26.10.2012 Aufrufe

Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...

Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...

Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Zu Beginn ist er geneigt, die Entwicklung seiner Altersgenossen als widrigen Zufall anzusehen.<br />

Gerade sie haben sich zum Schlechten verän<strong>der</strong>t. Vielleicht liegt es an <strong>der</strong> Generation und ihrem<br />

beson<strong>der</strong>en äußeren Schicksal. Schließlich entdeckt er, daß die Erfahrung ihm vertraut ist, nur aus<br />

einem an<strong>der</strong>en Aspekt: dem <strong>der</strong> Jugend gegenüber den Erwachsenen. War er damals nicht<br />

überzeugt, daß bei diesem und jenem Lehrer, den Onkeln und Tanten, Freunden <strong>der</strong> Eltern, später<br />

bei den Professoren <strong>der</strong> Universität o<strong>der</strong> dem Chef des Lehrlings etwas nicht stimmte! Sei es, daß sie<br />

einen lächerlichen verrückten Zug aufwiesen, sei es, daß ihre Gegenwart beson<strong>der</strong>s öde, lästig,<br />

enttäuschend war.<br />

Damals machte er sich keine Gedanken, nahm die Inferiorität <strong>der</strong> Erwachsenen einfach als<br />

Naturtatsache hin. Jetzt wird ihm bestätigt: unter den gegebenen Verhältnissen führt <strong>der</strong> Vollzug <strong>der</strong><br />

bloßen Existenz bei Erhaltung einzelner Fertigkeiten, technischer o<strong>der</strong> intellektueller, schon im<br />

Mannesalter zum Kretinismus. Auch die Weltmännischen sind nicht ausgenommen. Es ist, als ob die<br />

Menschen <strong>zur</strong> Strafe dafür, daß sie die Hoffnungen ihrer Jugend verraten und sich in <strong>der</strong> Welt<br />

einleben, mit frühzeitigem Verfall geschlagen würden.<br />

Zusatz<br />

Der Zerfall <strong>der</strong> Individualität heute lehrt nicht bloß <strong>der</strong>en Kategorie als historisch verstehen, son<strong>der</strong>n<br />

weckt auch Zweifel an ihrem positiven Wesen. Das Unrecht, das dem Individuum wi<strong>der</strong>fährt, war in<br />

<strong>der</strong> Konkurrenzphase dessen eigenes Prinzip. Das bezieht sich aber nicht nur auf die Funktion des<br />

Einzelnen und seiner partikularen Interessen in <strong>der</strong> Gesellschaft, son<strong>der</strong>n auch auf die innere<br />

Zusammensetzung von Individualität selber. In ihrem Zeichen stand die Tendenz <strong>zur</strong> Emanzipation<br />

des Menschen, aber sie ist zugleich das Resultat eben jener Mechanismen, von denen es die<br />

Menschheit zu emanzipieren gilt. In <strong>der</strong> Selbständigkeit und Unvergleichlichkeit des Individuums<br />

kristallisiert sich <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand gegen die blinde, unterdrückende Macht des irrationalen Ganzen.<br />

Aber dieser Wi<strong>der</strong>stand war historisch nur möglich durch die Blindheit und Irrationalität jenes<br />

selbständigen und unvergleichlichen Individuums. Umgekehrt jedoch bleibt, was dem Ganzen als<br />

Partikulares unbedingt sich entgegensetzt, schlecht und undurchsichtig dem Bestehenden verhaftet.<br />

Die radikal individuellen, unaufgelösten Züge an einem Menschen sind stets beides in eins, das vom<br />

je herrschenden System nicht ganz Erfaßte, glücklich Überlebende und die Male <strong>der</strong> Verstümmelung,<br />

welche das System seinen Angehörigen antut. In ihnen wie<strong>der</strong>holen sich übertreibend<br />

Grundbestimmungen des Systems: im Geiz etwa das feste Eigentum, in <strong>der</strong> eingebildeten Krankheit<br />

die reflexionslose Selbsterhaltung. Indem kraft solcher Züge das Individuum sich gegen den Zwang<br />

von Natur und Gesellschaft, Krankheit und Bankrott, krampfhaft zu behaupten trachtet, nehmen jene<br />

Züge selber notwendig das Zwangshafte an. In seiner innersten Zelle stößt das Individuum auf die<br />

gleiche Macht, vor <strong>der</strong> es in sich selber flieht. Das macht seine Flucht <strong>zur</strong> hoffnungslosen Chimäre.<br />

Die Komödien Molières wissen von diesem Fluch <strong>der</strong> Individuation nicht weniger als die Zeichnungen<br />

Daumiers; die Nationalsozialisten aber, die das Individuum abschaffen, weiden sich behaglich an<br />

jenem Fluch und etablieren Spitzweg als ihren klassischen Maler.<br />

Nur gegen die verhärtete Gesellschaft, nicht absolut, repräsentiert das verhärtete Individuum das<br />

Bessere. Es hält die Scham fest über das, was das Kollektiv dem Einzelnen immer wie<strong>der</strong> antut und<br />

was sich vollendet, wenn es keinen Einzelnen mehr gibt. Die entselbsteten Gefolgsleute von heute<br />

sind die Konsequenz <strong>der</strong> spleenigen Apotheker, passionierten Rosenzüchter und politischen Krüppel<br />

von Anno dazumal.<br />

PHILOSOPHIE UND ARBEITSTEILUNG<br />

Der Platz <strong>der</strong> Wissenschaft in <strong>der</strong> gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist leicht erkennbar. Sie hat<br />

Tatsachen und funktionale Zusammenhänge von Tatsachen in möglichst großen Quantitäten<br />

aufzustapeln. Die Lagerordnung muß übersichtlich sein. Sie soll es den einzelnen Industrien<br />

ermöglichen, die gewünschte intellektuelle Ware in <strong>der</strong> gesuchten Sortierung sogleich herauszufinden.<br />

Weitgehend erfolgt das Zusammentragen bereits im Hinblick auf bestimmte industrielle Or<strong>der</strong>s.<br />

Auch die historischen Werke sollen Material beibringen. Die Möglichkeit seiner Verwertbarkeit ist nicht<br />

unmittelbar in <strong>der</strong> Industrie son<strong>der</strong>n mittelbar in <strong>der</strong> Verwaltung zu suchen. Wie schon Machiavelli zum<br />

Gebrauch <strong>der</strong> Fürsten und Republiken schrieb, so wird heute für die ökonomischen und politischen

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!