Vollversion (6.59 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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10 FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 9, HEFT 4, 1996<br />
Richard Saage<br />
Utopie und Umwelt<br />
Die Ökologieproblematik im Brennpunkt utopischer Antizipation<br />
Von keinem Ereignis hat der Utopie-Diskurs<br />
seit Ende der 80er Jahre stärkere Anstöße erhalten<br />
als vom Zusammenbruch des Realsozialismus<br />
in Europa. Zwar sah der Marxismus-<br />
Leninismus seine entscheidende Legitimationsressource<br />
in der Behauptung, er könne mit wissenschaftlicher<br />
Präzision den Gang der Geschichte<br />
prognostizieren. Eben weil er über dieses<br />
Wissen verfüge, müsse die Diktatur der<br />
Kommunistischen Partei selbst über die Klasse,<br />
in deren Namen sie die Herrschaft ausübe,<br />
so lange dauern, bis das „richtige" Bewußtsein<br />
zum Allgemeingut der Gesamtgesellschaft<br />
geworden sei. Doch ebenso sicher ist, daß es<br />
innnerhalb des internationalen Marxismus keine<br />
Strömung gab, die sich über das Marx-Engelssche<br />
Utopieverbot dezidierter hinwegsetzte<br />
als die ältere Generation der Bolschewiki vor<br />
ihrer Entmachtung durch Stalin Ende der 20er<br />
Jahre. Ein starker Beleg für diese These sind<br />
die beiden utopischen Romane von A. Bogdanow<br />
Der rote Planet (1907) und Ingenieur<br />
Menni (1912). Sie zeigen, daß das bolschewistische<br />
Modernisierungsprojekt durch quantitative<br />
Daten und geschichtsphilosophischen<br />
Fortschrittsglauben allein weder den Massen<br />
noch den bolschewistischen Akteuren selbst<br />
plausibel zu machen war: Sowohl nach der gescheiterten<br />
Revolution in Rußland von 1905<br />
als auch nach dem mißlungenen Experiment<br />
des Kriegskommunismus in Sowjet-Rußland<br />
1921 spielte der Rekurs auf utopische Bilder<br />
des kommunistischen Endzustands und der zu<br />
ihm hinführenden Transformationsphase eine<br />
wichtige Rolle bei der Entwicklung neuer<br />
Handlungsperspektiven. Niemand scheint diese<br />
Zusammenhänge besser durchschaut zu haben<br />
als Lenin selbst. Auf seine Anregungen<br />
hin soll Bogdanow den „Ingenieur Menni" geschrieben<br />
haben.<br />
Doch was verleiht den Mars-Utopien Bogdanows<br />
ihr spezifisch bolschewistisches Profil?<br />
Ich möchte folgende Aspekte seines utopischen<br />
Konstrukts nennen, die den Rahmen des<br />
älteren, auf Piaton und Morus zurückgehenden<br />
Utopie-Diskurses sprengen:<br />
(1) Die Absage an den Besitzindividualismus<br />
zieht sich seit Piaton durch die Geschichte<br />
des utopischen Denkens wie ein roter Faden;<br />
er ist das verbindende Prinzip, das seine archistischen<br />
(herrschaftsbezogenen) und anarchistischen<br />
(herrschaftsfreien) Varianten zusammenhält.<br />
Auch Bogdanow steht in dieser<br />
Denktradition, aber er radikalisiert sie in einer<br />
Weise, wie man sie im vorindustriellen<br />
Kontext höchstens noch in Campanellas Sonnenstaat<br />
findet. In dem Maße, wie der auf<br />
Privateigentum gegründete Individualismus<br />
zum „Vampir" und historisch obsolet geworden<br />
ist, steht der Kollektivismus als das neue<br />
Prinzip auf der historischen Tagesordnung.<br />
(2) Bogdanow gehört zu den ersten Utopisten<br />
des 20. Jahrhunderts, die - über eine eu-