der Schwerpunkt der Walze sei in der Mitte<br />
der Walze. Der Zusammenhang zwischen der Position y auf der Ebene und dem Rollwinkel ϕ ist<br />
und die Lagrange-Funktion ist<br />
Die Lagrange-Gleichung<br />
führt auf<br />
ϕ<br />
α<br />
˙y = R ˙ϕ , (9.23)<br />
L = 1<br />
2 Jzz<br />
2 ˙y<br />
+<br />
R<br />
1<br />
2 M ˙y2 + Mg sin (α)y . (9.24)<br />
d ∂L ∂L<br />
=<br />
dt ∂ ˙y ∂y<br />
(9.25)<br />
Mg sin (α)<br />
¨y = Jzz<br />
R2 . (9.26)<br />
+ M<br />
77
Wenn die Massenverteilung homogen ist, ist ϱ konstant und M = R 2 πϱl und<br />
l R 2π<br />
Jzz = ϱ dz dr r dϕ r 2<br />
0<br />
= ϱl2π R4<br />
4<br />
0<br />
0<br />
= 1<br />
2 MR2 . (9.27)<br />
Also ist<br />
¨y = 2<br />
g sin α .<br />
3<br />
(9.28)<br />
Im Unterschied hierzu lautet die Bewegungsgleichung, wenn die Walze reibungsfrei gleitet ohne zu rollen<br />
¨y = g sin α .<br />
9.5 Die Eulerschen Gleichungen<br />
Nun heben wir die Beschränkung auf einen Freiheitsgrad auf. Wir bestimmen die Bewegungsgleichungen<br />
bezogen auf das körperfeste System K, dessen Ursprung im Schwerpunkt liegt. Hierbei ist es wichtig sich<br />
bewusst zu machen, dass auch K ein Inerzialsystem sein soll. Wenn wir also die Zeitableitung diverser<br />
Größen bestimmen, betrachten wir die Basisvektoren des Systems K als konstant. Man wählt sozusagen<br />
zu jedem Zeitpunkt ein neues Inerzialsystem, bzgl. dessen alle Größen angegeben werden. Im Kuypers<br />
werden die so berechneten Zeitableitungen “körperfeste Zeitableitungen” genannt.<br />
Wir hatten<br />
N = d<br />
dt L<br />
und<br />
˙x = ω × x<br />
und<br />
<br />
L = d 3 x ϱ(x)x × (ω × x) .<br />
Bemerkung: Wir verstehen alle Größen auf dieser Seite (Vektoren, Tensoren) im System K, aber schreiben<br />
keine Querstriche über die Größen.<br />
Wir erhalten<br />
und somit<br />
d L<br />
dt =<br />
<br />
Dabei haben wir benutzt, dass<br />
ist. Denn die linke Seite ist<br />
und die rechte Seite ist<br />
d 3 <br />
xϱ(x) (ω × x) × (ω × x) + x × ( ˙ <br />
ω × x) + x × (ω × (ω × x))<br />
= 0 + J · ˙ <br />
ω +<br />
ω × (x × (ω × x))ϱ(x)d 3 x<br />
N = J · ˙ ω + ω × L . (9.29)<br />
a × ( b × (a × b)) = b × (a × (a × b))<br />
a × (a · b 2 − b(a · b)) = −(a × b)(a · b) = ( b × a)(a · b)<br />
b × (a(a · b) − ba 2 ) = ( b × a)(a · b) = linke Seite .<br />
78
Wenn J diagonal ist, lauten die Eulerschen Gleichungen<br />
N =<br />
⎛<br />
⎝ I1 ˙ω1<br />
I2 ˙ω2<br />
I3 ˙ω3<br />
⎞<br />
⎠ +<br />
⎛<br />
⎝ ω1<br />
ω2<br />
ω3<br />
⎞<br />
⎠ ×<br />
⎛<br />
⎝ I1ω1<br />
I2ω2<br />
I3ω3<br />
⎞<br />
⎠ =<br />
⎛<br />
⎝ I1 ˙ω1 + ω2ω3(I3 − I2)<br />
I2 ˙ω2 + ω3ω1(I1 − I3)<br />
I3 ˙ω3 + ω1ω2(I2 − I1)<br />
⎞<br />
⎠ . (9.30)<br />
Diese Gleichungen sind nichtlinear und führen damit im Allgemeinen auf komplizierte Bewegungen.<br />
Wir kommen nun zum Kreisel zurück und betrachten daher noch einmal einen rotationssymmetrischen<br />
starren Körper ohne äußere Kräfte (wie in 9.3). Es ist also N = 0 und I1 = I2. Aus der dritten Euler-<br />
Gleichung folgt sofort, dass ˙ω3 = 0 ist. Wenn wir die erste Euler-Gleichung nach der Zeit ableiten und<br />
˙ω2 durch die zweite Euler-Gleichung ausdrücken, erhalten wir<br />
Wir definieren<br />
und erhalten damit<br />
und<br />
(I1 − I3)<br />
¨ω1 + ω1<br />
2ω2 3<br />
I2 1<br />
ω 2 0 = (I1 − I3) 2 ω 2 3<br />
I 2 1<br />
= 0 .<br />
ω1 = A sin(ω0t − φ) (9.31)<br />
ω2 = −A cos(ω0t − φ) , (9.32)<br />
wobei A und φ durch die Anfangsbedingungen festzulegen sind. Die Vektoren ω und L rotieren mit<br />
Frequenz ω0 um die Symmetrieachse. Dies wird in der Literatur auch “Nutation” genannt. Die Frequenz<br />
ω0 ist verschieden von der Präzessionsfrequenz ωP r aus Gleichung (9.19), mit der die Symmetrieachse im<br />
Laborsystem um den Drehimpuls rotiert.<br />
9.6 Der Schwere Kreisel<br />
O<br />
S<br />
Der Kreisel im Schwerefeld ist ein anspruchsvolles Thema der theoretischen <strong>Mechanik</strong>, und wir beschränken<br />
uns hier auf eine Berechnung der wesentlichen Phänomene. Der Kreisel sei rotationssymmetrisch<br />
um die x3-Achse, und wir definieren<br />
l = OS ,<br />
wobei O der Punkt ist, in dem der Kreisel gestützt wird. Da der Punkt O fest ist, bleiben von den 6<br />
Freiheitsgraden des starren Körpers nur 3 übrig.<br />
Wir wählen 3 Winkel als Freiheitsgrade, die sogenannten “Eulerschen Winkel”:<br />
• θ : Winkel zwischen z-Achse und x3-Achse;<br />
• φ: Winkel zwischen Projektion der x3-Achse auf den Boden und der x-Achse des Laborsystems;<br />
• ψ: Winkel zwischen x1-Achse und der Verbindungslinie von S zur z-Achse (Linie ⊥ x3-Achse) .<br />
79<br />
x3
z<br />
θ<br />
S<br />
x1<br />
x3<br />
x2<br />
y<br />
O −φ<br />
Also gibt θ die Neigung des Kreisels an, man nennt θ auch den “Nutationswinkel”. Der Winkel φ wird<br />
“Präzessionswinkel” genannt, und er gibt die Orientierung der auf den Boden projizierten Kreiselachse<br />
an. Der Winkel ψ ist der “Eigenrotationswinkel”.<br />
Die kinetische Energie ausgedrückt durch die 3 Winkel ist<br />
Die potenzielle Energie ist<br />
T = 1<br />
2 (I1 + Ml 2 )<br />
<br />
I ′ <br />
˙θ 2<br />
+ ˙2 2<br />
φ sin θ<br />
1<br />
<br />
V = Mgl cos (θ) .<br />
x<br />
+ 1<br />
2 I3<br />
2 ˙ψ + φ˙ cos θ<br />
= 0 und ∂L<br />
∂φ<br />
(9.33)<br />
Die Lagrange-Funktion L = T − V erfüllt die Gleichungen ∂L<br />
∂ψ<br />
zyklische Variablen, und<br />
Pψ ≡<br />
= 0. Also sind ψ und φ<br />
∂L<br />
∂ ˙ ψ<br />
(9.34)<br />
und<br />
Pφ ≡ ∂L<br />
∂ ˙ φ<br />
(9.35)<br />
sind Erhaltungsgrößen. Außerdem ist auch die Gesamtenergie E = T + V eine Erhaltungsgröße. Wir<br />
haben folglich genauso viele Erhaltungsgrößen wie Freiheitsgrade und können die Lösung der Bewegungsgleichungen<br />
finden.<br />
Wir drücken zunächst ˙ φ und ˙ ψ durch die Erhaltungsgrößen aus:<br />
<br />
˙ψ + φ˙ cos θ<br />
(9.36)<br />
Pψ = I3<br />
Pφ = I ′ 1 sin 2 θ + I3 cos 2 θ ˙ φ + I3 ˙ ψ cos θ (9.37)<br />
⇒ ˙ φ = Pφ − Pψ cos θ<br />
I ′ 1 sin2 θ<br />
(9.38)<br />
˙ψ = Pψ<br />
− ˙ φ cos θ . (9.39)<br />
I3<br />
Dies wird in den Ausdruck für die Energie eingesetzt:<br />
E = T + V = 1<br />
<br />
I<br />
2<br />
′ <br />
2<br />
˙θ 2<br />
1 + φ˙ 2 2<br />
sin θ + I3<br />
˙ψ + φ˙ cos θ + Mgl cos θ<br />
= 1<br />
2 I′ 1 ˙ θ 2 + P 2 ψ<br />
+ Mgl +<br />
2I3<br />
(Pφ − Pψ cos θ) 2<br />
2I ′ 1 sin2 − Mgl (1 − cos θ)<br />
θ<br />
<br />
≡Ueff (θ)<br />
Weil E eine Erhaltungsgröße ist, ist auch<br />
. (9.40)<br />
E ′ ≡ E − P 2 ψ<br />
− Mgl =<br />
2I3<br />
1<br />
2 I′ 1 ˙ θ 2 + Ueff (θ) (9.41)<br />
80
eine Erhaltungsgröße. Der Ausdruck für E ′ ist der eines gewöhnlichen eindimensionalen Problems mit<br />
der Variablen θ und dem Potenzial Ueff .<br />
Wir diskutieren die Dynamik des Kreisels im Folgenden qualitativ:<br />
• Es ist E ′ > Ueff (so wie beim Zentralkraftproblem E ≥ Veff gilt).<br />
• Wenn Pφ = Pψ ist: limθ→0 Ueff = limθ→π Ueff = ∞<br />
• Definiere u(t) = cos θ(t). Dann ist<br />
und<br />
mit<br />
Wir unterscheiden drei Fälle:<br />
f(u) = 1 − u 2 2E ′<br />
+ 2Mgl(1 − u)<br />
I ′ 1<br />
˙θ 2 = ˙u2<br />
1 − u 2<br />
˙u 2 = f(u)<br />
I ′ <br />
1<br />
u ∈ [−1, 1] und f(u) ≥ 0 .<br />
1. u = 1 entspricht Pφ = Pψ und ˙u = 0 (stehender Kreisel)<br />
2. u = −1 bedeutet Pφ = −Pψ und ˙u = 0 (hängender Kreisel)<br />
3. −1 < u < 1: schiefer Kreisel<br />
− (Pφ − Pψu) 2<br />
I ′2<br />
1<br />
(9.42)<br />
• f(u) ist positiv zwischen zwei Werten u1, u2 ∈] − 1, 1[. Also bewegt sich θ(t) zwischen zwei Werten<br />
θ1 und θ2.<br />
Betrachte<br />
(mit u0 = Pψ<br />
Pφ )<br />
zusätzlich zu ˙ θ bzw. ˙u:<br />
˙φ = Pφ<br />
I ′ u0 − u<br />
1 1 − u2 Man muss 3 Fälle unterscheiden, je nachdem wie u0 relativ zu u1 und u2 liegt:<br />
1. u0 > u2 (bzw. u0 < u1):<br />
⇒ ˙ φ hat stets dasselbe Vorzeichen. Die Bewegung des Durchstoßpunktes der x3-Achse durch eine<br />
Kugelschale (in deren Mittelpunkt der Auflagepunkt ist) sieht folgendermaßen aus:<br />
2. u1 < u0 < u2 ⇒ ˙ φ hat am oberen Breitengrad ein anderes Vorzeichen als am unteren:<br />
81
3. u0 = u1 oder u0 = u2<br />
˙φ verschwindet an einem Breitenkreis.<br />
Aufgaben<br />
1. Wir betrachten ein Jojo (Masse M, Trägheitmoment Jzz bzgl. Symmetrie-Achse, Fadenlänge L,<br />
Faden sei masselos). Der Radius der Achse, um die der Faden gewickelt ist, sei R (siehe Bild), und<br />
der Schwerpunkt S sei in der Mitte der Achse.<br />
(a) Bestimmen Sie die Lagrangefunktion.<br />
(b) Bestimmen Sie die Bewegungsgleichungen.<br />
ex<br />
(c) Am untersten Punkt, wenn der Faden vollständig abgewickelt ist, wird das Jojo elastisch<br />
reflektiert. Was ist folglich die Schwingungsperiode?<br />
2. Ein Halbkreiszylinder (d.i. ein längs der Symmetrieachse halbierter Zylinder) mit dem Radius R<br />
und der Masse M (mit homogener Massenverteilung) führt auf einer horizontalen Ebene unter dem<br />
Einfluss der Schwerkraft eine Wippbewegung aus (er rollt also auf dem runden Teil seiner Berandung<br />
hin und her).<br />
(a) Bestimmen Sie die Trägheitsmomente IA, IS, IP um die Zylinderachse A, die Schwerpunktsachse<br />
S und den Auflagepunkt P .<br />
(b) Bestimmen Sie die Bewegungsgleichung für den Kippwinkel ϕ.<br />
(c) Was ist die Schwingungsperiode im Grenzfall kleiner Kippwinkel?<br />
(d) Schreiben Sie die drei verschiedenen Möglichkeiten hin, die kinetische Energie in einen Translationsund<br />
einen Rotationsanteil zu zerlegen, indem Sie jede der drei in a) erwähnten Achsen einmal<br />
als Rotationsachse verwenden.<br />
82
Kapitel 10<br />
Schwingungen<br />
In diesem vierten Kapitel zur Anwendung der Lagrange-<strong>Mechanik</strong> befassen wir uns mit Schwingungen.<br />
Wir betrachten hier in erster Linie kleine Schwingungen um eine stabile Gleichgewichtslage. Allgemein<br />
ist die Schwingungstheorie eine der bedeutendsten Anwendungen der <strong>Mechanik</strong>. Sie bildet eine wichtige<br />
Grundlage des Maschinenbaus und der Elektrotechnik, deren Schwingkreise ähnlichen Differenzialgleichungen<br />
unterliegen wie mechanische Schwinger. Der harmonische Oszillator spielt eine zentrale Rolle,<br />
da er nicht nur in der klassischen <strong>Mechanik</strong> auftritt, sondern auch für die theoretische Formulierung der<br />
Quantenmechanik und der Quantenfeldtheorie eine bedeutende Rolle spielt.<br />
10.1 Schwingungen mit einem Freiheitsgrad<br />
Dieses Unterkapitel behandelt zwei wichtige Beispiele als Vorbereitung auf die Behandlung von Schwingungen<br />
mit mehreren Freiheitsgraden: den gedämpften harmonischen Oszillator und den durch eine harmonische<br />
Kraft erregten, gedämpften harmonischen Oszillator.<br />
10.1.1 Gedämpfter harmonischer Oszillator<br />
Die Bewegungsgleichung des gedämpften harmonischen Oszillators mit der Auslenkung x(t) lautet<br />
m¨x + d ˙x + Dx = 0 .<br />
Dies beschreibt ein Federpendel mit masseloser Feder und eingehängter Masse m sowie Federkonstante<br />
D. Wir definieren ω 2 0 = D/m und γ = d/(2m) und erhalten dann<br />
¨x + 2γ ˙x + ω 2 0x = 0 . (10.1)<br />
Diese lineare, homogene Differenzialgleichung führt mit dem bekannten Ansatz<br />
auf die charakteristische Gleichung<br />
mit den beiden Wurzeln<br />
Drei Fälle sind zu unterscheiden:<br />
x(t) = ce λt<br />
(10.2)<br />
λ 2 + 2λγ + ω 2 0 = 0 (10.3)<br />
<br />
λ1 = −γ + γ2 − ω2 0 , λ2<br />
<br />
= −γ − γ2 − ω2 0 . (10.4)<br />
83
1. γ 2 < ω 2 0 (gedämpfte Schwingung)<br />
Mit ω ≡ ω 2 0 − γ2 ergibt sich die allgemeine Lösung<br />
Die reellen Anfangsbedingungen x(0) = x0, ˙x(0) = ˙x0 führen auf<br />
mit<br />
c1 = x0<br />
x(t) = e −γt c1e iωt + c2e −iωt . (10.5)<br />
2 + γx0 + ˙x0<br />
, c2 = c<br />
2iω<br />
∗ 1 = x0<br />
2 − γx0 + ˙x0<br />
2iω<br />
⇒ x(t) = e −γt<br />
<br />
x0 cos ωt + γx0<br />
<br />
+ ˙x0<br />
sin ωt<br />
ω<br />
A =<br />
<br />
x 2 0 +<br />
(10.6)<br />
= Ae −γt sin(ωt + ϕ0) (10.7)<br />
γx0 + ˙x0<br />
ω<br />
2 , tan ϕ0 = x0ω<br />
. (10.8)<br />
γx0 + ˙x0<br />
Bei einer gedämpften, harmonischen Schwingung nimmt demnach die Amplitude exponentiell ab,<br />
und die Eigenfrequenz ω der gedämpften Schwingung ist kleiner als die Eigenfrequenz ω0 der ungedämpften<br />
Schwingung.<br />
2. γ 2 > ω 2 0 (Kriechfall)<br />
Wir definieren κ = γ2 − ω2 0 . Die Lösung sieht genauso aus wie im vorigen Fall, nur dass wir statt<br />
iω jetzt überall ein κ schreiben.<br />
Die allgemeine Lösung ist also<br />
mit<br />
Dies gibt<br />
c1 = x0<br />
x(t) = e −γt c1e κt + c2e −κt<br />
2 + γx0 + ˙x0<br />
, c2 =<br />
2κ<br />
x0<br />
2 − γx0 + ˙x0<br />
.<br />
2κ<br />
(10.9)<br />
x(t) = e −γt<br />
<br />
x0 cosh κt + γx0<br />
<br />
+ ˙x0<br />
sinh κt . (10.10)<br />
κ<br />
Dies beschreibt keine Schwingung, sondern eine so genannte aperiodische Kriechbewegung. Die<br />
aperiodische Auslenkung geht für große Zeiten gegen Null.<br />
3. γ 2 = ω 2 0 (aperiodischer Grenzfall) Diesen Fall lösen wir am einfachsten, indem wir im Ergebnis<br />
(10.10) den Grenzübergang κ → 0 machen. Wir erhalten also<br />
x(t) = e −γt (x0 + (γx0 + ˙x0)t) . (10.11)<br />
Die asymptotische Annäherung an die Nulllage ist hier schneller als im Fall b). Deshalb arbeiten<br />
Zeigermessinstrumente im aperiodischen Grenzfall.<br />
Die drei Fälle sind in der folgenden Graphik skizziert:<br />
84
10.1.2 Periodisch getriebener gedämpfter harmonischer Oszillator<br />
Wir betrachten für die erzwungene Schwingung eines gedämpften harmonischen Oszillators die Bewegungsgleichung<br />
¨x + 2γ ˙x + ω 2 0x = f0e iΩt . (10.12)<br />
Nach der Theorie der linearen Differenzialgleichungen ergibt sich die allgemeine Lösung der linearen,<br />
inhomogenen Differenzialgleichung (10.12), indem man zur Lösung der homogenen Gleichung (10.1) eine<br />
spezielle Lösung der inhomogenen Gleichung addiert.<br />
Wie wir gesehen haben, geht die homogene Lösung mit der Zeit gegen Null. Wir erwarten daher, dass<br />
nach Abklingen der homogenen Lösung nur eine spezielle Lösung übrig bleibt, die keinen gedämpften<br />
Beitrag enthält, und dass dann der Oszillator mit der erregenden Frequenz Ω schwingt. Zur Berechnung<br />
dieser speziellen ungedämpften Lösung der inhomogenen Gleichung wählen wir den Ansatz<br />
xs(t) = Ase i(Ωt−ϕs) , (10.13)<br />
mit konstanter, reeller Amplitude As und Phase ϕs. Einsetzen in (10.12) ergibt<br />
As(−Ω 2 + 2iγΩ + ω 2 0) = f0e iϕs = f0(cos ϕ + i sin ϕ) . (10.14)<br />
Diese Gleichung ist erfüllt, wenn auf beiden Seiten die absoluten Beträge<br />
<br />
As<br />
(ω 2 0 − Ω2 ) 2 + 4γ 2 Ω 2 = f0<br />
85<br />
(10.15)
und die Quotienten aus den imaginären und reellen Anteilen gleich sind<br />
tan ϕs = 2γΩ<br />
ω2 . (10.16)<br />
0 − Ω2<br />
Für γ 2 < ω 2 0 (gedämpfte Schwingung), d.h. mit (10.7), und dem Realteil der speziellen Lösung (10.13)<br />
ist die allgemeine Lösung<br />
x(t) = Ae −γt sin<br />
<br />
ω2 0 − γ2 <br />
t + ϕ0 + As cos (Ωt − ϕs) . (10.17)<br />
Die angeregte Schwingung setzt sich demnach aus einem gedämpften und einem ungedämpften Anteil<br />
zusammen. Der gedämpfte Anteil beschreibt die Einschwingung, auch Transiente genannt. Für große<br />
Zeiten (t ≫ 1/γ) bleibt nur die stationäre Lösung übrig, die hier gerade der speziellen Lösung xs(t)<br />
entspricht. Wir schreiben die Schwingungsamplitude As der stationären Lösung durch Umformen von<br />
(10.15) als<br />
As = <br />
<br />
f0/ω2 0<br />
1 − Ω2<br />
ω2 2 + 4<br />
0<br />
γ2<br />
ω2 Ω<br />
0<br />
2<br />
ω2 0<br />
Für γ2 /ω2 0 ≤ 1/2 hat As als Funktion von Ω ein Maximum; für größere γ hat sie kein Maximum, sondern<br />
fällt mit wachsendem Ω monoton ab. Im ersten Fall spricht man von einer Resonanzkurve. Das Maximum<br />
ist bei Amax = f0/ 2γ ω2 <br />
0 − γ2 bei der Resonanzfrequenz ΩR = ω2 0 − 2γ2 . Die Phasendifferenz ϕs<br />
zwischen der erregenden Kraft und der erzwungenen Schwingung ist nach (10.16)<br />
ϕs = arctan<br />
ω 2 0<br />
2γΩ<br />
(+π) ,<br />
− Ω2<br />
wobei der letzte Summand π nur für Ω > ω0 auftritt, so dass dann π<br />
2 < ϕ (Ω > ω0) < π ist.<br />
Die folgenden Überlegungen machen den Summanden +π klar: ϕs muss stetig von Ω abhängen. Außerdem<br />
ist zu erwarten, dass die Phasendifferenz zwischen treibender Kraft und Schwingung des Oszillators<br />
umso größer wird, je schneller die treibende Kraft oszilliert. Für die weitere Analyse betrachten wir ein<br />
paar spezielle Fälle: Für Ω ≪ ω0 sind Oszillator und äußere Kraft praktisch in Phase; Der Oszillator folgt<br />
der einwirkenden Kraft mit nur geringer Verzögerung, d. h. ϕs 0. Für Ω = ω0 ist die Phasendifferenz<br />
stets π/2, weil die linke Seite von (10.14) rein imaginär ist. Für Ω ≫ ω0 schwingt der Oszillator im<br />
Gegentakt zur äußeren Kraft, d. h. ϕs π. Dies kann man z.B. daraus folgern, dass für Ω → ∞ die<br />
linke Seite von (10.14) gegen Minus Unendlich läuft. Eine weitere spezielle Situation ist der Fall γ → 0.<br />
Dann ist wird die linke Seite von (10.14) reell und wechselt bei Ω = ω0 das Vorzeichen. Also springt die<br />
Phasendifferenz von ϕ = 0 für Ω < ω0 auf ϕ = π für Ω > ω0. Die folgende Graphik zeigt den Verlauf<br />
für verschiedene Werte von γ, wobei die Kurven mit einer größeren Steigung bei ω0 größere Werte von γ<br />
haben.<br />
86<br />
.
10.2 Schwingungen mit mehreren Freiheitsgraden<br />
Wir betrachten nun ein System aus N miteinander wechselwirkenden Teilchen, die zusammen eine stabile<br />
Gleichgewichtslage haben. Wenn wir nur kleine Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage betrachten,<br />
wird das zu einem System aus N gekoppelten Oszillatoren, die um die Gleichgewichtslage schwingen und<br />
nahezu linearen Rückstellkräften unterliegen. Das System sei konservativ. Eventuell gibt es k holonome,<br />
skleronome Zwangsbedingungen. Es folgt, dass die kinetische Energie eine quadratische Funktion der<br />
n = 3N − k generalisierten Geschwindigkeiten ist (vgl. (4.11)):<br />
T = 1<br />
2<br />
n<br />
i,j=1<br />
Tij(q1, ..., qn) qi ˙ qj, ˙<br />
(10.18)<br />
mit symmetrischen Koeffizienten Tij = Tji. Die Koordinaten der Gleichgewichtslage q0i legen wir in<br />
den Koordinatenursprung, so dass die qi (mit i = 1, ..., n), die Auslenkungen aus dem Gleichgewicht<br />
bezeichnen.<br />
Entwicklung in eine Taylorreihe um die Gleichgewichtslage ergibt<br />
Tij(q1, ..., qn) ≡ Tij(q) = Tij(0) +<br />
Für genügend kleine Auslenkungen beträgt die kinetische Energie mit (10.18)<br />
T 1<br />
2<br />
n<br />
<br />
∂Tij(q) <br />
ql + ... (10.19)<br />
∂ql<br />
l=1<br />
0<br />
n<br />
Tij ˙qi ˙qj , Tij ≡ Tij(0). (10.20)<br />
i,j=1<br />
Da die ˙qi ebenso wie die qi kleine Größen sind, ist dieser führende Term der Taylorentwicklung für unsere<br />
Betrachtungen ausreichend.<br />
Für ein konservatives System existiert eine potenzielle Energie V . Wir machen auch für V eine Taylorentwicklung:<br />
V (q) = V (0)<br />
<br />
irrelevant<br />
+<br />
n<br />
<br />
∂V (q) <br />
qi<br />
∂qi<br />
+<br />
i=1<br />
0<br />
<br />
=0<br />
1<br />
2<br />
n ∂2 <br />
V (q) <br />
qiqj + ... (10.21)<br />
∂qi∂qj<br />
Der 2. Term ist 0 für die Gleichgewichtslage, da die potenzielle Energie dort minimal ist.<br />
Folglich ist das Potenzial in der Umgebung der Gleichgewichtslage ungefähr gleich<br />
V (q) 1<br />
2<br />
n<br />
i,j=1<br />
∂2 <br />
V <br />
<br />
∂qi∂qj<br />
0<br />
i,j=1<br />
qiqj ≡ 1<br />
2<br />
Die Matrizen V und T sind symmetrisch und positiv definit.<br />
Die Lagrange-Funktion<br />
L(q, ˙q) = 1<br />
n<br />
2<br />
ergibt die Bewegungsgleichungen<br />
Der Ansatz<br />
i,j=1<br />
0<br />
n<br />
Vijqiqj . (10.22)<br />
i,j=1<br />
(Tij ˙qi ˙qj − Vijqiqj) (10.23)<br />
n<br />
(Tij ¨qj + Vijqj) = 0 , i = 1, ..., n. (10.24)<br />
j=1<br />
qj(t) = Caje iωt , j = 1, ..., n (10.25)<br />
87
löst die n Differenzialgleichungen (10.24), wie wir gleich sehen werden. Dabei ist C ein zweckmäßiger<br />
Skalenfaktor. Einsetzen ergibt<br />
n<br />
j=1<br />
In Matrix-Schreibweise lautet (10.26)<br />
(Vij − ω 2 Tij)aj = 0 , i = 1, ..., n. (10.26)<br />
(V − ω 2 T )a = 0, (10.27)<br />
wobei V und T die (n × n)-Matrizen mit den Einträgen Vij bzw. Tij sind.<br />
Das lineare System (10.26) bzw. (10.27) hat nur dann nichttriviale Lösungen, d.h. aj = 0 für mindestens<br />
ein j, wenn die Determinante verschwindet:<br />
det(V − ω 2 T ) = 0 . (10.28)<br />
Diese Bedingung legt die möglichen Werte von ω 2 fest. Sie ist eine charakteristische Gleichung in Form<br />
eines Polynoms vom Grad n in der Variablen ω 2 . V , T sind beide reell, symmetrisch und positiv definit,<br />
d.h.alle n Lösungen ω 2 sind positiv,<br />
ω 2 1, ω 2 2, ..., ω 2 n > 0. (10.29)<br />
(Einige der Lösungen können gleich sein. Diese so genannten Entartungen betrachten wir nicht.)<br />
Seien ar die Eigenvektoren des verallgemeinerten Eigenwertproblems (10.27), deren Normierung wir<br />
etwas weiter unten festlegen. Wir benutzen diese Eigenvektoren für einen Wechsel des Koordinatensystems,<br />
ähnlich wie bei der Hauptachsentransfomationin Kapitel 9). Die ar sind definiert durch die<br />
Bedingung<br />
V ar = ω 2 rTar, r = 1, ..., n. (10.30)<br />
Ähnlich wie bei gewöhnlichen Eigenwertproblemen mit symmetrischen Matrizen können wir für die ar eine<br />
Art Orthogonalitätsbeziehung erhalten. Wir betrachten zwei Eigenvektoren a1 und a2 zu den Eigenwerten<br />
ω 2 1 und ω 2 2. Weil die Matrizen T und V symmetrisch sind, gelten die folgenden Beziehungen:<br />
V a1 = ω 2 1Ta1 ;<br />
a t 2V a1 = ω 2 1a t 2Ta1 und analog mit der Vertauschung von 1 und 2;<br />
a t 2V a1 = a t 1V a2 = ω 2 2a t 1Ta2 = ω 2 2a t 2Ta1 .<br />
Die zweite und dritte Zeile sind nur dann miteinander verträglich, wenn a t 2Ta1 = 0 ist, wenn die Eigenvektoren<br />
a1 und a2 verschieden sind. Dies führt uns mit einer entsprechend gewählten Normierung der<br />
ar und mit der Definition<br />
A = (a1,a2, ...,an)<br />
auf die Beziehung<br />
Unter Verwendung von (10.30) folgt daraus<br />
⎛<br />
A t ⎛<br />
1<br />
⎜<br />
T A = ⎜<br />
⎝<br />
1<br />
. ..<br />
⎞<br />
0<br />
⎟ ≡ 1.<br />
⎠<br />
(10.31)<br />
0 1<br />
A t ⎜<br />
V A = ⎜<br />
⎝<br />
ω 2 1<br />
ω 2 2<br />
. ..<br />
0<br />
0 ω 2 n<br />
88<br />
⎞<br />
⎟<br />
⎠ ≡ Ω2 , (10.32)
d.h. die Matrix A diagonalisiert simultan V und T .<br />
Die Normalkoordinaten Qr sind definiert über die Beziehungen<br />
q ≡<br />
n<br />
arQr ≡ A Q. (10.33)<br />
r=1<br />
Einsetzen von (10.33) in die Lagrange-Funktion (10.23) ergibt:<br />
L = 1<br />
2 ( ˙ q t T ˙ q − q t V q)<br />
= 1<br />
2 ((A ˙ Q) t ˙<br />
T (A Q) − (AQ) t<br />
V (AQ)) <br />
= 1<br />
2 ( ˙ Q t t ˙<br />
A T A Q − Q t t<br />
A V AQ) <br />
= 1<br />
2 ( ˙ Q t Q ˙<br />
− Q t 2<br />
Ω Q) .<br />
≡ 1<br />
2<br />
n<br />
( ˙ Q 2 r − ω 2 rQ 2 r). (10.34)<br />
r=1<br />
Gl. (10.34) zeigt, dass die Normalkoordinaten n entkoppelte harmonische Oszillatoren mit Eigenfrequenzen<br />
ωr beschreiben, mit den Lagrange-Gleichungen<br />
¨Qr + ω 2 rQr = 0, r = 1, ..., n. (10.35)<br />
Wir haben also ein Problem mit n Freiheitsgraden auf n Probleme mit je einem Freiheitsgrad reduziert.<br />
10.3 Beispiel 1: Zwei gekoppelte, ungedämpfte Oszillatoren<br />
Wir betrachten zwei identische harmonische Oszillatoren, die durch eine Feder mit der Federkonstanten<br />
D12 verbunden sind und die sich nur auf einer horizontalen Geraden bewegen können. Die kinetische und<br />
potenzielle Energie und die Lagrangfunktion sind also<br />
mit<br />
T = m<br />
2 ( ˙q2 1 + ˙q 2 2), V = D<br />
2 q2 1 + D<br />
2 q2 2 + D12<br />
2 (q2 − q1) 2<br />
⇒ L = 1<br />
2<br />
2<br />
(Tij ˙qi ˙qj − Vijqiqj) ≡ 1<br />
2 ( ˙ q t T ˙ q − q t V q)<br />
i,j=1<br />
<br />
1 0<br />
T = m<br />
0 1<br />
<br />
D + D12<br />
, V =<br />
−D12<br />
−D12<br />
D + D12<br />
Die Eigenfrequenzen ω1 und ω2 und die Eigenvektoren a1 und a2 erhalten wir durch Lösen der Gleichung<br />
(10.35). Es ergibt sich<br />
A = 1<br />
<br />
1<br />
√<br />
2m 1<br />
1<br />
−1<br />
<br />
89<br />
<br />
.
und<br />
ω1 =<br />
<br />
D<br />
m , ω2<br />
<br />
D + 2D12<br />
=<br />
.<br />
m<br />
Die Spalten der Matrix A sind die beiden Eigenvektoren, die Normierung ist gemäß (10.31) gewählt. Die<br />
Gleichung (10.32) führt auf<br />
<br />
.<br />
A t V A = 1<br />
<br />
D 0<br />
m 0 D + 2D12<br />
Die Normalkoordinaten ergeben sich gemäß (10.33) mit A t A = 1<br />
m 1:<br />
Q = A −1 q = mA t q ⇒ Q1 =<br />
Ihre Bewegungsgleichungen lauten<br />
Die allgemeine Lösung ergibt sich aus<br />
<br />
m<br />
2 (q1<br />
<br />
m<br />
+ q2), Q2 =<br />
2 (q1 − q2).<br />
¨Q1 + ω 2 1Q1 = 0, ¨ Q2 + ω 2 2Q2 = 0 .<br />
q = A Q ⇒ q1 = 1<br />
√ 2m (Q1 + Q2), q2 = 1<br />
√ 2m (Q1 − Q2).<br />
Bem.: Die Normalschwingungen (auch Fundamentalschwingungen oder Eigenschwingungen genannt)<br />
haben eine einfache Interpretation. Für die Anfangsbedingungen q1(0) = q2(0), ˙q1(0) = ˙q2(0) wird nur<br />
die erste, gleichphasige Normalschwingung angeregt, bei der die Amplitudenfaktoren gleich sind, d.h.<br />
a11 = a21. Für die zweite Normalschwingung ist a12 = −a22, wobei diese gegenphasige Schwingung durch<br />
die Anfangsbedingungen q1(0) = −q2(0), ˙q1(0) = − ˙q2(0) angeregt wird.<br />
Überlagerung der Normalschwingungen kann zu neuen Phänomenen führen, wie der so genannten<br />
Schwebung. Sie tritt auf, wenn |ω1 − ω2| ≪ ω1 ist. Wir betrachten die Anfangsbedingung<br />
q1(0) = A , ˙q1(0) = q2(0) = ˙q2(0) = 0.<br />
Dies führt auf die Lösung<br />
q1(t) = A<br />
2 (cos ω1t<br />
q2(t) =<br />
<br />
ω2 − ω1 ω2 + ω1<br />
+ cos ω2t) = A cos t cos t ,<br />
2<br />
2<br />
A<br />
2 (cos ω1t<br />
<br />
ω2 − ω1 ω2 + ω1<br />
− cos ω2t) = A sin t sin t ,<br />
2<br />
2<br />
die im folgenden Bild skizziert ist:<br />
90
Der erste Faktor auf der rechten Seite bedeutet ein An- und Abschwellen der Amplitude. Dabei<br />
wandert die Energie mit der Schwebungsfrequenz ω2 − ω1 zwischen den Oszillatoren hin und her. Man<br />
nennt dieses Phänomen Schwebung.<br />
Wir haben gesehen, dass durch die Kopplung zweier Oszillatoren die Eigenfrequenz ω1 = D/m in<br />
die beiden Eigenfrequenzen ω1 und ω2 aufspaltet. Entsprechend findet man bei der Kopplung von N<br />
Oszillatoren eine Aufspaltung in N Eigenfrequenzen, falls keine Entartungen auftreten. Dieses Ergebnis<br />
ist über die <strong>Mechanik</strong> hinaus von großer Bedeutung für die Physik, so z.B. für das Energiespektrum von<br />
Elektronen in Festkörpern, bei dem die Aufspaltung der sehr dicht liegenden Einzelniveaus zu sogenannten<br />
Energiebändern führt.<br />
10.4 Beispiel 2: Erzwungene Schwingungen zweier gekoppelter<br />
Oszillatoren<br />
Wir betrachten nun die Situation, dass zwei gekoppelte Oszillatoren von außen periodisch getrieben<br />
werden. Diese periodische Kraft wenden wir auf den Oszillator 1 an, wie in dem Bild dargestellt.<br />
Die Beiträge zur Lagrange-Funktion sind<br />
T = m<br />
2 ( ˙q2 1 + ˙q 2 2)<br />
und<br />
V = D<br />
2 (q1 − A cos Ωt) 2 + D<br />
Die Lagrange-Gleichungen ergeben dann<br />
2 q2 2 + D12<br />
2 (q2 − q1) 2 .<br />
m¨q1 + (D + D12)q1 − D12q2 = DA cos Ωt<br />
m¨q2 + (D + D12)q2 − D12q1 = 0 .<br />
Im Gegensatz zum getriebenen gedämpften Oszillator im Unterkapitel 10.1 nehmen wir keinen Dämpfungsterm<br />
in die Gleichungen auf. Die Lösung der homogenen Differenzialgleichungen wurde im vorangehenden Beispiel<br />
besprochen. Vom einfachen Oszillator wissen wir, dass ungedämpfte, stationäre Schwingungen die<br />
Phasenverschiebung ϕs = 0 bzw. ϕs = π zwischen der erregenden Kraft und der erzwungenen Schwingung<br />
haben. Für eine spezielle Lösung betrachten wir daher den Ansatz<br />
qi(t) = Ai cos Ωt i = 1, 2 ,<br />
91
wobei Phasenverschiebungen 0 bzw. π durch positive bzw. negative Amplituden Ai beschrieben werden.<br />
Einsetzen ergibt<br />
mit<br />
(ω 2 3 − Ω 2 )A1 − D12<br />
m A2 = f0<br />
− D12<br />
m A1 + (ω 2 3 − Ω 2 )A2 = 0<br />
ω 2 3 ≡<br />
Die Lösung des Gleichungssystems lautet<br />
A1 = f0<br />
A2 = f0<br />
D + D12<br />
m , f0 ≡ DA<br />
m .<br />
ω 2 3 − Ω 2<br />
(ω 2 3 − Ω2 ) 2 − D12<br />
m<br />
D12<br />
m<br />
(ω 2 3 − Ω2 ) 2 − D12<br />
m<br />
wobei ω1 und ω2 wie im vorigen Beispiel definiert sind als<br />
2<br />
2<br />
ω 2 1 ≡ D<br />
m , ω2 D + 2D12<br />
2 ≡ .<br />
m<br />
ω<br />
= f0<br />
2 3 − Ω2 (ω2 1 − Ω2 )(ω2 2 − Ω2 )<br />
ω<br />
= f0<br />
2 3 − ω2 1<br />
(ω2 1 − Ω2 )(ω2 2 − Ω2 ) ,<br />
Erwartungsgemäß werden die Amplituden bei diesen Frequenzen unendlich. (Wenn man den Dämpfungsterm<br />
dazunimmt, werden die Amplituden nicht unendlich, sondern haben ein Maximum in der Nähe der Eigenfrequenzen.)<br />
Besonders bemerkenswert ist das Ergebnis<br />
A1(Ω = ω3) = 0 , A2(Ω = ω3) = − AD<br />
.<br />
D.h. die rechte Masse schwingt im stationären Fall mit solcher Amplitude, dass sich die beiden an der linken<br />
Masse angreifenden Federkräfte gegenseitig aufheben. Man benutzt diesen Effekt zur Konstruktion<br />
von Schwingungstilgern: Maschinenschwingungen, die durch harmonische Anregungen konstanter Frequenz<br />
erzeugt werden, lassen sich durch einen angekoppelten, geeignet abgestimmten zweiten Schwinger<br />
eliminieren.<br />
Aufgaben<br />
1. Gekoppelte Pendel: Zwei Pendel der Längen l1 und l2 mit den Massen m1 und m2 werden durch eine<br />
horizontale Feder verbunden. Die Feder wird an den beiden (wie immer masselosen) Pendelstangen<br />
auf der Höhe l < l1, l2 unterhalb der Aufhängepunkte angebracht. Der Abstand der beiden Pendel<br />
sei wesentlich größer als l, so dass die Feder stets nahezu horizontal bleibt.<br />
D12<br />
(a) Stellen Sie die Bewegungsgleichungen für die beiden Pendel auf.<br />
(b) Integrieren Sie die Bewegungsgleichungen zunächst für den Spezialfall m1 = m2 und l1 = l2<br />
und in der Näherung kleiner Ausschläge. Wählen Sie die Anfangsbedingungen ϕ1(0) = ϕ0 und<br />
˙ϕ1 = ˙ϕ2 = ϕ2 = 0. Bemerkung: ϕ0 muss eine kleine Größe sein.<br />
(c) Lösen Sie jetzt diese Aufgabe auch für m1 = m2, aber immer noch mit l1 = l2.<br />
(d) Betrachten Sie zum Schluss den Fall m1 = m2 und l1 = l2, immer noch für dieselben Anfangsbedingungen<br />
wie in (b) und für kleine Ausschläge.<br />
2. Gehen Sie aus von der Wellengleichung (6.19).<br />
92
(a) Zeigen Sie, dass diese Gleichung zu der durch (10.24) beschriebenen Kategorie von Systemen<br />
gehört, indem Sie die x-Werte diskretisieren. Wie sieht die Matrix Vij aus?<br />
(b) Nun betrachten Sie wieder die kontinuerliche Variante. Betrachten Sie eine an beiden Enden fixierte<br />
Saite, also y(x = 0, t) = y(x = l, t) = 0. Was ist der zu (10.25) analoge Lösungsansatz für<br />
die kontinuierliche Wellengleichung (6.19)? Welche allgemeine Form haben also die Lösungen?<br />
(c) Finden Sie noch eine weitere Klasse von Lösungen, wenn Sie sich nicht um die Randbedingungen<br />
kümmern?<br />
93
Kapitel 11<br />
Der Hamilton-Formalismus<br />
11.1 Einleitung<br />
In diesem Kapitel befassen wir uns mit einer weiteren Formulierung der klassischen <strong>Mechanik</strong>, nämlich<br />
mit der Hamiltonschen <strong>Mechanik</strong>, die in den 1830er Jahren vom irischen Mathematiker Sir William<br />
Rowan Hamilton entwickelt wurde. Zum expliziten Lösen von Aufgaben ist sie nicht besser geeignet als<br />
die Lagrange-<strong>Mechanik</strong>,aber sie ist für Computersimulationen besser geeignet, gewährt tiefere Einsichten<br />
in die Struktur der klassischen <strong>Mechanik</strong> und ist eine wichtige Grundlage für die Chaos-Theorie, für die<br />
statistische <strong>Mechanik</strong> und für die Quantenmechanik.<br />
Zwischen der Lagrange-<strong>Mechanik</strong> und der Hamilton-<strong>Mechanik</strong> bestehen die folgenden wichtigen Unterschiede:<br />
1. Die Lagrange-<strong>Mechanik</strong> geht von der Lagrange-Funktion L(q, ˙q,t) aus, während die Hamilton-<br />
<strong>Mechanik</strong> von der Hamiltonfunktion<br />
H(q,p,t) = <br />
˙qipi −L<br />
(siehe (4.9)) ausgeht. Ganz wichtig ist hierbei, dass als Variablen der Hamiltonfunktion die generalisierten<br />
Koordinaten qi und die zu diesen Koordinaten konjugierten Impulse<br />
i<br />
pi = ∂L<br />
∂˙qi<br />
(siehe (4.5)) gewählt werden. Alle ˙qi müssen also durch die p und q ausgedrückt werden. (Das wird<br />
bei Übungsaufgaben häufig vergessen......)<br />
2. Während es beim Lagrange-Formalismus für jeden Freiheitsgrad eine Bewegungsgleichung zweiter<br />
Ordnung in der Zeit gibt (also mit der zweiten Zeitableitung), gibt es im Hamilton-Formalismus<br />
pro Freiheitsgrad zwei Bewegungsgleichungen erster Ordnung in der Zeit, je eine für die zeitliche<br />
Änderung von qi und von pi. Man kann also die Dynamik mechanischer Systeme im Hamilton-<br />
Formalismus als Trajektorien im sogenannten Phasenraum auffassen, der von den 2n Koordinaten<br />
pi und qi aufgespannt wird.<br />
WirbetrachtenindiesemundallenfolgendenKapitelnnurdenFall,dassesholonomeZwangsbedingungen<br />
oder keine Zwangsbedingungen gibt. Die Zahl der Freiheitsgrade ist also n = 3N −k, und die Indizes der<br />
qi und pi laufen folglich immer von 1 bis n.<br />
11.2 Die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen<br />
Die Bewegungsgleichungenim Hamilton-Formalismuslassensichaufzwei Wegenherleiten, nämlich direkt<br />
aus den Lagrange-Gleichungen, verbunden mit dem Zusammenhang H = <br />
i pi˙qi−L, und auch aus dem<br />
94
Hamiltonschen Prinzip (dem Prinzip der stationären Wirkung). Wir gehen im Folgenden durch beide<br />
Herleitungen.<br />
11.2.1 Herleitung der Hamiltonschen Gleichungen aus den Lagrange-Gleichungen<br />
Der Zusammenhang zwischen H und L ist ganz analog zu dem Zusammenhang zwischen verschiedenen<br />
thermodynamischenPotenzialen,nämlichübereineLegendre-Transformation.Legendre-Transformationen<br />
in der Thermodynamik werden verwendet, um von einer Variablen zu einer anderen zu wechseln, die mit<br />
der partiellen Ableitung des Potenzials nach der ersten Variablen identisch ist. Ein Wechsel von den<br />
Variablen ˙qi zu den Variablen pi = ∂L/∂˙qi ist genau von dieser Art. Wir sehen dies explizit, indem wir<br />
das totale Differenzial von H hinschreiben:<br />
dH = <br />
pid˙qi + <br />
˙qidpi − ∂L<br />
dqi −<br />
∂qi<br />
∂L<br />
d˙qi −<br />
∂˙qi<br />
∂L<br />
∂t dt.<br />
i<br />
Mit den Lagrange-Gleichungen zweiter Art und (3.6) folgt<br />
und damit<br />
dH = <br />
˙qidpi − <br />
i<br />
i<br />
i<br />
∂L<br />
=<br />
∂qi<br />
d ∂L<br />
dt∂˙qi<br />
i<br />
= d<br />
dt pi ≡ ˙pi<br />
˙pidqi − ∂L ∂H<br />
dt ≡ dpi +<br />
∂t ∂pi i<br />
∂H<br />
dqi +<br />
∂qi i<br />
∂H<br />
∂t dt.<br />
Die rechte Seite ist das vollständige Differenzial von H(q,p,t). Koeffizientenvergleich ergibt<br />
und<br />
˙qi = ∂H<br />
, ˙pi = −<br />
∂pi<br />
∂H<br />
∂qi<br />
∂H<br />
∂t<br />
i<br />
(11.1)<br />
= −∂L . (11.2)<br />
∂t<br />
Die Gleichungen (11.1) sind die sogenannten Hamiltonschen Bewegungsgleichungen.<br />
11.2.2 Herleitung der Hamiltonschen Gleichungen aus Hamiltonschem Prinzip<br />
Die HamiltonschenBewegungsgleichungenlassensichauchausderBedingungherleiten, dassdie Wirkung<br />
S stationär wird:<br />
<br />
t2 <br />
<br />
t2 <br />
δS ≡ δ dt pi˙qi −H(q,p,t) = δ pidqi −Hdt = 0. (11.3)<br />
t1<br />
i<br />
Die Variation von S ist so zu nehmen, dass der Anfangs- und der Endpunkt des Integrals im Phasenraum<br />
vorgegeben sind, aber die Phasenraumtrajektorie zwischen diesen beiden Punkten variiert wird mit einer<br />
Änderung δq(t),δp(t).<br />
keine klassische<br />
Trajektorie<br />
p , q , t<br />
1 1 1<br />
t1<br />
p , q , t<br />
2 2 2<br />
klass. Trajektorie<br />
95<br />
i
Dies ist anders als in Kapitel 6, wo nur q(t) variiert wurde. Wir werden gleich sehen, dass eine<br />
unabhängige Variation von q und p auf die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen führt. Dies bedeutet,<br />
dass der Hamilton-Formalismus eine Darstellung der <strong>Mechanik</strong> ist, in der q und p als gleichberechtigte<br />
Variablen betrachtet werden dürfen.<br />
Weitere Umformung von (11.3) führt auf<br />
<br />
t2 <br />
t2<br />
0 = δ dt pi˙qi −H(q,p,t) = dt<br />
t1<br />
t1<br />
i<br />
<br />
<br />
piδ˙qi + ˙qiδpi −<br />
i<br />
∂H<br />
δqi −<br />
∂qi<br />
∂H<br />
<br />
δpi<br />
∂pi<br />
t2<br />
= dt <br />
<br />
− ∂H<br />
<br />
− ˙pi δqi + ˙qi −<br />
∂qi<br />
∂H<br />
<br />
δpi . (11.4)<br />
∂pi<br />
t1<br />
i<br />
Beim Übergang zur letzten Zeile wurde in dem Term mit ˙q partiell integriert, so wie wir das schon in<br />
Kapitel 6 gemacht haben. Wenn wir erlauben, dass die δpi und die δqi voneinander unabhängig sind<br />
und zu jedem Zeitpunkt anders gewählt werden können, müssen die beiden Ausdrücke in den runden<br />
Klammern verschwinden, woraus die Hamiltonschen Gleichungen folgen.<br />
11.2.3 Beispiel: Teilchen im Kreiskegel<br />
Wir leiten die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen für ein Teilchen im Kreiskegel her. Die hierfür notwendigen<br />
Schritte können als allgemeines Rezept für die Aufstellung von Hamiltonschen Bewegungsgleichungen<br />
verwendet werden. Wir nummerieren sie daher im Folgenden durch.<br />
1. Berechnung von T und V und der Lagrange-Funktion: Wir übernehmen sie aus dem Abschnitt 4.4:<br />
L = T −V = m<br />
2<br />
(1+cot 2 α)˙r 2 +r 2 ˙ϕ 2 −mgrcotα.<br />
2. Bestimmung der zu den generalisierten Koordinaten kanonisch konjugierten Impulse: Die beiden<br />
Variablen sind ϕ und r, und die zu ihnen konjugierten Impulse sind<br />
und<br />
pϕ = ∂L<br />
∂ ˙ϕ = mr2 ˙ϕ<br />
pr = ∂L<br />
∂˙r = m˙r(1+cot2 α).<br />
3. Berechnen von H: Da wir es mit zeitunabhängigen Zwangsbedingungen zu tun haben, können wir<br />
direkt H = T + V verwenden. Wir nehmen jetzt aber den allgemeineren Weg über die Formel<br />
H = <br />
i pi˙qi −L:<br />
H = pr˙r+pϕ ˙ϕ−L = 1<br />
2 m(r2 ˙ϕ 2 + ˙r 2 (1+cot 2 α))+mgrcotα.<br />
4. Wechsel von den Variablen ˙ϕ und ˙r zu pϕ und pr: Zu diesem Zweck drücken wir in H die Geschwindigkeiten<br />
˙ϕ und ˙r durch die Impulse pϕ und pr aus und erhalten<br />
H = p2ϕ p<br />
+<br />
2mr2 2 r<br />
2m(1+cot 2 +mgrcotα. (11.5)<br />
α)<br />
96
5. Bestimmen der Hamiltonschen Bewegungsgleichungen:<br />
˙ϕ = ∂H<br />
∂pϕ<br />
= pϕ<br />
,<br />
mr2 ˙pϕ = − ∂H<br />
= 0,<br />
∂ϕ<br />
˙r = ∂H pr<br />
=<br />
∂pr m(1+cot 2α) ,<br />
˙pr = − ∂H<br />
∂r = p2ϕ −mgcotα.<br />
mr3 Die erste und dritte Gleichung stimmen mit obigen Beziehungen für die kanonischen Impulse<br />
überein. Die zweite Gleichung entspricht der Tatsache, dass ϕ eine zyklische Variable ist. Die vierte<br />
Gleichung entspricht der Gleichung (4.10).<br />
Wirsehen,dassdasAufstellenderHamiltonschenBewegungsgleichungenkomplizierteristalsderLagrange-<br />
Formalismus, da wir zunächst durch diesen hindurch gehen müssen, um die kanonischen Impulse korrekt<br />
zu identifizieren.<br />
11.3 Erhaltungsgrößen und Poissonklammern<br />
Wir untersuchen nun, wie sich Erhaltungsgrößen im Hamiltonformalismus äußern. Zunächst betrachten<br />
wir nochmal die Bedingungen, unter denen die Hamiltonfunktion selbst eine Erhaltungsgröße ist. Unter<br />
Verwendung der Hamiltonschen Gleichung ergibt sich<br />
dH<br />
dt<br />
∂H<br />
= ˙qi +<br />
∂qi i<br />
∂H<br />
˙pi +<br />
∂pi i<br />
∂H<br />
∂t<br />
= <br />
<br />
∂H ∂H<br />
+<br />
∂qi ∂pi<br />
∂H<br />
<br />
−<br />
∂pi<br />
∂H<br />
<br />
+<br />
∂qi<br />
∂H<br />
∂t<br />
i<br />
= ∂H<br />
∂t .<br />
Also ist H genau dann eine Erhaltungsgröße, wenn ∂H/∂t = 0 ist. Mit (11.2) erhalten wir wieder die<br />
schon in Kapitel 4 formulierte Bedingung, dass H eine Erhaltungsgröße ist, wenn L nicht explizit von<br />
der Zeit abhängt. Außerdem hatten wir schon in Kapitel 4 gesehen, dass wenn die Zwangsbedingungen<br />
skleronom und die Kräfte konservativ sind, H identisch mit der Energie E ist.<br />
AlsnächstesbetrachtenwireinebeliebigedifferenzierbareFunktionf(q,p,t)derKoordinaten,Impulse<br />
und evtl. der Zeit und untersuchen, unter welchen Bedingungen sie eine Erhaltungsgröße ist. Es ist<br />
df<br />
dt<br />
∂f<br />
= ˙qi +<br />
∂qi i<br />
∂f<br />
˙pi +<br />
∂pi i<br />
∂f<br />
∂t<br />
= <br />
<br />
∂f ∂H<br />
+<br />
∂qi ∂pi<br />
∂f<br />
<br />
−<br />
∂pi<br />
∂H<br />
<br />
+<br />
∂qi<br />
∂f<br />
∂t<br />
i<br />
≡ [f,H]+ ∂f<br />
. (11.6)<br />
∂t<br />
Hier haben wir die sogenannte Poisson-Klammer eingeführt. Allgemein ist die Poissonklammer zweier<br />
differenzierbarer Funktionen von p und q definiert als<br />
[f,g] = <br />
<br />
∂f ∂g<br />
−<br />
∂qi ∂pi<br />
∂f<br />
<br />
∂g<br />
. (11.7)<br />
∂pi ∂qi<br />
i<br />
97
Es folgt also, dass eine Funktion f eine Erhaltungsgröße ist, wenn sie nicht explizit zeitabhängig ist und<br />
ihre Poisson-Klammer mit H verschwindet.<br />
Als Beispiel betrachten wir wieder das Teilchen im Kreiskegel. Wir wissen, dass pϕ eine Erhaltungsgröße<br />
ist. Im Folgenden berechnen wir die Poissonklammer von pϕ mit H, wobei H durch (11.5) gegeben<br />
ist:<br />
[pϕ,H] = ∂pϕ<br />
∂ϕ<br />
∂H<br />
∂pϕ<br />
+ ∂pϕ<br />
∂r<br />
∂H<br />
∂pr<br />
− ∂pϕ ∂H ∂pϕ ∂H<br />
−<br />
∂pϕ ∂ϕ ∂pr ∂r .<br />
Der erste, zweite und vierte Term verschwinden, weil pϕ nicht von den anderen drei Variablen abhängt,<br />
denn alle Größen werden ja als Funktion von r,ϕ,pr,pϕ betrachtet. Also hängt pϕ nur von pϕ ab. Der<br />
ersteFaktordes dritten Termsist daher1, aberdafürverschwindetderzweite Faktor.Alsoist [pϕ,H] = 0,<br />
wie es sein muss, wenn pϕ eine Erhaltungsgröße ist.<br />
Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Poisson-Klammern der klassischen <strong>Mechanik</strong> und<br />
den Kommutatoren der Quantenmechanik. Viele Beziehungen, die in der klassischen <strong>Mechanik</strong> unter<br />
Verwendung von Poissonklammern gelten, gelten analog in der Quantemechanik, wenn man die Poisson-<br />
Klammern durch Kommutatoren ersetzt (und noch einen Faktor i dranmultipliziert). Von besonderer<br />
Bedeutung sind hier die sog. fundamentalen Poissonklammern<br />
[qi,pj] = δij , [qi,qj] = [pi,pj] = 0. (11.8)<br />
In der Quantenmechanik folgt aus der Tatsache, dass der Kommutator von qi mit pi nicht verschwindet,<br />
die Unschärferelation.<br />
11.4 Der Phasenraum und die Liouville-Gleichung<br />
Derdurchdie 2nKoordinatenpi und qi aufgespanntePhasenraumist sehrnützlich zurVeranschaulichung<br />
der Dynamik von Systemen. Wir haben in Aufgabe 2d) in Kapitel 1 ein sogenanntes Phasenraumportrait<br />
für das Pendel gezeichnet, das die qualitativ verschiedenen Trajektorien zeigt:<br />
In der Chaostheorie sind solche Phasenraumbilder ein wichtiges Hilfsmittel, um sich die komplexen<br />
Sachverhalte zu veranschaulichen und um auch ohne Rechnungen einen qualitativen Eindruck von dem<br />
Verhalten eines Systems zu vermitteln.<br />
Deshalb diskutieren wir in diesem Unterkapitel einige Eigenschaften des Phasenraums. Die folgenden<br />
Überlegungen gelten in der angegebenen Form, wenn H nicht explizit von der Zeit abhängt. Wenn H<br />
explizit von der Zeit abhängt, kann man sich mit einem Trick einen Phasenraum mit zeitunabhängigen<br />
Phasenraumportraits konstruieren: Man führt eine weitere Koordinate ein, nennen wir sie s(t), die den<br />
einfachen Zeitverlauf ˙s = 1 hat. Man macht den Phasenraum also 2n+1-dimensional.<br />
98
11.4.1 Trajektorien im Phasenraum<br />
Da die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen von erster Ordnung in der Zeitableitung sind, ist eine Trajektorie<br />
(q(t),p(t)) im Phasenraum durch einen zu einer Zeit t0 festgelegten Punkt (q(0),p(0)) eindeutig<br />
bestimmt. Dies gilt nicht nur vorwärts in der Zeit, sondern auch rückwärts in der Zeit. Wir können jedem<br />
Punkt im Phasenraum einen Pfeil zuordnen, dessen Richtung die Richtung und Länge die “Geschwindigkeit”<br />
(˙q1,..., ˙qn, ˙p1,..., ˙pn) in diesem Punkt angeben. Die Geschwindigkeit lässt sich mit Hilfe der<br />
Hamiltonschen Gleichungen berechnen.<br />
Aus diesen Überlegungen folgt die in der Praxis sehr hilfreiche Regel, dass sich Trajektorien im<br />
Phasenraum nicht schneiden dürfen. Denn wenn sie sich schneiden würden, gäbe es Punkte, in denen die<br />
Richtung des Geschwindigkeitsvektors nicht eindeutig wäre. Die Zeitentwicklung Hamiltonscher Systeme<br />
ist aber deterministisch. Die einzig möglichen Punkte, in denen mehrere Trajektorien zusammenkommen<br />
können, sind instabile Gleichgewichtspunkte, in denen die Geschwindigkeit Null ist, man betrachte hierzu<br />
das Phasenraumportrait des Pendels (siehe vorige Seite). Der instabile Gleichgewichtspunkt bei (φ =<br />
(2n + 1)π,Lz = 0) entspricht dem senkrecht nach oben stehenden Pendel. Man nennt einen solchen<br />
Punkt, in den sowohl Trajektorien hinein- als auch hinauslaufen und in dessen Umgebung deshalb die<br />
Trajektorien Hyperbelform haben, einen hyperbolischen Fixpunkt. Den stabilen Gleichgewichtspunkt bei<br />
(φ = 2nπ,Lz = 0) nennt man übrigens einen elliptischen Fixpunkt.<br />
11.4.2 Die Liouville-Gleichung<br />
Es ist oft zweckmäßig, nicht nur eine, sondern viele Trajektorien im Phasenraum gleichzeitig zu betrachten.<br />
Dies macht man z.B. bei Teilchenbeschleunigern und in der statistischen <strong>Mechanik</strong>. Das Vorgehen<br />
in der statistischen <strong>Mechanik</strong> wird im Folgenden näher erläutert:<br />
In der statistischen <strong>Mechanik</strong> betrachtet man z.B. ein “Gas” aus N Teilchen, das in eine Kammer<br />
eingesperrt ist, mit den n = 3N Ortskoordinaten qi und den entsprechenden Impulskoordinaten pi.<br />
Die Dynamik des gesamten Teilchengases lässt sich also durch die Trajektorie eines Punktes im 6Ndimensionalen<br />
Phasenraum darstellen. Wir schreiben<br />
Die Bewegungsgleichungen (11.1) lassen sich also zusammenfassen als<br />
x = (q1,...,qn,p1,...,pn). (11.9)<br />
˙x = f(x) (11.10)<br />
mit der durch die rechten Seiten der beiden Gleichungen (11.1) gegebenen Funktion f.<br />
Um die Brücke zwischen der klassischen <strong>Mechanik</strong> und der statistischen <strong>Mechanik</strong> zu bauen, betrachtet<br />
man nun nicht ein einzelnes System, sondern ein ganzes Ensemble von solchen Systemen. Da man<br />
die Anfangsbedingung sowieso nicht mit beliebiger Genauigkeit angeben kann, betrachtet man das Ensemble<br />
von Systemen, deren Anfangszustand im Rahmen einer gewählten Genauigkeit übereinstimmt.<br />
Im Phasenraum füllen all diese Anfangszustände des Ensembles ein kleines endliches Volumen aus. Wir<br />
wählen das Ensemble so, dass die Dichte der Systeme in diesem kleinen Volumen einen konstanten Wert<br />
̺0 hat und außerhalb verschwindet. Nun betrachtet man die zeitliche Entwicklung all dieser Systeme<br />
gleichzeitig im Phasenraum. Jeder Punkt des anfänglich gewählten Volumenelements bewegt sich gemäß<br />
Gleichung (11.10). Das Volumenelement bewegt sich also und deformiert sich dabei. Wir zeigen zunächst,<br />
dass sich das Gesamtvolumen dabei nicht ändert. Hierzu machen wir den Ansatz V = l1l2...l2n (mit<br />
infinitesimalen li), wir gehen also davon aus, dass das Volumenelement ein 2n-dimensionaler “Quader”<br />
ist, dessen Kanten sich in jeder der 2n Dimensionen von x (i)<br />
a bis x (i)<br />
e erstrecken. Durch Taylorentwicklung<br />
99
erhalten wir ˙ l1 = ˙x (1)<br />
e − ˙x (1)<br />
a ≃ l1∂f1/∂x (1) . Damit folgt<br />
˙V = ˙ l1l2...l2n + ˙ l2l1l3...l2n +...<br />
= ∂f1<br />
∂x (1)l1l2...l2n + ∂f2<br />
∂x (2)l2l1l3...l2n +...<br />
= <br />
i<br />
∂fi<br />
∂x (i)l1l2...l2n<br />
= V ∇· f . (11.11)<br />
Die Divergenz der Funktion f entscheidet also, wie sich das Phasenraumvolumen unter der Dynamik<br />
ändert. Für unsere Hamiltonschen Bewegungsgleichungen gilt<br />
∇· f =<br />
n<br />
<br />
∂<br />
i=1<br />
∂H<br />
∂qi ∂pi<br />
− ∂<br />
∂pi<br />
<br />
∂H<br />
= 0. (11.12)<br />
∂qi<br />
Das Phasenraumvolumen ändert sich also nicht, sondern deformiert sich nur.<br />
Wir bezeichnen mit ̺(x,t) die Dichte der Zustände unseres Ensembles im Phasenraum. Sie hat am<br />
Anfang den Wert ̺0 innerhalb des gewählten Volumenelements, und außerhalb ist sie 0. Wir haben eben<br />
gezeigt, dass sich das Phasenraumvolumenelement unter der Hamiltonschen Dynamik deformiert, aber<br />
dass es nicht sein Volumen ändert. Also gibt es auch zu späteren Zeiten nur Bereiche mit Dichte ̺0 und<br />
0, die aber immer feiner verwoben werden.<br />
Wir stellen jetzt noch eine allgemeineBewegungsgleichung,die sogenannteLiouville-Gleichung,für die<br />
Dichte ̺(x,t) auf, die auch dann gilt, wenn ̺(x,t) nicht konstant ist. Wir gehen aus von einer allgemeinen<br />
Funktion ̺(x,t). Wir leiten die Liouville-Gleichung aus den Hamiltonschen Gleichungen her, indem wir<br />
mit der Kontinuitätsgleichung starten und die rechte Seite mit Hilfe der Hamiltonschen Gleichungen<br />
umformen:<br />
∂̺<br />
<br />
∂t = − ∇ ̺˙ x<br />
= <br />
<br />
∂<br />
̺<br />
∂pi i<br />
∂H<br />
<br />
−<br />
∂qi<br />
∂<br />
∂qi<br />
= <br />
<br />
∂H ∂<br />
−<br />
∂qi ∂pi<br />
∂H<br />
<br />
∂<br />
̺,<br />
∂pi ∂qi<br />
∂̺<br />
∂t<br />
i<br />
<br />
̺ ∂H<br />
∂pi<br />
= [H,̺]. (11.13)<br />
In der letzten Zeile tritt wieder eine Poisson-Klammer auf. Die Liouville-Gleichung besagt also, dass<br />
die zeitliche Änderung der Phasenraumdichte ̺ durch die Poisson-Klammer der Hamiltonfunktion mit<br />
̺ gegeben ist. Für den speziellen, oben behandelten Fall, dass ̺ innerhalb eines gewissen Volumens den<br />
konstanten Wert ̺0 und außerhalb den Wert Null hat, ergibt sich ∂̺/∂t = 0 an allen Orten außer an den<br />
Rändern des Volumenelements, die sich ja verschieben.<br />
11.4.3 Invariante Mannigfaltigkeiten<br />
ZurVeranschaulichungderDynamik HamiltonscherSystemeist eshilfreich,invarianteMannigfaltigkeiten<br />
(auch “invariante Mengen” genannt) im Phasenraum zu identifizieren. Dies sind Mengen von Punkten im<br />
Phasenraum, die unter der Zeitentwicklung auf sich selbst abgebildet werden. Das bedeutet, dass wenn<br />
man die Zeitentwicklung aller Trajektorien, die in diesen Punkten starten, gleichzeitig betrachtet, diese<br />
Menge auf sich selbst abgebildet wird. Zwei wichtige Arten von invarianten Mengen sollen im Folgenden<br />
kurz vorgestellt werden: Fixpunkte und periodische Bahnen.<br />
100
Fixpunkte<br />
Fixpunkte x ∗ sind Gleichgewichtslösungen von (11.10), also von<br />
0 = f(x ∗ ).<br />
In der Umgebung eines Fixpunktes können wir die Phasenraumtrajektorien durch Taylorentwicklung im<br />
Abstand vom Fixpunkt berechnen: Wir setzen<br />
und<br />
dxi<br />
dt<br />
Dies ist eine Matrixgleichung der Form<br />
mit<br />
Diese Gleichung hat Lösungen der Form<br />
wobei vk die Lösung der Eigenwertgleichung<br />
x(t) = x ∗ +u(t),<br />
dui<br />
=<br />
dt = fi(x ∗ +u(t)) ≃ <br />
<br />
∂fi<br />
∂xj<br />
j<br />
<br />
x ∗<br />
uj(t).<br />
˙u = Au (11.14)<br />
<br />
∂fi<br />
Aij =<br />
∂xj<br />
u(t) =<br />
2n<br />
k=1<br />
x ∗<br />
.<br />
vke λkt ,<br />
Avk = λkvk<br />
ist.<br />
Da die Matrixelemente von A reell sind, gibt es zu jedem komplexen Eigenwert einen komplex konjugierten<br />
Partner.<br />
In zwei Dimensionen haben wir zwei Eigenwerte<br />
λ1,2 = 1<br />
<br />
τ ±<br />
2<br />
τ2 <br />
−4∆ , ∆ = λ1λ2, τ = λ1 +λ2.<br />
τ ist die Spur von A und ∆ die Determinante.<br />
Wir unterscheiden die folgenden Fälle (siehe Abb. 11.1):<br />
• ∆ > 0undτ 2 −4∆ > 0:BeideEigenwertesindreellundhabendasselbeVorzeichen.DerFixpunktist<br />
ein Knoten. Seine Stabilität wird durch das Vorzeichen von τ bestimmt. Bei einem stabilen Knoten<br />
schmiegen sich die Trajektorien mit der Zeit immer stärker an die “langsame” Eigenrichtung (d.h.<br />
die mit dem kleineren |λ|) an, bei einem instabilen Knoten richtet sich die Trajektorie mit der Zeit<br />
an der “schnellen” Eigenrichtung aus.<br />
• ∆ < 0: Die Eigenwerte sind reell und haben entgegengesetztes Vorzeichen. Der Fixpunkt ist ein<br />
Sattelpunkt, auch hyperbolischer Fixpunkt genannt. Es gibt eine stabile und eine instabile Richtung.<br />
• ∆ > 0undτ 2 −4∆ < 0:DieEigenwertesindkomplexkonjugiert.DerFixpunktisteineSpirale. Seine<br />
Stabilität wird durch das Vorzeichen von τ bestimmt. Wir setzen λ1 = λ ′ +iλ ′′ und λ2 = λ ′ −iλ ′′<br />
an. Dann ist<br />
u(t) =v1e (λ′ +iλ ′′ )t +v2e (λ′ −iλ ′′ )t .<br />
u ist reell, und folglich sind v1 und v2 komplex konjugiert, v1 = v ′ + iv ′′ und v2 = v ′ − iv ′′ . Dies<br />
gibt<br />
u(t) = 2e λ′ t (v ′ cosλ ′′ t−v ′′ sinλ ′′ t) .<br />
Die relative Orientierung von v ′ und v ′′ und das Vorzeichen von λ ′′ bestimmen den Drehsinn der<br />
Spirale.<br />
101
• τ = 0: Der Fixpunkt ist ein Zentrum, auch elliptischer Fixpunkt genannt. Die Trajektorien laufen<br />
in geschlossenen Bahnen um ihn herum.<br />
• τ 2 −4∆ = 0: In diesem Fall sind entweder alle Richtungen Eigenrichtungen zum selben Eigenwert<br />
und wir haben einen Stern, oder es gibt nur eine Eigenrichtung, und dann ist der Fixpunkt entartet.<br />
In beiden Fällen befindet sich der Fixpunkt an der Grenze zwischen Knoten und Spirale.<br />
• ∆ = 0: In diesem Fall ist ein Eigenwert 0. Aus der entsprechenden Eigenrichtung läuft man weder<br />
aus dem Fixpunkt heraus, noch in ihn hinein. Es gibt also eine ganze Linie von Fixpunkten.<br />
stabiler Knoten<br />
Sattelpunkt<br />
stabile Spirale<br />
instabiler Knoten Stern<br />
entarteter Fixpunkt<br />
Zentrum<br />
Fixpunktlinie<br />
instabile Spirale<br />
Abbildung 11.1: Die erwähnten Arten von Fixpunkten in 2 Dimensionen.<br />
Allerdings können die meisten dieser Fixpunkte bei Hamiltonschen Systemen nicht auftreten. Wegen<br />
derGleichung(11.12)darfeinPhasenraumvolumenelementauchinderUmgebungdiesesFixpunktesseine<br />
Größe nicht ändern, und deshalb muss die Summe der Eigenwerte Null sein. Zentrum und Sattelpunkt,<br />
alsoelliptische und hyperbolischeFixpunkte, sind daherdie einzigmöglichenFixpunkte in Hamiltonschen<br />
Systemen mit zweidimensionalem Phasenraum.<br />
In 2n > 2 Dimensionen hat ein Fixpunkt mehr als zwei Eigenrichtungen, die zum Teil stabil, zum Teil<br />
instabil sind (man braucht beides, damit das Phasenraumvolumen erhalten ist). Dann kann es z.B. ein<br />
komplex konjugiertes Paar von Eigenwerten geben, dessen Eigenvektoren eine Ebene aufspannen, in der<br />
Trajektoren spiralförmig in den Fixpunkt hineinlaufen, während sie längs anderer Eigenrichtungen aus<br />
dem Fixpunkt herauslaufen, oder umgekehrt.<br />
Periodische Bahnen<br />
Eine periodische Trajektorie ist eine Trajektorie, die sich exakt schließt. Wenn sie stabil ist, bleiben benachbarte<br />
Trajektorien in ihrer Nähe und wickeln sich evtl um sie herum. Wenn sie aber instabil ist,<br />
102
entfernen sich benachbarte Trajektorien in der instabilen Eigenrichtung exponenziell schnell in der Zeit<br />
von ihr (und folglich auch voneinander). Um dies genauer zu verstehen, betrachten wir einen sogenannten<br />
Poincaré-Schnitt durch die Umgebung einer periodischen Traektorie. Wir wählen einen Punkt auf<br />
dieser Trajektorie und schieben gedanklich ein Blatt Papier durch diesen Punkt, so dass die Papierebene<br />
senkrecht auf die Trajektorie steht. (Die Dimension des “Papierblatts” ist allerdings größer als 2, wenn<br />
die periodische Trajektorie samt ihrer Umgebung einen mehr als dreidimensionalen Unterraum des Phasenraums<br />
ausfüllt....) Wir verfolgen nun eine Trajektorie, die in der Nachbarschaft unserer periodischen<br />
Trajektorie startet, in der Zeit. Jedesmal, wenn sie unser Blatt Papier durchstößt, markieren wir den<br />
Durchstoßpunkt. So bekommen wir eine Abfolge von Durchstoßpunkten, die in der Nähe des Durchstoßpunkts<br />
der periodischen Trajektorie liegen. Dann machen wir dasselbe für eine andere Trajektorie und<br />
markieren die Durchstoßpunkte dieser zweiten Trajektorie in einer anderen Farbe, usw. Eine Trajektorie<br />
wird also zu einer Kette von Durchstoßpunkten, und das sich ergebende Gesamtbild ist ganz analog<br />
zum Phasenraumportrait in der Umgebung eines Fixpunkts. So werden stabile periodische Bahnen im<br />
Poincaré-Schnitt zu elliptischen Fixpunkten und instabile periodische Bahnen zu hyperbolischen Fixpunkten<br />
oder (in höheren Dimensionen) zu Fixpunkten mit mehr als einer stabilen und/oder instabilen<br />
Eigenrichtung.<br />
Aufgaben<br />
1. Berechnen Sie für die Perle auf dem parabelförmigen, rotierenden Draht (s. Kap. 2.1.1 und Übungsaufgabe1vonKap.3)dieHamiltonfunktionunddieHamiltonschenGleichungen.WennSieüberschüssige<br />
Energie und Zeit haben, dann berechnen Sie beides auch noch für das Rollpendel. (Die Lagrange-<br />
Funktion wurde in Kap. 3.3 hergeleitet.)<br />
2. Zeigen Sie, dass sich die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen mit Hilfe der Poisson-Klammern<br />
schreiben lassen als<br />
˙qi = [qi,H], ˙pi = [pi,H].<br />
3. Berechnen Sie die Poissonklammern [Lx,Ly] und [Lx, L 2 ] ≡ [Lx,L 2 x +L2 y +L2 z ]. (Bem.: Lx ist die<br />
x-Komponente des Drehimpulses, also Lx = ypz −zpy.)<br />
4. In Aufgabe 2d) von Kapitel 1 haben Sie die Bahnen im Phasenraum für ein Pendel gezeichnet.<br />
(a) Zeichnen Sie nun ein analoges Bild für einen hüpfenden Gummiball, der auf dem Boden elastisch<br />
reflektiert wird und zwischen diesen Reflexionen nur der Gravitationskraft ausgesetzt<br />
ist. Betrachten Sie dieses System nur in einer Dimension (d.h. der Ball hüpft senkrecht nach<br />
oben).<br />
(b) Markieren Sie nun im Phasenraum die Fläche, die zwischen zwei Energien E1 und E2 und<br />
zwischen zwei Impulsen p1 und p2 liegt. Rechnen Sie explizit nach, dass sich dieses “Phasenraumvolumen”<br />
mit der Zeit nicht ändert (also dass alle Trajektorien, die in dieser Fläche zur<br />
Zeit t0 starten, zu einer späteren Zeit t1 eine gleich große Fläche bilden).<br />
103
Kapitel 12<br />
Der Hamilton-Jacobi-Formalismus<br />
Wenn man ausgehend vom Hamilton-Formalismus versucht, Transformationen auf neue Koordinaten<br />
und Impulse so durchzuführen, dass die Bewegung möglichst einfach wird, also dass es möglichst viele<br />
zyklische Variablen gibt, gelangt man zur Hamilton-Jacobi-Gleichung. In diesem Kapitel befassen wir uns<br />
zunächst mit sogenannten kanonischen Transformationen, um dann zu untersuchen, welche Bedingungen<br />
erfüllt sein müssen, damit man auf eine einfache Bewegung kommen kann. Dies wird der letzte Schritt<br />
sein auf dem Weg, ein Kriterium für die Lösbarkeit mechanischer Probleme aufzustellen.<br />
12.1 Kanonische Transformationen<br />
In Kapitel 4 haben wir gezeigt, dass die Lagrange-Gleichungen unter Punkttransformationen forminvariant<br />
sind. Wenn wir also von den Koordinaten q zu den Koordinaten Q = Q(q,t) wechseln und die<br />
entsprechend transformierte Lagrange-Funktion L ′ (Q, ˙ <br />
Q,t) = L q(Q,t), ˙q(Q, ˙ <br />
Q,t),t ermitteln, gelten<br />
auch in den neuen Koordinaten und mit der neuen Lagrange-Funktion die Lagrange-Gleichungen zweiter<br />
Art. Weil die Hamilton-Gleichungen direkt aus den Lagrange-Gleichungen abgeleitet werden können,<br />
folgt somit auch, dass die Hamilton-Gleichungen unter Punkttransformationen forminvariant sind. Um<br />
die neue Hamiltonfunktion zu erhalten, können wir zunächst L ′ bestimmen, daraus die neuen Impulse P<br />
ermitteln und damit schließlich die Hamiltonfunktion und die Hamiltonschen Gleichungen in den neuen<br />
Koordinaten und Impulsen aufstellen.<br />
Im Folgenden wollen wir Transformationen der Koordinaten und Impulse direkt im Hamilton-Formalismus<br />
durchführen. Wir betrachten Transformationen von den Variablen q,p und der Hamiltonfunktion<br />
H(q,p,t) auf neue Variablen Q,P und eine neue Hamiltonfunktion K(Q,P,t) und verlangen, dass die<br />
Hamiltonschen Bewegungsgleichungen<br />
˙Qi = ∂K<br />
, Pi ˙ = −<br />
∂Pi<br />
∂K<br />
∂Qi<br />
mitdenneuenVariablenundderneuenHamiltonfunktionebenfallsgelten.Diesesogenanntenkanonischen<br />
Transformationen sind allgemeiner als die Punkttransformationen. Aus dem eben Gesagten ist klar, dass<br />
jede Punkttransformation auch eine kanonische Transformation ist, aber längst nicht jede kanonische<br />
Transformation lässt sich als Punkttransformation darstellen.<br />
Da die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen aus dem Hamiltonschen Prinzip (11.3) folgen, ist eine<br />
Transformationgenaudannkanonisch,wenndasHamiltonschePrinzipnachderTransformationweiterhin<br />
erfüllt ist. Wir benutzen diese Bedingung, um ein Rezept zur Erzeugung kanonischer Transformationen<br />
zu erhalten.<br />
Die Bedingung (11.3) lautet in den neuen Koordinaten<br />
<br />
t2 <br />
δ dt Pi ˙ <br />
Qi −K(Q,P,t) = 0,<br />
t1<br />
i<br />
104
wobei die Variation an den Anfangs- und Endpunkten verschwindet, δQi(t1) = δQi(t2) = δPi(t1) =<br />
δPi(t2) = 0. Der Vergleich mit (11.3) ergibt, dass sich ( <br />
ipi˙qi −H) und ( <br />
iPi ˙ Qi −K) nur um einen<br />
Faktor und um die totale Zeitableitung einer Funktion F unterscheiden dürfen:<br />
c( <br />
pi˙qi−H) = <br />
Pi ˙ Qi−K+ dF<br />
= − ˙<br />
d(F +i<br />
PiQi−K+<br />
dt PiQi)<br />
≡ −<br />
dt<br />
<br />
PiQi−K+ ˙<br />
dG<br />
. (12.1)<br />
dt<br />
i<br />
i<br />
i<br />
(Das ist analog zu den Überlegungen im Abschnitt 6.4.) Wir setzen c = 1, denn ein c = 1 lässt sich<br />
durch eine Änderung der Skala für Q und K immer auf c = 1 abbilden. Die Funktion F bzw. G ist eine<br />
beliebige stetig differenzierbareFunktion der alten und neuen Variablen (wobei von den 4 Variablensätzen<br />
q,p,Q,P nur 2 unabhängig sind.) Wir wählen G als Funktion der alten Koordinaten und der neuen<br />
Impulse, G = G(q,P,t) und erhalten<br />
dG<br />
dt<br />
<br />
<br />
∂G<br />
= ˙qi +<br />
∂qi<br />
∂G<br />
<br />
Pi ˙<br />
∂Pi<br />
i<br />
+ ∂G<br />
∂t .<br />
Wenn wir dies in (12.1) einsetzen und die linke und rechte Seite vergleichen, erhalten wir<br />
pi = ∂G<br />
, Qi =<br />
∂qi<br />
∂G<br />
, K = H +<br />
∂Pi<br />
∂G<br />
. (12.2)<br />
∂t<br />
Wir habe also ein Rezept dafür gefunden, eine kanonische Transformation durchzuführen: Man nehme<br />
eine differenzierbare Funktion G(q,P,t) und stelle die Beziehungen (12.2) auf. Man überprüfe, dass die<br />
Transformation umkehrbar ist, dass also jedem Phasenraumpunkt q,p ein Phasenraumpunkt Q,P im<br />
neuen System zugeordnet ist und umgekehrt.Damit ist der Zusammenhangzwischen den alten und neuen<br />
Variablen und die neue Funktion K bestimmt. Man nennt G die erzeugende Funktion der kanonischen<br />
Transformation.<br />
Es gibt insgesamt 4 verschiedene Möglichkeiten, über eine Erzeugende Funktion einen Zusammenhang<br />
zwischen den alten und neuen Variablen herzustellen, da es 4 verschiedeneKombinationen eines alten und<br />
eines neuen Variablensatzes gibt. Statt einer erzeugenden Funktion G(q,P,t) kann man also auch eine<br />
Funktion F1(q,Q,t) oder eine Funktion F3(Q,p,t) oder eine Funktion F4(p,P,t) wählen und die zu (12.2)<br />
analogenBeziehungenaufstellen. In Lehrbüchern,die alle4MöglichkeitenzurErzeugungvonkanonischen<br />
Transformationen explizit behandeln, wird unsere Erzeugende Funktion F2(q,P,t) genannt. Da wir im<br />
Folgenden aber nur die Variante mit F2 (also G) benötigen, diskutieren wir die anderen Varianten nicht.<br />
Um ein konkretes Beispiel zu betrachten, wählen wir die erzeugende Funktion G = <br />
iqiPi + H∆t<br />
mit einem kleinen Zeitintervall ∆t. Die Beziehungen (12.2) sind dann<br />
pi = ∂G<br />
∂qi<br />
Qi = ∂G<br />
∂Pi<br />
= Pi + ∂H(q,P,t)<br />
∆t ≃ Pi − ˙pi∆t, ⇒ Pi = pi + ˙pi∆t ≃ pi(t+∆t);<br />
∂qi<br />
= qi + ∂H(q,P,t)<br />
∂Pi<br />
K = H + ∂H(q,P,t)<br />
∂t<br />
∆t ≃ qi + ∂H(q,p,t)<br />
∆t ≃ qi(t+∆t);<br />
∂pi<br />
≃ H(q,p,t+∆t).<br />
Die durch G erzeugte kanonische Transformation macht also eine Translation in der Zeit um ∆t. Wenn<br />
∆t infinitesimal klein ist, können alle ≃-Beziehungen in dieser Rechnung durch = ersetzt werden, denn<br />
die vernachlässigten Terme sind von der Ordnung (∆t) 2 , was gegenüber der Ordnung ∆t unendlich viel<br />
kleiner ist, wenn ∆t infinitesimal klein ist.<br />
Zum Schluss notieren wir noch einen wichtigen Satz (ohne Beweis):<br />
Eine umkehrbare Transformation von q,p,H nach Q,P,K ist genau dann kanonisch, wenn die fundamentalen<br />
Poissonklammern<br />
[Qi,Pj] = δij , [Qi,Qj] = [Pi,Pj] = 0<br />
gelten. Dies überprüft man durch Einsetzen von Qi(q,p) und Pi(q,p) und Ausnützen von (11.8).<br />
105<br />
i
12.2 Die Hamilton-Jacobi-Gleichung<br />
Die Hamilton-Jacobi-Gleichung erhält man, wenn man nach einer kanonischen Transformation sucht, die<br />
sowohl die neuen Koordinaten Qi, als auch die neuen Impulse Pi zu Konstanten der Bewegung macht,<br />
alsoPi = αi und Qi = βi mit Konstantenαi und βi, deren Werte vonden Anfangsbedingungen abhängen,<br />
aber sichmit der Zeit nicht ändern.Wenn man eine solcheTransformationgefunden hat, hat man nämlich<br />
auch die Lösung der Bewegungsgleichungen für q und p gefunden, da diese ja als Funktionen von Q,P,t,<br />
also von β,α,t geschrieben werden können. Man hat dann also die Trajektorien des Systems als Funktion<br />
der Zeit und der Anfangsbedingungen berechnet.<br />
FreilichistdasFindeneinersolchenTransformationgenausoschwerwiedasdirekteLösenderLagrange-<br />
Gleichungen, so dass auch die Hamilton-Jacobi-Theorie meist keine echte Hilfe beim Lösen mechanischer<br />
Probleme ist. Ihr Nutzen liegt vielmehr darin, dass sie neue Einsichten in die Struktur der klassischen<br />
<strong>Mechanik</strong> gewährt, so dass wir bald hinreichende Bedingungen für die Lösbarkeit mechanischer Probleme<br />
aufstellen können.<br />
ja<br />
Eine Transformation auf konstante Q und P ist z.B. erreicht, wenn K(Q,P,t) = 0 ist. Denn dann ist<br />
˙Qi = ∂K<br />
= 0<br />
∂Pi<br />
und<br />
Pi ˙ = − ∂K<br />
= 0,<br />
∂Qi<br />
d.h. weder die Q noch die P ändern sich mit der Zeit.<br />
Aus K = 0 folgt mit der dritten Gleichung von (12.2)<br />
K = H + ∂G<br />
∂t<br />
also (mit der ersten Gleichung von (12.2))<br />
<br />
H q, ∂G(q,P,t)<br />
<br />
,t<br />
∂q<br />
= 0, (12.3)<br />
= − ∂G(q,P,t)<br />
∂t<br />
. (12.4)<br />
Dies ist die Hamilton-Jacobi-Gleichung. Die Funktion G nennt man Prinzipalfunktion oder auch Hamiltonsche<br />
Wirkungsfunktion. Sie ist identisch mit der Wirkung S = Ldt:<br />
Aus der Bedingung (12.1) erhalten wir nämlich mit ˙ Pi = 0 und K = 0<br />
und daraus durch Integration<br />
<br />
i<br />
pi˙qi −H = dG<br />
dt<br />
<br />
<br />
<br />
G = dt pi˙qi −H = dtL.<br />
i<br />
(12.5)<br />
Wir schreiben deshalb ab jetzt S statt G, und statt P schreiben wir α, um deutlich zu machen, dass es<br />
sich um Konstanten handelt. Die Hamilton-Jacobi-Gleichung hat dann die Form<br />
<br />
H q, ∂S(q,α,t)<br />
<br />
,t<br />
∂q<br />
= − ∂S(q,α,t)<br />
∂t<br />
. (12.6)<br />
Die Hamilton-Jacobi-Gleichung ist eine partielle Differenzialgleichung zur Bestimmung der Wirkungsfunktion<br />
S(q,α). Wir haben also das ursprüngliche Problem, die Lagrange-Gleichungen oder die Hamiltonschen<br />
Bewegungsgleichungenzu lösen, ersetzt durch das Problem, die Erzeugende S einer kanonischen<br />
106
Transformation zu finden. Aus 2n gewöhnlichen Differenzialgleichungen für die q und p der Hamiltonschen<br />
Formulierung wurde nun eine partielle Differenzialgleichung für S. Hiermit haben wir eine weitere<br />
Formulierung mechanischer Probleme gefunden. (Nach Newton, d’Alembert, Lagrange und Hamilton ist<br />
das jetzt die fünfte Formulierung.) Es gibt einige mechanische Probleme, die sich recht schnell mit der<br />
Hamilton-Jacobi-Gleichung lösen lassen, da die Hamilton-Jacobi-Gleichung in diesen Problemen sich bei<br />
geeigneter Koordinatenwahl leicht in einen Satz unabhängiger Gleichungen für die einzelnen Koordinaten<br />
separieren lässt. (Wir machen eine solche Separation in der Übungsaufgabe 3 am Ende dieses Kapitels.)<br />
Bespiel: Harmonischer Oszillator<br />
AlseinfachesBeispielbetrachtenwireinenharmonischenOszillator.DerPhasenraumistzweidimensional,<br />
aber weil die Energie erhalten ist, ist jede Trajektorie in einem eindimensionalen Unterraum gefangen.<br />
Die eindimensionalen Probleme lassen sich immer durch eine direkte Integration lösen. Also ist auch die<br />
Hamilton-Jacobi-GleichungfüreindimensionaleSystememiteinernichtexplizitvonderZeitabhängenden<br />
Hamiltonfunktion immer durch eine Integration lösbar.<br />
Für den harmonischen Oszillator ist<br />
Die Hamilton-Jacobi-Gleichung lautet somit<br />
<br />
1 1<br />
2 m<br />
H = p2 m<br />
+<br />
2m 2 ω2q 2 .<br />
2 ∂S<br />
+mω<br />
∂q<br />
2 q 2<br />
<br />
+ ∂S<br />
∂t<br />
Mit dem Ansatz S = W −Pt können wir die Zeit loswerden und erhalten<br />
2 1 1 ∂W<br />
+mω<br />
2 m ∂q<br />
2 q 2<br />
<br />
= P . (12.7)<br />
Auf der linken Seite steht die Hamiltonfunktion. Da sie nicht explizit zeitabhängig ist, ist sie eine Erhaltungsgröße<br />
und identisch mit E, also ist der neue Impuls gegeben durch die Erhaltungsgröße P = E.<br />
Auflösen nach W gibt<br />
∂W(q,E)<br />
= ±<br />
∂q<br />
2mE −m2ω 2q2 = p.<br />
Integration ergibt<br />
und<br />
Q = ∂S ∂W<br />
=<br />
∂E ∂E<br />
q<br />
W(q,E) = mω<br />
q<br />
1<br />
−t =<br />
ω 0<br />
0<br />
dq ′<br />
2E<br />
mω 2 −q ′2<br />
= 0.<br />
2E<br />
mω 2 −q′2 dq ′<br />
−t = 1<br />
ω arcsin<br />
<br />
mω2 2E q<br />
<br />
−t. (12.8)<br />
(Den Anfangspunkt q0 des Integrals haben wir hier ohne Verlust von Allgemeinheit des in der nächsten<br />
Zeile angegebenen Ergebnisses auf 0 gesetzt.) Damit ist<br />
q(t) =<br />
<br />
2E 2E<br />
sin(ω(t+Q)) ≡ sin(ωt+ϕ0).<br />
mω2 mω2 Wir haben also q ausgedrückt durch den neuen “Impuls” P = E und durch die neue Koordinate Q =<br />
ϕ0/ω, die die Anfangsphase festlegt, und durch die Zeit t. Damit haben wir die Bewegungsgleichung<br />
gelöst.<br />
107
12.3 Die zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung<br />
Die kanonische Transformation auf K = 0, die wir im vorigen Unterkapitel durchgeführt haben, führt in<br />
einen trivialen Phasenraum: Es ist ˙ Qi = ˙ Pi = 0 für alle i, d.h. alle Trajektorien sind Fixpunkte. Der neue<br />
Phasenraum weiß also nichts mehr von der Struktur des ursprünglichen Phasenraums, und wir können<br />
aus ihm keine weiteren Erkenntnisse gewinnen. Um weitere Fortschritte bei der Suche nach Kriterien für<br />
die Lösbarkeit mechanischer Probleme zu machen, führen wir im Folgenden eine modifizierte kanonische<br />
Transformation durch, die mehr Einsichten gewährt. Wir beschränken uns auf Systeme mit einer nicht<br />
explizit zeitabhängigen Hamiltonfunktion.<br />
Wenn die Hamiltonfunktion nicht explizit von der Zeit abhängt, kann man die Zeit durch den Ansatz<br />
S(q,α,t) = W(q,α)−Et aus der Hamilton-Jacobi-Gleichung (12.6) eliminieren, so wie wir es im Beispiel<br />
des harmonischen Oszillators gemacht haben. Man nennt W die Charakteristische Funktion.<br />
Die Hamilton-Jacobi-Gleichung lautet mit dieser Ersetzung<br />
<br />
H q, ∂W<br />
<br />
= E. (12.9)<br />
∂q<br />
WirwählenjetztW stattS alsErzeugendederkanonischenTransformation.AusderdrittenGleichung<br />
von (12.2) folgt dann<br />
K(Q,α) = H(q(Q,α),p(Q,α)).<br />
Weil die α ja konstant sein sollen, darf K nicht von den Q abhängen (sonst wäre mindestens ein ˙αi =<br />
∂K/∂Qi = 0), also lässt sich auch H allein als Funktion der α schreiben. Wenn die Energie als eine dieser<br />
Größen gewählt wurde, ist natürlich einfach H = E.<br />
Aus der ersten Gleichung von (12.2) erhalten wir jetzt keine konstanten Q mehr, sondern<br />
woraus<br />
˙Qi = ∂K/∂Pi ≡ ∂K/∂αi ≡ ωi = konst,<br />
Qi(t) = ωit+Qi(0) (12.10)<br />
folgt.<br />
Wir haben also diesmal nicht eine Transformation auf lauter Konstanten gemacht, sondern auf eine<br />
freieBewegung,mitkonstantenImpulsenundlinearinderZeitanwachsendenKoordinaten.DiePi können<br />
irgendwelcheKonstantender Bewegungsein, z.B. Anfangswerteder Impulse oderauch Erhaltungsgrößen.<br />
Da wir schon die Energie als Konstante verwendet haben, setzen wir schonmal P1 ≡ α1 = E. Die Pi legen<br />
zusammen mit den Qi(0) den Anfangspunkt einer Trajektoriefest. Um die kanonische Transformationauf<br />
diese freie Bewegungexplizit zu finden, muss man freilich auchhier wieder die Hamilton-Jacobi-Gleichung<br />
lösen oder auf einem anderen Weg die Lösung der Bewegungsgleichungen finden. Allerdings werden uns<br />
einige Überlegungen zur Beschaffenheit des Phasenraums und zur Auswirkung von Erhaltungsgrößen<br />
ermöglichen, allgemeine Bedingungen zu finden, unter denen eine kanonische Transformation auf eine<br />
freie Bewegung möglich ist. Doch vorher betrachten wir wieder das Beispiel des harmonischen Oszillators.<br />
Nochmal der harmonische Oszillator<br />
Wenn wir den harmonischen Oszillator mit der Erzeugenden W kanonisch transformieren, erhalten wir<br />
statt (12.8)<br />
Q = ∂W<br />
∂E<br />
dq ′<br />
= 1<br />
ω arcsin<br />
<br />
mω2 2E q<br />
<br />
.<br />
q<br />
1<br />
=<br />
ω 0<br />
2E<br />
mω 2 −q ′2<br />
Also ist der Zusammenhang zwischen den alten und neuen Koordinaten jetzt<br />
<br />
2E<br />
q(t) = sin(ωQ(t)).<br />
mω2 108
Den Zeitverlauf Q(t) erhalten wir aus<br />
˙Q = ∂K(E)<br />
= 1.<br />
∂E<br />
Also ist Q = t+Q0 und <br />
2E<br />
q(t) = sin(ωt+ϕ0)<br />
mω2 (mit ϕ0 = ωQ0), wie es sein muss. Die KoordinateQmacht eine freie Bewegungmit konstantem“Impuls”<br />
P (der mit E identisch ist).<br />
Es mag zunächst verwundern, wie eine geradlinig gleichförmige freie Bewegung in den neuen Koordinaten<br />
Q mit einer periodischen Schwingung in den alten Kooridnaten q verträglich ist. Die periodische<br />
Schwingung des harmonischen Oszillators ist nämlich auf einen begrenzten Bereich von q-Werten beschränkt,<br />
während bei einer freien Bewegung die Koordinate Q alle Werte von minus Unendlich bis<br />
plus Unendlich durchlaufen kann. (Wir können Trajektorien nicht nur vorwärts in der Zeit, sondern auch<br />
rückwärts in der Zeit laufen lassen.) Die Auflösung des Rätsels liegt natürlich darin, dass Werte Q+2π/ω<br />
nicht von Werten Q unterschieden werden können, da sie genau demselben Zustand des Systems entsprechen<br />
(wegen der Sinusfunktion in der Abbildung von Q auf q). Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen,<br />
geben wir der Q-Achse sogenannte periodische Randbedingungen: Statt die Achse von minus bis plus<br />
Unendlich laufen zu lassen, nehmen wir den Abschnitt von 0 bis 2π/ω und schließen diesen Abschnitt<br />
ringförmig: Wenn wir “oben” beim Wert 2π/ω hinauslaufen, laufen wir “unten” bei 0 wieder rein (und<br />
umgekehrt).<br />
Die Notation wäre einfacher, wenn wir als Periode der Q-Koordinate nicht 2π/ω, sondern einfach 2π<br />
hätten. Dies können wir dadurch erzielen, dass wir statt der Wahl P = E die Wahl<br />
treffen. Dann bekommen wir<br />
P = E/ω<br />
˙Q = ω, ⇒ Q = Q0 +ωt.<br />
Dasselbe können wir auch in höheren Dimensionen machen. Ein n-dimensionaler harmonischer Oszillator<br />
hat die Hamiltonfunktion<br />
H = 1<br />
n 2<br />
pi +m<br />
2m<br />
2 ω 2 iq2 <br />
i .<br />
i=1<br />
Die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen der n Dimensionen sind unabhängig voneinander und können<br />
jede für sich gelöst werden. In jedem Freiheitsgrad steckt ein Beitrag Ei zur Gesamtenergie, und es ist<br />
E = <br />
iEi. Wir wählen Pi = Ei/ωi und erhalten dann<br />
<br />
2Pi<br />
Qi = ωit+Qi0, und qi(t) =<br />
mω sinQi(t).<br />
Für alle Qi wählen wir periodische Randbedingungen. Wir beschränken also jedes Qi auf den Bereich<br />
[0,2π] und betrachten den Wert 2π als identisch mit 0. Wenn also eine der Koordinaten mit positiver<br />
Geschwindigkeit beim Wert 2π ankommt, wird sie auf 0 gesetzt. Wenn sie mit negativer Geschwindigkeit<br />
bei 0 ankommt, wird sie auf 2π gesetzt. Wenn wir all diese einander entsprechenden Punkte, die auf den<br />
RandflächendesWürfels[0,2π] n liegen,miteinanderverbinden,erhaltenwireinenn-dimensionalenTorus.<br />
Einen zweidimensionalen Torus kann man sich gut vorstellen (als Autoreifenschlauch oder als Donut oder<br />
Bagel), da man ihn in den dreidimensionalen Raum einbetten kann, bei höheren Dimensionen wird es<br />
mit der Anschauung schwieriger...<br />
InmehralseinerDimensionistdieBewegungeinesharmonischenOszillatorsi.A.nichtperiodisch,sondern<br />
quasiperiodisch. Nur wenn die Frequenzen ωi in rationalen Verhältnissen zueinander stehen, können<br />
sich die Trajektorien auf dem Torus exakt schließen. Wenn alle Frequenzen in irrationalen Verhältnissen<br />
zueinander stehen, überdeckt eine Trajektorie im Laufe der Zeit den gesamten Torus immer dichter, d.h.<br />
sie kommt jedem Punkt auf dem Torus im Laufe der Zeit beliebig nahe.<br />
109
12.4 Einige allgemeine Überlegungen<br />
Wir haben mit dem n-dimensionalen harmonischen Oszillator ein Beispiel dafür gesehen, wie die kanonische<br />
Transformation mit der charakteristischen Funktion W(q,α) für die neuen Koordinaten Q auf<br />
eine Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit führt. Weil die Bewegung beschränkt ist (also nicht nach<br />
Unendlich abhauen kann), findet sie auf einem Torus statt.<br />
Nun fragen wir, ob es eine derartige Transformation für jedes nicht explizit zeitabhängige, durch die<br />
Hamiltonschen Bewegungsgleichungen beschriebene System geben kann. Wie wir gesehen haben, ist eine<br />
solche Transformation äquivalent zum Lösen der Bewegungsgleichungen. Sowohl bzgl. der Funktion W,<br />
als auch bzgl. der Lösungen q(t),p(t) der Bewegungsgleichungen hat man üblicherweise die Vorstellung,<br />
dass sie stetig differenzierbar sein muss und sich in irgendeiner Form hinschreiben lässt (zumindest als<br />
Integral oder in sonst einer Form, die die Funktion eindeutig festlegt). Diese Vorstellung beinhaltet auch,<br />
dass eine kleine Änderung der Parameter (also der αi oder der Anfangsbedingungen) auf eine kleine<br />
Änderung der Lösung führen. Außerdem bedeutet die Existenz der Erzeugenden Funktion W auch, dass<br />
man eine Formulierung der Lösung gefunden hat, die die gesamte zukünftige (und ebenso die vergangene)<br />
Zeitentwicklung beinhaltet.<br />
Es gibt nur eine Möglichkeit, wie eine beschränkte Bewegung, die für alle Zeiten eine geradlinig<br />
gleichförmigeBewegungin allennKoordinatenQi ist,aussehenkann: siemussaufeinem n-dimensionalen<br />
Torus verlaufen. Das Lösen der Hamilton-Jacobi-Gleichung für nicht explizit zeitabhängige Systeme ist<br />
also äquivalent zum Durchführen einer kanonischen Transformation auf eine gleichförmige Bewegung auf<br />
einem n-dimensionalen Torus, der durch Konstanten α1,...,αn charakterisiert ist. (Wir schließen jetzt<br />
mal den ganz spezielle Bedingungen erfordernden Fall aus, dass eine einzige Trajektorie quasiperiodisch<br />
einen mehr als n-dimensionalen Torus im Phasenraum abdeckt.) Um herauszufinden, unter welchen Bedingungen<br />
eine solche Transformation allgemein möglich ist, gehen wir jetzt nicht mathematisch exakt<br />
vor, sondern versuchen, eine möglichst gute Anschauung über die Eigenschaften des Phasenraums zu<br />
gewinnen, die für eine solche Transformation nötig sind.<br />
12.4.1 Unterteilung des Phasenraums mit Hilfe von Erhaltungsgrößen<br />
Zunächst überlegen wir, wie sich verschiedene Trajektorien auf den Phasenraum verteilen können. Wir<br />
betrachtenwiederSystemeohneexplizite Zeitabhängigkeit.Die Energieistalsoeine Erhaltungsgröße.Der<br />
Phasenraum lässt sich damit in Energieschalen unterteilen. Eine Energieschale zur Energie E beinhaltet<br />
alle Punkte des Phasenraums, die zu einer Energie in einem infinitesimal kleinen Intervall [E,E + dE]<br />
gehören. Wenn wir einen bestimmten Punkt (q,p) des Phasenraums als Anfangspunkt einer Trajektorie<br />
wählen, dann bleibt die gesamte Trajektorie innerhalb derjenigen Energieschale, in der der Anfangspunkt<br />
liegt. Die Energieschale ist (2n−1)-dimensional. Es gibt Systeme, in denen eine Trajektorie die gesamte<br />
Energieschale abdeckt, also im Laufe der Zeit jedem Punkt der Energieschale beliebig nahe kommt.<br />
Man nennt solche Systeme ergodisch. Sie spielen eine wichtige Rolle in der statistischen <strong>Mechanik</strong>. Die<br />
Bewegung in einem ergodischen System kann man nicht durch eine kanonische Transformation auf einen<br />
n-dimensionalen Torus bringen, da eine einzelne Trajektorie ja schon einen 2n − 1-dimensionalen Unterraum<br />
des Phasenraums dicht bedeckt, also einen Raum höherer Dimension ausfüllt. Die Assoziation<br />
von Konstanten α2,...,αn mit dieser Trajektorie bringt keine besonderen Einsichten. Man kann sie zwar<br />
als Anfangsimpulse zur Zeit t = 0 wählen, doch da zu späteren Zeiten auch alle anderen Impulswerte<br />
der Energieschale auftreten, unterscheidet sich diese Trajektorie abgesehen vom Startpunkt nicht von<br />
anderenTrajektorienindieserImpulsschale.EinsolchesSystemistalsonichtintegrabel,d.h.dieHamilton-<br />
Jacobi-Gleichung kann nicht gelöst werden. (Wir schließen wieder den ganz speziellen Fall aus, dass die<br />
Trajektorie sich so ordentlich durch den Phasenraum bewegt, dass sie auf einen 2n − 1-dimensionalen<br />
Torus transformiert werden kann.)<br />
Wenn es neben der Energie weitere Erhaltungsgrößen gibt, können wir die Energieschalen unterteilen<br />
in Schalen niedrigerer Dimension, die jeweils zu bestimmten Werten der Erhaltungsgrößen gehören. Trajektorien<br />
bleiben dann jeweils in derjenigen Unterschale gefangen, in der sie gestartet sind. Wenn es n<br />
unabhängigeErhaltungsgrößengibt,sind die Trajektorienineinem n-dimensionalenUnterraumgefangen.<br />
110
Systeme mit n unabhängigen Erhaltungsgrößen sind also potenzielle Kandidaten für integrable Systeme,<br />
in denen die Hamilton-Jacobi-Gleichunglösbar ist. Noch mehr unabhängige Erhaltungsgrößenzu fordern,<br />
macht keinen Sinn, denn n = 3N − k ist die Zahl der räumlichen Koordinaten des Systems, und diese<br />
hatten wir schon so gewählt, dass alle Zwangbedingungen berücksichtigt sind. Wenn eine Trajektorie in<br />
einem Unterraum des Phasenraums gefangen ist, der eine Dimension kleiner als n hat, bedeutet dies, dass<br />
sie nicht alle räumlichen Dimensionen sehen kann. Also hat man von Anfang an mehr räumliche Koordinaten<br />
als nötig gewählt. Diesen Fall wollen wir daher ausschließen. Dann gibt es maximal n unabhängige<br />
Erhaltungsgrößen.<br />
Wir werden später an einem Beispiel sehen, dass auch, wenn es außer der Energie keine weiteren Erhaltungsgrößengibt,<br />
Trajektorienin n-dimensionalenUnterräumengefangensein können, doch typischerweise<br />
gibt es neben diesen Trajekorien auch solche, die einen 2n−1-dimensionalen Teil des Phasenraums<br />
überdecken.<br />
12.4.2 Von der Gefährlichkeit hyperbolischer Fixpunkte und instabiler periodischer<br />
Bahnen<br />
Nachdem wir geklärt haben, unter welchen Bedingungen Trajektorien in n-dimensionalen Unterräumen<br />
des Phasenraums gefangen sind, fragen wir als nächstes, wie das durch die Hamiltonschen Gleichungen<br />
(11.10) gegebene Vektorfeld beschaffen sein muss, damit eine kanonische Transformation eines zusammenhängenden,<br />
endlichen Teils des Phasenraums von der ursprünglichen Form (11.10) auf eine freie<br />
Bewegung, also auf ein Vektorfeld der Form<br />
˙x = konst<br />
möglich ist. Hierzu betrachten wir nochmal das Phasenraumportrait des Pendels:<br />
Wir sehen, dass es zwei Sorten von Trajektorien gibt: diejenigen, bei denen das Pendel in einem<br />
begrenzten Winkelbereich hin- und herschwingt, und diejenigen, bei denen das Pendel überschlägt und<br />
sich immer in derselben Richtung dreht. Diese beiden Sorten von Trajektorien unterscheiden sich durch<br />
ihre Energiewerte. Im Energieintervall [−mgl,mgl[ schwingt das Pendel hin und her, im Energiebereich<br />
E > mgl überschlägt es sich. Diese beiden Bereiche sind durch die Trajektorien zu E = mgl voneinander<br />
getrennt. Diese Trajektorien sind sogenannte heterokline Trajektorien, die zwei hyperbolische Fixpunkte<br />
miteinander verbinden, indem sie aus dem einen Fixpunkt in seiner instabilen Eigenrichtung herauslaufen<br />
und in den anderen Fixpunkt aus der stabilen Eigenrichtung einmünden. Es ist anschaulich klar, dass<br />
man für jeden dieser beiden Energiebereiche eine Transformation auf eine gleichförmige Bewegung auf<br />
einem eindimensionalen “Torus” (also einem Kreis) machen kann.<br />
In dem ersten Energiebereich, in dem das Pendel hin- und herschwingt, haben wir eine ähnliche<br />
Situation wie beim harmonischen Oszillator, für den wir diese Transformation explizit gemacht haben.<br />
Die neue Koordinate Q = ωt läuft gleichförmig von 0 nach 2π, während das Pendel von der Ruhelage<br />
zunächst nach rechts zum maximalen Ausschlag, dann nach links zum maximalen Ausschlag auf der<br />
anderen Seite, und zurück zum Nulldurchgang schwingt.<br />
111
Im anderen Energiebereich, in dem das Pendel überschlägt, ist die neue Koordinate Q einfach eine in<br />
der Zeit geeignet gestreckte und gestauchte Funktion ϕ(t), so dass Q gleichförmig in der Zeit anwächst<br />
(oder abfällt).<br />
Die spezielle Trajektorie, die diese beiden Energiebereiche trennt, lässt sich nicht auf diese Weise<br />
transformieren. Der Grund hierfür ist der hyperbolische Fixpunkt, dem sich die Trajektorie im Limes<br />
t → ∞ immer mehr annähert, und an dem die Länge des Pfeils, der die Geschwindigkeit der Trajektorien<br />
im Phasenraum angibt, Null ist. Bei einer Bewegung auf einem Torus ist die Geschwindigkeit überall von<br />
Null verschieden und die Richtung der Bewegung an jedem Punkt eindeutig.<br />
Wir folgern also: die Transformation eines durch einen endlichen Energiebereich gegebenen Teils des<br />
Phasenraums auf eine gleichförmige Bewegung ist unmöglich, wenn dieser Teil des Phasenraums hyperbolische<br />
Fixpunkte enthält. Elliptische Fixpunkte sind harmloser, da sie als ein auf die Größe Null<br />
geschrumpfter Torus angesehen werden können. Hyperbolische Fixpunkte haben noch eine weitere wichtige<br />
Eigenschaft: Wenn man in ihrer unmittelbaren Umgebung ist und in der instabilen Eigenrichtung<br />
rausläuft, entfernt sich die Trajektorie für kleine Zeiten gemäß einer Exponentialfunktion von dem Fixpunkt.<br />
BeimPendel(undbeiallenanderenzeitunabhängigeneindimensionalenSystemen)istdieExistenzvon<br />
hyperbolischen Fixpunkten harmlos, da sie nur einen einzigen Energiewert betreffen (bzw. für allgemeine<br />
eindimensionale Systeme eine endliche Anzahl von Energiewerten in jedem endlichen Energieintervall).<br />
Für die Energiebereiche unterhalb und oberhalb der Energie des hyperbolischen Fixpunkts (oder, wenn<br />
es mehrere solcher Fixpunkte gibt, für die Energiebereiche zwischen den Fixpunkten) ist eine kanonische<br />
Transformation auf Tori möglich. Das System ist also integrabel, benötigt aber für verschiedene Bereiche<br />
des Phasenraums verschiedene Transformationen.<br />
In höherdimensionalen Systemen ist die Situation komplexer. Auch hier kann keine kanonische Transformation<br />
auf eine freie Bewegung durchgeführt werden, wenn der betrachtete Bereich des Phasenraums<br />
hyperbolische Fixpunkte (also Fixpunkte mit stabilen und instabilen Eigenrichtungen) enthält. Doch es<br />
gibt noch weitere gefährliche Objekte in höherdimensionalen Systemen, nämlich instabile periodische<br />
Trajektorien. Ebenso wie Fixpunkte bilden die Punkte einer periodischen Bahn eine invariante Menge<br />
im Phasenraum. Wenn wir uns nun noch bewusst machen, dass solche invarianten Mengen nach einer<br />
kanonischen Transformation mit der Erzeugenden W(q,α) wieder eine invariante Menge sein müssen,<br />
aber dass ein Torus keine instabilen periodischen Bahnen enthält, folgt, dass Phasenraumbereiche, die<br />
instabile periodische Bahnen enthalten, nicht auf eine freie Bewegung transformiert werden können.<br />
All diese Überlegungen führen uns also zu der Schlussfolgerung, dass die Hamilton-Jacobi-Gleichung<br />
lösbar ist, also dass die Dynamik sich auf eine freie Bewegung transformieren lässt, wenn es n Erhaltungsgrößen<br />
gibt und wenn es innerhalb der Phasenraumbereiche, die gemeinsam transformiert werden sollen,<br />
keine instabilen periodischen Bahnen oder Fixpunkte gibt. Damit sind wir vorbereitet für den Satz von<br />
Liouville über integrable Systeme und für den Nachweis, dass nicht integrable Systeme typischerweise<br />
chaotisch sind.<br />
Aufgaben<br />
1. Führen Sie eine kanonische Transformation mit der Erzeugenden G = <br />
i qiPi durch. Wie interpretieren<br />
Sie dieses Ergebnis?<br />
2. Zeigen Sie, dass die Transformation Qi = pi, Pi = −qi, K(Q,P,t) = H(−P,Q,t) kanonisch<br />
ist. Wie interpretieren Sie dieses Ergebnis?<br />
3. (a) Stellen Sie die Hamilton-Jacobi-Gleichung für das Zentralkraftproblem<br />
auf.<br />
H = 1<br />
<br />
p<br />
2m<br />
2 r<br />
112<br />
pϕ<br />
+<br />
r2 <br />
+V(r)
(b) Separieren Sie zunächst die Zeit ab, so dass Sie eine partielle Differenzialgleichung für W<br />
bekommen. Setzen Sie α1 = E und machen Sie den Ansatz W(r,ϕ,E,α2) = W1(r,E,α2) +<br />
W2(ϕ,E,α2). Warum funktioniert dieser Ansatz?<br />
(c) Formen Sie diese Gleichung so um, dass auf der einen Seite keine ϕ-Abhängigkeit und auf der<br />
anderen Seite keine r-Abhängigkeit ist.<br />
(d) Da die rechte und linke Seite von verschiedenen Variablen abhängen, müssen sie gleich einer<br />
Konstanten sein. Identifizieren Sie diese mit α2 und schreiben Sie die resultierenden Ausdrücke<br />
für W1 und W2 auf. Diese Ausdrücke dürfen noch einfache Integrale enthalten.<br />
(e) Finden Sie einen Zusammenhang zwischen pϕ und α2.<br />
(f) Schreiben Sie das somit erhaltene Ergebnis für S auf und berechnen Sie daraus Ausdrücke für<br />
die neuen Koordinaten β1 und β2.<br />
113
Kapitel 13<br />
Integrable und nicht integrable<br />
Systeme<br />
In diesem Kapitel behandeln wir den Satz von Liouville, der eine hinreichende Bedingung für die Integrabilität<br />
eines Systems liefert. Außerdem zeigen wir, dass ein integrablesSystem sofortnichtintegrabel wird,<br />
wenn man zu seiner Hamiltonfunktion einen kleinen Term addiert, der nicht dieselben Erhaltungsgrößen<br />
hat.<br />
13.1 Der Satz von Liouville über integrable Systeme<br />
Der Satz von Liouville besagt, dass ein räumlich beschränktes Hamiltonsches System mit n Freiheitsgraden<br />
integrabel ist, wenn es n Funktionen Ii(q,p) gibt, die von den Koordinaten und Impulsen, aber nicht<br />
von der Zeit abhängen und folgende drei Eigenschaften haben:<br />
1. Die Funktionen Ii(q,p) sind Erhaltungsgrößen.<br />
2. Alle ihre Poissonklammern verschwinden, d.h.<br />
für alle Paare i,j. Man sagt auch, die Ii sind in Involution.<br />
3. Ihre totalen Differenziale<br />
dIi =<br />
[Ii,Ij] = 0 (13.1)<br />
n<br />
<br />
∂Ii<br />
dqk +<br />
∂qk<br />
∂Ii<br />
<br />
dpk<br />
∂pk<br />
k=1<br />
sind linear unabhängig, d.h. der Rang der n×2n Koeffizientenmatrix (∂Ii/∂qk,∂Ii/∂pk) ist n.<br />
Die erste und dritte Eigenschaft sind notwendig, damit der Phasenraum in n-dimensionale Mannigfaltigkeiten<br />
zerlegtwerden kann, die jeweils zu konstanten Werten der Erhaltungsgrößengehören. Die zweite<br />
Eigenschaft ist nötig, damit innerhalb dieser Mannigfaltigkeiten die Erzeugende W(p,I) der kanonischen<br />
Transformation auf eine freie Bewegung konstruiert werden kann. Dann folgt, dass diese Mannigfaltigkeiten<br />
Tori sind. Wir zeigen dies, indem wir die Funktion W konstruieren.Sie ist nämlich wegen W = S+Et<br />
und <br />
S = ( <br />
<br />
pi˙qi −E)dt = ( <br />
<br />
<br />
pidqi −Edt) = pidqi −Et<br />
gegeben durch<br />
i<br />
W(q,I) =<br />
i<br />
q<br />
q0<br />
<br />
i<br />
114<br />
i<br />
pi(q ′ ,I)dq ′ i . (13.2)
Der Integrationsweg ist innerhalb der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit zu den angegebenen Werten I<br />
zu nehmen. Die Funktion W(q,I) ist wohldefiniert, wenn sie unabhängig vom Integrationsweg ist. Wir<br />
müssen also zeigen, dass der Wert des Integrals sich nicht ändert, wenn wir den Weg bei festem Anfangsund<br />
Endpunkt kontinuierlich deformieren. Dies folgt daraus, dass alle Poissonklammern zwischen den Ii<br />
verschwinden, wie wir im Folgenden skizzieren:<br />
Wir können ein infinitesimales Wegelement dq innerhalb der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit dadurch<br />
erzeugen, dass wir die Hamiltonschen Gleichungen über eine infinitesimale Zeit dt anwenden. Dies<br />
gibt<br />
dq (1) = (∂H/∂p)dt<br />
und eine damit verbundene Änderung des Impulses<br />
dp (1) = −(∂H/∂q)dt.<br />
Wir können außerdem n−1 davon linear unabhängige infinitesimale Wegelemente dadurch erzeugen, dass<br />
wir die n−1 anderen Erhaltungsgrößen jeweils wie eine Hamiltonfunktion behandeln, also<br />
dq (j) = (∂Ij/∂p)dτj<br />
und<br />
dp (j) = −(∂Ij/∂q)dτj<br />
setzen, für j = 2,...,n (den Index j = 1 haben wir ja schon für die Hamiltonfunktion, also die Erhaltungsgröße<br />
Energie vergeben). Weil die Poissonklammern der Erhaltungsgrößen verschwinden, ändern<br />
sich die Werte der Erhaltungsgrößen nicht, wir bleiben also innerhalb derselben Mannigfaltigkeit, wenn<br />
wir ein solches Wegelement konstruieren. (Dies zeigt man ganz genau so wie die Rechnung (11.6).) Also<br />
können wir die Wegelemente des Integrationswegs in (13.2) als Linearkombination der q (j) ausdrücken.<br />
Wir können einen gegebenen Integrationsweg beliebig genau dadurch nähern, dass wir in einer richtig<br />
gewählten Reihenfolge die Ij jeweils infinitesimale Wegelemente erzeugen lassen. Das Integral in (13.2)<br />
ist unter stetigen Deformationen des Integrationswegs genau dann invariant, wenn die Reihenfolge der<br />
infinitesimalen Schritte vertauscht werden darf. Dies zeigen wir für zwei aufeinanderfolgende Schritte<br />
dq (j) und dq (k) : Wenn wir von einem Ausgangspunkt (q0,p0) zuerst Ij über eine infinitesimale “Zeit” dτj<br />
anwenden, und dann Ik über eine infinitesimale “Zeit” dτk, erhalten wir einen Beitrag<br />
dW = p(q0, I)·dq (j) +(p(q0, I)+dp (j) )dq (k) = p(q0, I)·dq (j) +p(q0, I)dq (k) +dp (j) dq (k)<br />
zum Integral. Wenn wir die umgekehrte Reihenfolge wählen, lautet der letzte Term dp (k) )dq (j) . Nun ist<br />
aber<br />
dp (j) dq (k) = − ∂Ij<br />
∂q<br />
∂Ik<br />
∂p dτjdτk = − ∂Ik ∂Ij<br />
∂q ∂p dτjdτk = dp (k) dq (j) .<br />
Im vorletzten Schritt haben wir verwendet, dass die Poissonklammer [Ij,Ik] verschwindet. Wir haben<br />
also gezeigt, dass dW unabhängig von der Reihenfolge der beiden Schritte ist. (Diese ganze Rechnung ist<br />
nichts anderes als der Satz von Stokes in n Dimensionen.)<br />
13.2 Wirkungs- und Winkelvariablen<br />
Beim Nachweis der Eindeutigkeit der Funktion W haben wir eine Sache ignoriert: Es gibt nämlich Integrale<br />
<br />
i<br />
pi(q ′ ,I)dq ′ i<br />
auf dem Torus, die nicht verschwinden. Dies sind die Integrale über Wege um den Torus herum, die sich<br />
nichtstetigaufeinenPunktzusammenziehenlassen.Esgibtnverschiedenenichtineinanderdeformierbare<br />
Wege Cj. Also gibt es auch n verschiedene Integrale<br />
Jj ≡ 1<br />
2π<br />
<br />
Cj<br />
<br />
pi(q,I)dqi, (13.3)<br />
i<br />
115
die den Torus charakterisieren. Man nennt sie Wirkungsvariablen.<br />
Diesbedeutet, dassW dochnichteindeutigdefiniertist, damanzwischenzweiPunktenaufdem Torus<br />
Integrationswege nehmen kann, die sich in ihrer Windungszahl um den Torus in jeder der n Dimensionen<br />
unterscheiden können. Doch dies spiegelt nur die Tatsache wider, dass auch die Qj nur bis auf Vielfache<br />
von 2π∂K/∂Ij eindeutig sind.<br />
Da die Wirkungsvariablen einen Torus eindeutig charakterisieren, müssen sie sich als Funktionen der<br />
ErhaltungsgrößenIi schreibenlassen.Diesbedeutet,dasssieselbstErhaltungsgrößensind.Wirhättenvon<br />
Anfang an als neue verallgemeinerte Impulse P in der Erzeugenden W der kanonischen Transformation<br />
statt der I die Variablen J wählen können. Die entsprechenden verallgemeinerten neuen Koordinaten Qi<br />
nennen wir Winkelvariablen θi, und diese genügen den Beziehungen<br />
und der Bewegungsgleichung<br />
θi = ∂W(q,J)<br />
∂Ji<br />
(13.4)<br />
˙θi = ∂K(J)<br />
≡ ωi = konst.<br />
∂Ji<br />
(13.5)<br />
Wir können die den Torus charakterisierenden Integrale (13.3) auch in den neuen Koordinaten berechnen.<br />
Wir erhalten dann<br />
Jj ≡ 1<br />
<br />
2π<br />
<br />
Jidθi.<br />
Cj<br />
WennwirdiegeschlosseneKurveCj alsWegvon(θ1,...,θj,...θn) = (0,...,0,...,0)nach(θ1,...,θj,...θn) =<br />
(0,...,2π,...,0)nehmen,erhaltenwirdieIdentitätJj = Jj,wieesseinmuss.DieWirkungsvariablensind<br />
also eindeutig und verändern sich nicht unter einer kanonischen Transformation. Der Vorfaktor 1/(2π)<br />
vor dem Integral (13.3) führt dazu, dass die θi bei einer Umrundung des Torus genau um 2π anwachsen,<br />
also als echte Winkel verstanden werden können.<br />
13.3 Eine kleine Änderung von H kann ein System nichtintegrabel<br />
machen<br />
Nun beginnen wir mit einem integrablen System in der Formulierung mit Wirkungs- und Winkelvariablen<br />
und mit einer (zeitunabhängigen) Hamilton-Funktion H0, aber addieren eine kleine “Störung” ǫH1, die<br />
z.B. die bisher vernachlässigten Effete der Umgebung des betrachteten Systems auf die Dynamik dieses<br />
Systems beinhaltet:<br />
H(θ,J) = H0(J)+ǫH1(θ,J).<br />
In der Darstellung durch Wirkungs- und Winkelvariable hängt H0 nur von den J ab, weil die Hamiltonfunktion<br />
H ja identisch mit K(J) ist. Wenn H1 explizit von den θ abhängt, hat das durch H beschriebene<br />
System keine n Erhaltungsgrößenmehr. Wir zeigen im Folgenden, dass das System dann auch nicht mehr<br />
integrabel ist. solche Überlegungen wurden übrigens schon um das Jahr 1890 durch Henri Poincaré angestellt.<br />
Wir versuchen, eine kanonische Transformation auf neue Variablen J ′ ,θ ′ zu finden, so dass die<br />
Hamilton-Funktion nur von J ′ abhängt. Wenn es uns gelingt, ist das neue System integrabel, aber wenn<br />
wir zeigen können, dass es keine solche Transformation gibt, ist das System nicht integrabel.<br />
Die zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung für die gesuchte Transformation lautet<br />
<br />
∂W<br />
H<br />
∂θ ,θ<br />
<br />
= H(J ′ ).<br />
Wir entwickeln W in Potenzen von ǫ und behalten in der folgenden Rechnung nur die Terme bis zur<br />
linearen Ordnung in ǫ:<br />
W = W(θ,J ′ ) = θJ ′ +ǫW1(θ,J ′ )+... .<br />
116<br />
i
(Bemerkung: Das Produkt θJ ′ ist zu lesen als θ · J ′ bzw. <br />
iθiJ ′ i<br />
. Der Einfachheit halber lassen wir<br />
in dieser Rechnung die Vektorpfeile bzw. Summierungen und Laufindizes weg.) Der erste Term in der<br />
vorigen Gleichung ist derjenige, den man für H1 = 0 hätte, und er macht eine kanonische Transformation,<br />
bei der die alten und neuen Variablen identisch sind.<br />
Wenn man den Ausdruck für W in die zeitunabhängige Hamilton-Jacobi-Gleichung einsetzt, erhält<br />
man<br />
H(J ′ <br />
) ≃ H0 J ′ +ǫ ∂W1<br />
<br />
+ǫH1 θ,<br />
∂θ<br />
∂W1<br />
<br />
≃ H0(J<br />
∂θ<br />
′ )+ǫ ∂H0<br />
∂J ′<br />
∂W1<br />
∂θ +ǫH1(θ,J ′ ).<br />
Die von θ abhängigen Terme verschwinden in der Ordnung ǫ, wenn<br />
∂H0<br />
∂J ′<br />
∂W1<br />
∂θ<br />
≡ ω∂W1<br />
∂θ = −H1(θ,J ′ )<br />
ist. Um dies zu lösen, entwickeln wir W1 und H1 in einer Fourierreihe in θ (denn θ hat ja die Periode 2π):<br />
W1(θ,J ′ ) = <br />
W1,n(J ′ )e in·θ<br />
n=0<br />
H1(θ,J ′ ) = <br />
n=0<br />
H1,n(J ′ )e in·θ<br />
(13.6)<br />
wobei n = (n1,n2,...) ist (mit ganzzahligen ni). Der Summand n = 0 tritt nicht auf, da er in H1<br />
nur einen konstanten und damit überflüssigen Beitrag zur Energie macht, und da er in W1 wegen der<br />
Ableitung nach θ sowieso keine Auswirkung hat. Damit erhalten wir das Ergebnis<br />
W(J ′ ,θ) = θ·J ′ +iǫ <br />
Man sieht, dass der Beitrag proportional zu ǫ nicht immer klein ist, da er für<br />
n=0<br />
ω ·n = 0<br />
divergiert. Für ein System mit zwei Freiheitsgraden bedeutet dies<br />
ω1n1 +ω2n2 = 0<br />
H1,n(J ′ )<br />
n·ω(J ′ ) ein·θ . (13.7)<br />
bzw.<br />
ω1<br />
= −<br />
ω2<br />
n2<br />
.<br />
n1<br />
Für rationale Frequenzverhältnisse gibt es also Resonanzen, die die Störungstheorie kaputt machen, so<br />
dass das System in diesem Fall nicht mit Hilfe der Störungstheorie integriert werden kann.<br />
DieamAnfangdieserRechnunggemachteAnnahme,dasseinekleineÄnderungvonH zueinerkleinen<br />
Änderung der Trajektorien führt, erweist sich also als falsch. Früher hoffte man, dass die gefundenen<br />
Resonanzen durch Terme, die in höherer Ordnung in ǫ kommen (wir haben ja nur bis zur ersten Ordnung<br />
gerechnet), möglicherweise kompensiert werden, oder dass man einen anderen Ansatz finden kann, um<br />
das durch H0+ǫH1 gegebene mechanische Problem zu lösen. Doch heute wissen wir, dass dies i.A. nicht<br />
möglich ist. Das KAM-Theorem und das Poicaré-Birkhoff-Theorem(aus Kapitel 14) werden das deutlich<br />
machen.<br />
13.4 Das KAM-Theorem<br />
Wir haben im vorigen Abschnitt gesehen, dass rationale Tori durch H1 zerstört werden, weil Resonanzen<br />
auftreten. Nun fragen wir, was mit irrationalen Tori passiert. Werden sie nur deformiert, oder werden sie<br />
auch zerstört? Das kommt darauf an, wie “nah” das irrationale Frequenzverhältnis an rationalen Zahlen<br />
117
ist, wie das KAM-Theorem zeigt, das wir im Folgenden in seiner einfachsten Version behandeln. KAM<br />
steht hierbei für die drei Namen Kolmogorov (1954), Arnold (1963) und Moser (1967). Diese Personen<br />
stellten Bedingungen dafür auf, dass die störungstheoretische Rechnung konvergierende Summen ergibt.<br />
Das betrifft sowohl die Summation der Fourierkomponenten, als auch die Summation der Terme jeder<br />
Ordnung in ǫ. Bei der Begründung des Theorems befassen wir uns hier nur mit der ersten Sorte von<br />
Summe. Wir geben das KAM-Theorem hier für 2 Freiheitsgrade an. Die allgemeine Formulierung kann<br />
in der Originalliteratur gefunden werden.<br />
Das KAM-Theorem besagt, dass wenn die Jacobi-Determinante der Frequenzen nicht Null ist, also<br />
wenn (det∂ωi/∂Jj) = 0 ist, diejenigen Tori, deren Frequenzverhältnis für alle rationalen Zahlen m/s die<br />
Ungleichung <br />
ω1<br />
ω2<br />
− m<br />
s<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
> k(ǫ)<br />
s 2.5<br />
(13.8)<br />
erfüllt, stabil sind unter der Störung ǫH1, solange ǫ genügend klein ist. k(ǫ) ist hierbei eine stetige<br />
Funktion, die für ǫ → 0 verschwindet.<br />
Wir zeigen zunächst, dass diejenigen Frequenzverhältnisse, die die Bedingung (13.8) erfüllen, ein<br />
nichtverschwindenes Maß haben. Die Gesamtlänge aller Intervalle in 0 ≤ ω1/ω2 ≤ 1, für die (13.8) nicht<br />
gilt, erfüllt die Ungleichung<br />
L < 2<br />
∞<br />
s=1<br />
k(ǫ)<br />
·s = 2k(ǫ)<br />
s2.5 ∞<br />
s −1.5 = konst.·k(ǫ) → 0<br />
s=1<br />
für ǫ → 0. (Der Faktor s kommt daher, dass es s verschiedene Werte von m gibt, und der Faktor 2 kommt<br />
daher, dass der Ausdruck in den Betragsstrichen in (13.8) positiv oder negativ sein kann.)<br />
Dies bedeutet, dass diejenigen Frequenzverhältnisse, für die die ursprüngliche Bewegung auf dem<br />
Torus durch die Störung nur leicht verändert wird, ein Maß 1−konst.·k(ǫ) haben. Für genügend große<br />
ǫ werden schließlich alle Tori zerstört. Der letzte Torus, der zerstört wird, entspricht der “irrationalsten<br />
Zahl” ( √ 5−1)/2.<br />
Um die Konvergenz des Ausdrucks für W1 zu begründen, betrachten wir die Summe in (13.7) für<br />
einen irrationalen Torus mit den Frequenzen ω1 > 0 und ω2 > 0, die die Bedingung (13.8) erfüllen, und<br />
zeigen, dass sie konvergiert. Es ist<br />
<br />
<br />
ω1<br />
n2<br />
ω1<br />
n2<br />
|ω1n1 +ω2n2| ≥ |n1|ω2<br />
−<br />
<br />
<br />
≥ ω2<br />
−<br />
<br />
k(ǫ)<br />
<br />
≥ ω2<br />
und folglich<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
H1,n<br />
n·ω<br />
n=0<br />
ein·θ<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
=<br />
=<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
ω2<br />
<br />
n1<br />
n mit ω·n>0<br />
<br />
n mit ω·n>0<br />
≤ <br />
≤<br />
n mit ω·n>0<br />
1<br />
ω2k(ǫ)<br />
ω2<br />
n1<br />
H1,ne in·θ −H1,−ne −in·θ<br />
n·ω<br />
2ℑH1,nein·θ <br />
<br />
<br />
<br />
n·ω <br />
<br />
2ℑH1,nein·θ <br />
n·ω<br />
n mit ω·n>0<br />
|n1| 2.5<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
2ℑH1,ne in·θ |n1| 2.5 . (13.9)<br />
Das Symbol ℑ steht für den Imaginärteil. Der letzte Term in (13.7) ist klein, wenn das Ergebnis (13.9)<br />
multipliziert mit ǫ klein ist. Dies ist der Fall, wenn die Summe konvergiertund k(ǫ) entsprechend gewählt<br />
wird. Die Summe konvergiert, wenn die Fourierkomponenten von H1 für große n1 und n2 mindestens<br />
wie 1/(n 3.5<br />
1 n2) abfallen. Wenn sie stärker abfallen, kann statt des Exponenten 2.5 ein größerer Exponent<br />
gewählt werden, und wir können für noch mehr Tori zeigen, dass sie nicht zerstört werden. Allgemein<br />
versucht man jeweils, die Abschätzungen möglichst gut auf das konkrete System zuzuschneiden.<br />
118
13.5 Was bedeutet das anschaulich?<br />
Wir haben gesehen, dass Tori mit rationalen Frequenzverhältnissen, also mit geschlossenen, periodischen<br />
Bahnen, durch eine Störung kaputt gemacht werden. Dies können wir uns anschaulich plausibel machen:<br />
Eine geschlossene Bahn kommt immer wieder an genau derselben Stelle im Phasenraum vorbei. Dort<br />
spürt sie die Störung H1 immer auf die gleiche Weise. Also kann H1 bei jedem Umlauf die Bahn ein<br />
Stück weiter in derselben Richtung ablenken. Im Laufe der Zeit addieren sich diese kleinen Änderungen<br />
zu einer großen Änderung der Bahn auf. Bei einer quasiperiodischen Bahn ist dies anders, da die Bahn ja<br />
nicht immer wieder dieselben Punkte im Phasenraum durchläuft. Wenn die quasiperiodische Bahn jedoch<br />
nah an einer periodischen ist, kommt sie mehrfach nahe an demselben Punkt vorbei, bevor sie in andere<br />
Bereiche des Phasenraums geht. Je kürzer die Periode der Bahn (also je kleiner s in (13.8)) ist und je<br />
stärker die Störung (also je größer ǫ) ist, desto eher schafft die Störung es, auch eine quasiperiodische<br />
Bahn stark zu ändern. Dies ist das anschauliche Ergebnis des KAM-Theorems.<br />
Wir können dies auch auf unser Sonnensystem anwenden: Wir betrachten die Störung der Bahn eines<br />
Objekts A (z.B. ein Asteroid) durch einen Planeten B (z.B. Jupiter). Um die Störung zeitunabhängig zu<br />
machen, setzen wir uns in ein Bezugssystem, das mit Jupiter wandert. Aus Sicht dieses Bezugssystem<br />
ist der Planet auf einer quasiperiodischen Bahn mit zwei Frequenzen, die sich aus dem Umlaufzeiten von<br />
A und B ergeben. Wenn die Umlaufzeiten der beiden Himmelskörper um die Sonne in einem rationalen<br />
Verhältnis zueinander stehen, sagen wir 3:1, dann sieht der Asteroid bei jedem dritten Umlauf den<br />
Jupiter wieder an derselben Stelle und wird durch ihn in derselben Richtung abgelenkt. Diese kleinen<br />
Störungen, die immer in derselben Richtung wirken, können sich über Jahrmillionen soweit aufaddieren,<br />
dass der Asteroid aus seiner Bahn geworfen wird. Genau dies ist auch in der Vergangenheit passiert, und<br />
man findet im Asteroidengürtel die sogenannten “Kirkwood”-Lücken bei Umlaufzeiten, die in Resonanz<br />
mit der Umlaufzeit des Jupiter stehen, wie in diesem Bild gezeigt, das auf der Wikipedia-Seite zum<br />
Asteroidengürtel zu finden ist:<br />
Auch die Lücken in den Ringen des Saturn kann man so erklären. Dort wo die Lücken sind, steht<br />
die Umlaufdauer der Teilchen in einem rationalen Verhältnis (mit niedrigem s) zur Umlaufdauer eines<br />
Saturn-Mondes.<br />
119
Aufgaben<br />
1. Betrachten Sie die in den folgenden Teilaufgaben genannten mechanischen Systeme mit zeitunabhängigerHamiltonfunktion<br />
und mit konservativenKräften und holonomen, skleronomenZwangsbedingungen<br />
(bzw. ohne Zwangsbedingungen), die wir dieses Semester gelöst haben. Finden Sie zu<br />
jedem dieser Systeme n Erhaltungsgrößen, die in Involution miteinander stehen.<br />
(a) Der Skifahrer (Kapitel 1)<br />
(b) Das Teilchen im Kreiskegel<br />
(c) Das Rollpendel<br />
(d) Das Kepler-Problem (Kapitel 7)<br />
2. Betrachten Sie das Zentralkraftproblem.<br />
(a) Diskutieren Sie folgende Behauptung: Die Wirkungsvariablen des Zentralkraftproblems sind<br />
gegeben durch<br />
Jϕ = 1<br />
<br />
pϕdϕ = pϕ<br />
2π<br />
und<br />
Jr = 1<br />
<br />
2π<br />
prdr = 1<br />
rmax <br />
2m(E −Veff(r))dr<br />
π rmin<br />
mit Veff(r) = p2<br />
ϕ<br />
2mr 2 +V(r).<br />
(b) Eigentlich ist n = 3 für das Zentralkraftproblem. Wo bleibt die dritte Dimension und die dritte<br />
Wirkungsvariable?<br />
(c) Berechnen Sie für das Kepler-Problem explizit Jr als Funktion von E. Ermitteln Sie daraus<br />
den Zusammenhang E(Jr,Jϕ), und aus diesem die Frequenzen ωr und ωϕ. Wie interpretieren<br />
Sie das Ergebnis ωr = ωϕ?<br />
120
Kapitel 14<br />
Das Entstehen von Chaos:<br />
Poincaré-Birkhoff-Theorem und<br />
gekickter Rotator<br />
14.1 Instabile Tori und das Poincaré-Birkhoff-Theorem<br />
Was passiert, wenn Tori zerstört werden? Hierauf gibt das Poincaré-Birkhoff-Theorem (1935) eine Antwort.<br />
Wir betrachten wieder den Fall n = 2, in dem die Tori zweidimensional sind, und wir konzentrieren<br />
uns auf die Umgebung eines rationalen Torus. Wir werden zeigen, dass der ursprüngliche rationale Torus<br />
beim Einschalten der Störung in kleinere Tori zerfällt. Zwischen diesen Tori ist die Bewegung vollständig<br />
irregulär.<br />
Dies lässt sich am besten mit einer Poincaré-Abbildung veranschaulichen. Wir legen in Gedanken ein<br />
Blatt Papier durch den Torus, so dass ein Schnitt in Form eines Kreises entsteht. (Einen Kreis gibt es,<br />
solange wir H1 = 0 wählen.) Wir betrachten eine Trajektorie auf diesem Torus. In Zeitabständen T2 =<br />
2π/ω2 kommt die Trajektorie durch unsere Schnittebene durch. Jedes Mal ist sie um einen Winkel T2·ω1<br />
versetzt. Wir erhalten also eine Folge von Durchstoßpunkten der Trajektorie durch unsere Schnittebene.<br />
Wenn der Torus rational ist (ω1/ω2 = m/s), dann ist der Durchstoßpunkt Nummer s+1 identisch mit<br />
Nummer 1. Für irrationale Tori überdecken im Lauf der Zeit die Durchstoßpunkte den Kreis.<br />
Nun betrachten wir nicht nur einen Torus, sondern alle Tori innerhalb eines gewissen Intervalls von<br />
Werten der Wirkungsvariablen. In der Schnittebene bilden diese Tori dann einen konzentrischen Satz von<br />
Kreisen, deren Radius kontinuierlich von der Wirkungsvariablen J1 abhängt.<br />
Die Abfolge von Durchstoßpunkten einer Trajektorie durch die Schnittebene können wir in Polarkoordinaten<br />
durch eine diskrete Abbildung M darstellen, die definiert ist durch die beiden Beziehungen<br />
ri+1 = ri = r(t = i· 2π<br />
)<br />
θi+1 = θi +2π ω1<br />
ω2<br />
ω2<br />
= θi +2πα(r). (14.1)<br />
Für ein rationales Verhältnis α ≡ (ω1/ω2) = m/s ist jeder Punkt auf dem Kreis ein Fixpunkt der s-fach<br />
iterierten Abbildung M s .<br />
Nun addieren wir eine Störung ǫH1. Weil wir wieder ǫ als klein betrachten, können wir die geänderte<br />
Abbildung, die wir mit Mǫ bezeichnen, durch eine Taylorentwicklung bis zur ersten Ordnung in ǫ nähern:<br />
ri+1 = ri +ǫf(ri,θi)<br />
θi+1 = θi +2πα(ri)+ǫg(ri,θi). (14.2)<br />
121
Weil wirvoneinem stetigemH1 ausgehen,nehmen wirauchan,dassf und g stetigeFunktionen sind. Was<br />
können wir über die Fixpunkte von (Mǫ) s sagen? Um dies zu diskutieren, untersuchen wir den Fall, dass<br />
α(r) stetig mit r anwächst. (Der umgekehrte Fall, dass α(r) stetig mit r abfällt, lässt sich ganz analog<br />
behandeln.) Dazu betrachten wir zunächst alle Punkte mit demselben Winkel θi und verschiedenem<br />
Radius ri. Diejenigen mit einem kleinen ri (so dass α(ri) < m/s ist) werden von der Abbildung M s im<br />
Uhrzeigersinn gedreht (θi+1 < θi), während diejenigen mit einem großen ri (so dass α(ri) > m/s ist) von<br />
der Abbildung M s gegen den Uhrzeigersinn gedreht werden (θi+1 > θi). Diejenigen mit dem Radius, der<br />
zuα(ri) = m/sgehört,werdenaufsichselbstabgebildet.Wenn dieStörungeingeschaltetwird(unddamit<br />
M s durch (Mǫ) s ersetzt wird), werden für genügend kleine ǫ ebenfalls die Punkte (ri,θi) zu kleineren ri<br />
im Uhrzeigersinn gedreht, während die Punkte zu genügend großen ri gegen den Uhrzeigersinn gedreht<br />
werden.Im GegensatzzurungestörtenAbbildung kannsichhierbeiderRadius ändern.Irgendwozwischen<br />
den kleinen und großen ri muss es einen Punkt (Rǫ(θi),θi) geben, der unter der Abbildung (Mǫ) s seinen<br />
Winkelerhält.DiesesArgumentgiltfürjedenWinkelθi,sodassesfürjedenWinkelθi einensolchenPunkt<br />
gibt, dessen Winkel sich unter (Mǫ) s nicht ändert. Also gibt es eine geschlossene Kurve von Punkten,<br />
die unter (Mǫ) s ihren Winkel nicht ändern (siehe Abb. 14.1). Nun betrachten wir diese Kurve samt der<br />
s<br />
M ε(R<br />
ε)<br />
R ε<br />
Abbildung 14.1: Die Kurve Rǫ derjenigen Punkte, die unter der Abbildung (Mǫ) s nicht ihren Winkel<br />
ändern, und die Kurve (Mǫ) s (Rǫ).<br />
Kurve (Mǫ) s (Rǫ). Diese beiden Kurven können nicht identisch sein, da dies ja bedeuten würde, dass der<br />
rationale Torus nicht zerstört wird. Beide Kurven müssen dieselbe Fläche einschließen. Daraus folgt, dass<br />
sie sich an einer geraden Anzahl von Stellen schneiden. Die Schnittpunkte, die auf beiden Kurven Rǫ und<br />
(Mǫ) s (Rǫ) liegen, sind Fixpunkte von (Mǫ) s . Wir betrachten nun die Umgebung dieser Schnittpunkte:<br />
(Abb.14.2). Man sieht, dass abwechselnd elliptische Fixpunkte (Zentren) und hyperbolische Fixpunkte<br />
Abbildung 14.2: Man erhält abwechselnd elliptische und hyperbolische Fixpunkte.<br />
(Sattelpunkte)auftreten.UmeinenelliptischenFixpunktgibtesgeschlosseneTrajektorien.Diesbedeutet,<br />
122
dass der elliptische Fixpunkt von Tori umgeben ist.<br />
Wir haben also folgendes Szenario: Durch das Einschalten einer Störung ǫH1 werden alle rationalen<br />
Tori zerstört.Ein Torusdes Frequenzverhältnissesm/swarin der diskreten Abbildung, die wir betrachtet<br />
haben, ein Ring, auf dem alle Punkte die Periode s haben. Nach Zerstörung des Torus gibt es noch<br />
(mindestens) eine stabile Trajektorie der Periode s und eine instabile Trajektorie der Periode s. Um<br />
jeden Punkt der stabilen Trajektorie gibt es einen neuen Satz von Tori. Hier können wir nun das KAM-<br />
Theorem und das Poincaré-Birkhoff-Theoremwieder anwenden: In dem Satz von neuen Tori darf es auch<br />
keine rationalen Tori geben. Statt ihrer gibt es eine stabile und eine instabile periodische Trajektorie. Um<br />
die Punkte der stabilen Trajektorie gibt es wieder Tori, aber die rationalen Tori sind auch hier zerstört<br />
und durch weitere stabile und instabile Trajektorien ersetzt, etc... Wir erhalten also eine selbstähnliche<br />
Struktur, die auf allen Skalen zu finden ist.<br />
Zum Schluss diskutieren wir noch die Rolle der hyperbolischen Fixpunkte. Die Trajektorien, die in<br />
ihrer Nähe beginnen, werden von ihnen abgestoßen. Aber sie können nicht sehr weit wandern, da sie in<br />
radialer Richtung zwischen den benachbarten nicht zerstörten Tori eingesperrt sind und in tangentialer<br />
Richtung den elliptischen Fixpunkten nicht zu nahe kommen können. In der Umgebung der hyperbolischen<br />
Fixpunkte bewegen sich die Trajektorien chaotisch und füllen den ihnen zugänglichen Phasenraum<br />
aus. Um einen genaueren Eindruck von den Trajektorien in der Nähe der hyperbolischen Fixpunkte zu<br />
bekommen, betrachten wir die zu diesem Fixpunkt gehörige stabile und instabile Mannigfaltigkeit. Die<br />
stabile Mannigfaltigkeit ist die Linie all derjenigen Punkte, die unter der Iteration in den Fixpunkt hineinlaufen.<br />
Die instabile Mannigfaltigkeit sind all diejenigen Punkte, die unter einer Rückwärtsiteration in<br />
den Fixpunkt laufen. Man kann diese Mannigfaltigkeiten dadurch konstruieren, dass man mit demjenigen<br />
Teil der Mannigfaltigkeit beginnt, der sich in unmittelbarer Nähe (zum Beispiel innerhalb eines Abstands<br />
ǫ) des Fixpunktes befindet. Unter wiederholter Vorwärtsiteration (bzw. Rückwärtsiteration) aller Punkte<br />
auf diesem Linienstück erhält man dann die instabile (bzw. stabile) Mannigfaltigkeit. Eine Mannigfaltigkeit<br />
kann sich nicht selbst schneiden, denn sonst hätte ein Punkt ja zwei Vorgänger bzw. Nachfolger,<br />
was bei einer deterministischen Dynamik nicht möglich ist. Die instabile Mannigfaltigkeit kann unter<br />
Vorwärtsiteration entweder in der Nähe des Fixpunktes bleiben oder auf einen benachbarten Fixpunkt<br />
zulaufen. Im ersten Fall schneidet sie irgendwann die stabile Mannigfaltigkeit des eigenen Fixpunktes.<br />
Man nennt einen solchen Schnittpunkt einen homoklinen Punkt. Wenn es einen Schnittpunkt gibt, gibt<br />
es aber unendlich viele. Der Grund ist, dass sich der Schnittpunkt unter der Iteration wieder auf einen<br />
Schnittpunkt abbildet. Dies kann nicht derselbe Schnittpunkt sein, da wir sonst eine periodische Bahn<br />
hätten, was im Wiederspruch damit ist, dass jeder Punkt der Mannigfaltigkeiten unter einer Vorwärts-<br />
(bzw. Rückwärts-) Iteration in den hyperbolischen Fixpunkt läuft. Es gibt also eine unendliche Folge<br />
von Schnittpunkten, die sich in beiden Iterationsrichtungen dem Fixpunkt nähern. Abb. 14.3 zeigt den<br />
qualitativen Verlauf der beiden Mannigfaltigkeiten. Wenn die instabile Mannigfaltigkeit eines Fixpunk-<br />
3<br />
2<br />
H 0<br />
Abbildung 14.3: Die stabile und instabile Mannigfaltigkeit eines hyperbolischen Fixpunktes H, wenn sie<br />
sich schneiden. Der Schnittpunkt 0 der beiden Mannigfaltigkeiten und die ersten drei seiner vorwärts<br />
Iterierten sind gekennzeichnet.<br />
1<br />
123
tes unter Vorwärtsiteration auf einen benachbarten Fixpunkt zuläuft, schneidet sie sich irgendwann mit<br />
der stabilen Mannigfaltigkeit des Nachbarfixpunktes. In diesem Fall spricht man von einem heteroklinen<br />
Punkt, und es gibt ebenfalls unendlich viele Schnittpunkte.<br />
Diese Überlegungen zeigen uns, dass chaotische Bereiche in der Umgebung hyperbolischer Fixpunkte<br />
auftreten. Dies passt sehr gut mit unserer Beobachtung im letzten Kapitel zusammen, dass Phasenraumbereiche,<br />
die hyperbolische Fixpunkte enthalten, nicht integrabel sind. Das Poincaré-Birkhoff-Theorem<br />
zeigt uns nun, dass es in dem durch H0+ǫH1 beschriebenen System keinen Bereich im Phasenraum gibt,<br />
in dem es keinen hyperbolischen Fixpunkt gibt. Denn beliebig nah an einem irrationalen Torus befinden<br />
sich immer auch rationale Tori... Also gibt es für ein nicht integrables System keine stückweise stetig<br />
differenzierbare erzeugende Funktion W(q,P), die eine globale Transformation des Phasenraums auf eine<br />
freie Bewegung macht.<br />
Was wir (im Poincaré-Schnitt) als hyperbolische Fixpunkte identifiziert haben, sind im kontinuierlichen<br />
System instabile periodische Bahnen. Chaotische Bereiche sind dicht von solchen instabilen periodischen<br />
Bahnen durchsetzt. Wir haben in Kapitel 11 gesehen, dass in der Nähe eines hyperbolischen<br />
Fixpunktes (und analog in der Nähe einer instabilen periodischen Bahn) der Abstand einer Trajektorie<br />
zu diesem Fixpunkt exponenziell in der Zeit anwächst, wenn man längs der instabilen Eigenrichtung<br />
herausläuft. Dies ist letztlich die Ursache für die fundamentale Eigenschaft chaotischer Bewegung, dass<br />
sich benachbarte Trajektorien exponenziell schnell voneinander entfernen, solange ihr Abstand klein ist.<br />
14.2 Beispiel: Der gekickte Rotator<br />
Das Standardbeispiel für Hamiltonsches Chaos ist der gekickte Rotator. Dies ist ein rotierender Stab der<br />
Länge l und des Trägheitsmoments I, der an einem Ende reibungsfrei gelagert ist. Wenn keine Kraft auf<br />
ihn wirkt, rotiert er also mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ˙ θ. Der frei rotierende Stab liegt daher mit<br />
der Winkelvariablen θ und der Wirkungsvariablen pθ (Drehimpuls) schon automatisch in der durch die<br />
Hamilton-Jacobi-Gleichung angestrebten einfachen Form einer freien Bewegung vor.<br />
Nun gibt man dem Stab zu Zeiten t = τ,2τ,... einen Stoß der ImpulsstärkeK/l in einer vorgegebenen<br />
Richtung. Die Hamiltonfunktion lautet<br />
H(pθ,θ,t) = p2θ 2I +Kcosθ δ(t−nτ),<br />
n<br />
wobei der erste Tern die kinetische Energie aufgrund der Rotationsbewegung ist und der zweite Term<br />
dafür sorgt,dass der Drehimpuls zu Zeiten nτ durch die Stöße jeweils eine Änderung um den Wert Ksinθ<br />
bekommt, wie die Bewegungsgleichungen zeigen:<br />
dpθ<br />
dt<br />
dθ<br />
dt<br />
= Ksinθ δ(t−nτ)<br />
= pθ<br />
I<br />
n<br />
. (14.3)<br />
DerDrehimpulspθ ändertsichalsodiskontinuierlichzudenZeitennτ,wobeiderKraftstoßin+x-Richtung<br />
geht, so dass die Drehimpulsänderung für θ = ±π am größten ist.<br />
Dies ist eigentlich kein System mit zeitunabhängigem Hamilton-Operator, wie wir sie die ganze Zeit<br />
betrachtet haben. Doch diese Art von zeitabhängiger Störung ist die einfachste Art, Chaos in möglichst<br />
niedrigen Dimensionen zu erzeugen. Wenn wir das System immer nur zu diskreten Zeiten betrachten (wie<br />
bei einer Beobachtung mit dem Stroboskop), bekommen wir dasselbe Szenario, wie wenn wir durch einen<br />
zweidimensionalen Torus eines zeitunabhängigen Systems einen Poincaré-Schnitt machen.<br />
Wir gehen also von den kontinuierlichen Gleichungen zu einer diskreten Abbildung über. Seien pn und<br />
θn der Drehimpuls und der Winkel unmittelbar nach dem n-ten Stoß. Integration der Gleichungen (14.3)<br />
124
über den Stoß und die Vereinfachung τ/I = 1 gibt<br />
pn+1 −pn = Ksinθn+1<br />
θn+1 = (θn +pn) mod 2π. (14.4)<br />
Diese diskrete Abbildung nennt man oft die Standardabbildung. Die Fläche im Phasenraum bleibt unter<br />
dieser Abbildung erhalten, denn es ist<br />
<br />
<br />
∂θn+1/∂θn ∂θn+1/∂pn 1 1<br />
det<br />
= det<br />
= 1.<br />
∂pn+1/∂θn ∂pn+1/∂pn Kcosθn+1 1+Kcosθn+1<br />
Die nächsten drei Abbildungen zeigen die Trajektoriender Standardabbildung für verschiedene Werte des<br />
ParametersK.DerAnfangswertderImpulsewurdeimmerimIntervall[0,2π[gewählt.DadieImpulsesich<br />
auch aus diesem Intervall herausbewegen (um so weiter, je größer K ist), haben wir in den Abbildungen<br />
immer p mod 2π aufgetragen. Für K = 0 ist das System integrabel, und man sieht nur reguläre Tori, die<br />
sich als waagrechte Bänder durch das Bild ziehen.<br />
Mit zunehmendem K zerfallen immer mehr Tori und gibt es immer größere chaotische Regionen. Bei<br />
K ≃ 0.97 zerfällt der letzte ursprüngliche Torus. Für genügend große K füllt vermutlich eine einzige<br />
Trajektorie den ganzen Phasenraum gleichmäßig aus.<br />
14.3 Konsequenzen aus der Existenz von Chaos<br />
Wir haben also gesehen, dass ein nichtverschwindender Anteil des Phasenraums mechanischer Systeme,<br />
dienichtdie strengenBedingungenfürIntegrabilitäterfüllen, auschaotischenTrajektorienbesteht. Chaos<br />
zeichnet sich dadurch aus, dass benachbarte Trajektorien exponentiell schnell in der Zeit auseinanderlaufen,<br />
was dazu führt, dass kleinste Veränderungen der Anfangsbedingungen schon nach recht kurzer<br />
Zeit zu völlig verschiedenem Bahnverlauf führen. Da Anfangsbedingungen prinzipiell nur mit endlicher<br />
Genauigkeit festgelegt oder gemessen werden können, sind chaotische Systeme nur über einen begrenzten<br />
Zeithorizont vorhersagbar. Diese Erkenntnis kam seit den 1960er Jahren, als man anfing, Bewegungsgleichungen<br />
mit den ersten Computern zu integrieren. Doch es dauerte noch 20 Jahre, bis klar wurde, ein<br />
wie generelles und weit verbreitetes Phänomen Chaos ist. Die Erforschung chaotischer Dynamik ist auch<br />
heute ein sehr aktives Forschungsgebiet, auf dem wegen der schwierigen mathematischen Beschreibung<br />
und der Vielfalt der Phänomene immer noch viele neue Erkenntnisse gewonnen werden können.<br />
Als Fazit sei ein Abschnitt aus dem Buch “The Transition to Chaos” von Linda Reichl (S. 3) zitiert,<br />
der 300 Jahre nach der Veröffentlichung von Newtons principia eine Bilanz im Lichte der Erkenntnisse<br />
der Chaostheorie zieht:<br />
“Thebelief that Newtonian mechanicsis a basisfor determinism wasformallylaid to restby Sir James<br />
Lighthill in a lecture to the Royal Society on the three hundredth anniversary of Newton’s Principa.<br />
In his lecture Lighthill says ...I speak ...once again on behalf of the global fraternity of practitioners<br />
of mechanics. We are all deeply conscious today that the enthusiasm of our forebears for the marvelous<br />
achievements of Newtonian mechanics led them to make generalizations in this area of predictability which,<br />
indeed, we may have generally tended to believe before 1960, but which we now recognize were false. We<br />
collectively wish to apologize for having misled the general educated public by spreading ideas about the<br />
determinism of systems satisfying Newton’s laws of motion that, after 1960, were proved incorrect...”<br />
125
Abbildung 14.4: Trajektorien der Standardabbildung für K = 0,0.3,0.6 (von oben nach unten).<br />
126
Abbildung 14.5: Trajektorien der Standardabbildung für K = 0.8 und 0.97 (von oben nach unten). Die<br />
mittlere Abbildung ist ein Zoom in die für K = 0.8.<br />
127
Abbildung 14.6: Trajektorien der Standardabbildung für K = 1.6, 2.5 und 5 (von oben nach unten). Die<br />
dritte Abbildung zeigt eine der beiden einzigen Inseln.<br />
128
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