Vollversion (6.59 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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74 FORSCHUNGSJOURNAL NSB, JG. 9. HEFT 4, 1996<br />
hinweg zunehmend an Bedeutung gewonnen.<br />
Was bei Rousseau noch eine schwache Ahnung<br />
war und noch keinen allzu großen Stellenwert<br />
hatte, wird seit den 70er Jahren auf<br />
der Basis von naturwissenschaftlichen Daten<br />
und Extrapolationen vorgetragen und als ernste<br />
Warnung vermittelt (vgl. etwa „Der stumme<br />
Frühling", „Die Grenzen des Wachstums"<br />
etc.). Die 'Endlichkeit der Welt' wird nicht<br />
mehr nur 'behauptet', sondern mit wissenschaftlichen<br />
Methoden berechnet. Heute gehen<br />
Umweltschützer und Umweltschützerinnen<br />
wie selbstverständlich davon aus, daß der<br />
'Untergang' vorprogrammiert ist. Dies hält<br />
sie allerdings nicht davon ab, sich dennoch<br />
für die Abwendung desselben einzusetzen.<br />
Indem die Akteure den drohenden Weltuntergang<br />
als Motiv für ihr Engagement angeben,<br />
verleihen sie ihren Bemühungen eine Legitimation,<br />
die über einen bloßen Moralismus<br />
hinaus geht. Das umweltschützerische Handeln<br />
erfährt so eine unhinterfragbare Letztbegründung.<br />
Die von Rousseau polemisch vereinfachte<br />
Aufforderung, 'zurück in die Wälder zu gehen',<br />
hat sich in den 70er Jahren dieses Jahrhunderts<br />
(möglicherweise im Rückgriff auf<br />
die Lebensreformer) zu einem Konzept für<br />
eine natürlichere Lebensweise entwickelt.<br />
Gleichwohl ist das Konzept in den 70ern immer<br />
noch sehr einfach: Es lautet 'Konsumeinschränkung'<br />
und 'Konsumverzicht'. In der<br />
Ökologiebewegung unserer Tage beansprucht<br />
jenes Konzept zwar weiterhin Gültigkeit, es<br />
wird jedoch für die verschiedensten Gebiete<br />
wie Ernährung, Bekleidung, Wohnungseinrichtung,<br />
Freizeit usw. - unter Ausrichtung<br />
an wissenschaftlichen Ergebnissen - zu alternativen<br />
Handlungsprogrammen ausgearbeitet.<br />
Was das vor allem in der Romantik formulierte<br />
Gefühl des 'Einsseins mit der Natur'<br />
angeht, so kann dieses interessanterweise<br />
auch in der Ökologiebewegung der 70er und<br />
80er Jahre in starkem Maße beobachtet werden.<br />
In der heutigen Ökologiebewegung ist<br />
die tiefe Dimension des holistischen Denkens<br />
weitgehend vom biologistisch-kybernetischen<br />
'Denken in Zusammenhängen' verdrängt worden.<br />
Der 'Holismus' hat gewissermaßen eine<br />
wissenschaftliche Durchdringung erfahren.<br />
Das ab der Lebensreformbewegung beobachtbare<br />
Ziel der Proselytenwerbung ist bemerkenswerterweise<br />
seit seinem Aufkommen in<br />
seiner Intensität erhalten geblieben. Sowohl<br />
in der frühen als auch in der heutigen Ökologiebewegung<br />
zeigt sich ein ausgeprägtes<br />
Streben, weite Teile in der Bevölkerung für<br />
den Umweltschutz - und das heißt: für das<br />
Gute - zu gewinnen. Die Aktivitäten der Ökologiebewegung<br />
bleiben damit moralische<br />
Kreuzzüge, auch wenn sie heute in einer überwiegend<br />
versachlichten Weise geführt werden.<br />
Gabriela B. Christmann arbeitet als wissenschaftliche<br />
Angestellte an der Universität<br />
Konstanz (Fachgruppe Soziologie) und hat<br />
über das Thema 'ökologische Moral' promoviert.<br />
Anmerkungen<br />
1<br />
Dafür wurden Methoden gewählt, die geeignet<br />
sind, die 'Lebenswelt' der Umweltschützer möglichst<br />
unverfälscht und detailliert zu erfassen und<br />
zu rekonstruieren (Ethnographie, narratives Interview,<br />
Ethnographie der Kommunikation und sozialwissenschaftliche<br />
Hermeneutik).<br />
2<br />
Die Stadt. In die die lokale Ökologiebewegung<br />
eingebettet ist, ist eine in Süddeutschland gelegene<br />
Mittelstadt mit etwas über 70.000 Einwohnern. Eine<br />
Bestandsaufnahme ergab, daß am Stichtag (dem<br />
31. Januar 1991) in der Stadt 62 Einzelgruppen<br />
mit insgesamt 270 kontinuierlich mitarbeitenden<br />
Akteuren existierten.