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Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...

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wie zu denken. Wesentlicher jedoch als die durchsichtige Affirmation ist am happy end die<br />

Vorentschiedenheit je<strong>der</strong> Spannung, <strong>der</strong>en Scheincharakter das Schlußritual enthüllt. Jedes Stück<br />

Massenkultur ist seiner Struktur nach so geschichtslos, wie es die durchorganisierte Welt von morgen<br />

sich wünscht. Das Variété, auf dessen Technik die beiden charakteristischsten Formen <strong>der</strong><br />

Massenkultur, Film und Jazz, im Ursprung <strong>zur</strong>ückverweisen, liefert dafür das Modell. Nicht umsonst ist<br />

es einmal von jenen avantgardistischen Autoren verherrlicht worden, die am liberalen bürgerlichen<br />

Kunstwerk -dem durch die Idee des Konflikts bestimmten - Kritik übten. Was den Variétéakt ausmacht,<br />

was dem Kinde etwa, das zum ersten Mal eine Variétévorstellung besucht, sich aufdrängt, ist, daß<br />

allemal zugleich etwas und nichts geschieht. Je<strong>der</strong> Variétéakt, insbeson<strong>der</strong>e aber <strong>der</strong> des Exzentriks<br />

und des Jongleurs, ist eigentlich ein Warten. Nachträglich erweist sich, daß das Warten auf die Sache,<br />

wie es Platz greift, solange <strong>der</strong> Jongleur die Bälle tanzen läßt, eigentlich die Sache selbst war. Allemal<br />

kommt im Variété <strong>der</strong> Beifall um einen Bruchteil zu spät, wenn nämlich <strong>der</strong> Zuschauer merkt, daß was<br />

er zunächst als Vorbereitung wahrnahm, schon das Ereignis war, um das er gleichsam betrogen<br />

worden ist. In diesem Betrug um die Zeitordnung, diesem Einstehenlassen des Augenblicks, besteht<br />

<strong>der</strong> Trick des Variétés, so wie das Ereignis, wenn es einmal sich absetzt, stets die Neigung hat, den<br />

Charakter des Einstands, des Tableaus anzunehmen, überm Schweigen <strong>der</strong> Musik, dem Wirbel <strong>der</strong><br />

Trommel die symbolische Suspension des Verlaufs. Daher kann <strong>der</strong> stets verspätete Zuschauer<br />

wie<strong>der</strong>um nie zu spät kommen: er springt auf wie aufs Karussell, und in seinen Anfängen war auch<br />

das schießbudenhafte Kino, das man betrat, wie es sich gerade traf, so eingerichtet, während <strong>der</strong><br />

Großfilm sich zu gut dazu ist, aber doch mit technischer Notwendigkeit und gerade in den<br />

anständigeren Erzeugnissen in jene Richtung immer aufs Neue gedrängt wird. Der Zeit selber jedoch<br />

und nicht erst dem Zuschauer wird <strong>der</strong> Trick gespielt. Damit war das Variété schon die beschwörende<br />

Wie<strong>der</strong>holung des industriellen Verfahrens, wo Immergleiches in <strong>der</strong> Zeit sich folgt, die Allegorie des<br />

Hochkapitalismus, die ihn als beherrschten demonstriert, indem sie seine Notwendigkeit als Freiheit<br />

des Spiels sich zueignet. Das Paradoxon, daß es im hochindustriellen Zeitalter überhaupt noch so<br />

etwas wie Geschichte gibt, während seine Archetypen, <strong>der</strong> erste Schornstein, <strong>der</strong> erste Zylin<strong>der</strong>hut,<br />

bereits die Idee einer technischen Verfügung über die Zeit suggerierten, in <strong>der</strong> Geschichte stillsteht -<br />

<strong>der</strong> Surrealismus zehrt vom Veralten des Geschichtslosen, das als veraltetes sich darstellt, als wäre<br />

es durch eine Katastrophe vernichtet worden -, dies Paradoxon wird vom Variété zelebriert. Der Akt,<br />

die Handlung wird zum Muster mechanischer Repetition. So entäußert er sich seiner nichtigen<br />

Geschichtlichkeit. Diese entzaubernde Wahrheit am Variété und ihr Übergewicht über den Schein des<br />

Geschichtlichen, an den das bürgerliche Kunstwerk noch im hochindustriellen Zeitalter sich klammert,<br />

mochte Wedekind und Cocteau, Apollinaire und Kafka zum Lob des Variétés inspirieren. Die<br />

impressionistische Musik, als Pseudomorphose <strong>der</strong> Komposition mit <strong>der</strong> Malerei, hat das Verfahren<br />

nachgebildet, und Debussy wählte nicht umsonst einen Variétéakt zum Sujet. Der unerfahrene<br />

Zuhörer wird geneigt sein, bei ihm, <strong>der</strong> seine reifsten Klavierwerke Präludien und Etüden nannte, alles<br />

für Vorspiel zu halten und zu lauern, wann es anfängt, ähnlich wie beim Feuerwerk, dessen Namen<br />

das letzte jener Präludien trägt. Jazz, <strong>der</strong> das Erbe <strong>der</strong> impressionistischen Musik unter die Zwecke<br />

<strong>der</strong> Massenkultur subsumiert, ist ihr in nichts so treu geblieben wie darin: man hat bemerkt, daß in<br />

einem Jazzstück alle Momente <strong>der</strong> zeitlichen Sukzession mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> gegeneinan<strong>der</strong><br />

austauschbar sind, daß Entwicklung nicht stattfindet, daß das Spätere um kein Gran an Erfahrung<br />

reicher ist als das Frühere. Variété wie Impressionismus waren objektiv Versuche, die Idee <strong>der</strong><br />

industriellen Verfahrungsweise sei's dem autonomen Kunstwerk dienstbar zu machen, sei's von den<br />

Zwecken abgelöst, in abstracto, als reine Naturbeherrschung vorzustellen. Indem sie Mechanisierung<br />

gleichsam zum Thema erhoben, suchten sie ihr, wie Chaplin noch, ein Schnippchen zu schlagen und<br />

den Schock des Immergleichen in jenes Bergsonsche Lachen zu transformieren. Massenkultur aber<br />

verfällt <strong>der</strong> Vorentschiedenheit, indem sie <strong>der</strong>en Gesetz auf sich nimmt und es zugleich abblendet. Sie<br />

verfährt konfliktlos und behandelt Konflikte: dadurch unterwirft sie diese dem Diktat des Konfliktlosen.<br />

Die Darstellung von Lebendigem wird ihrer Technik zu dessen Sistierung; so tritt sie auf die Seite<br />

jener Statik, die das Variété beim Namen rief. Das zeigt sich an den Sektoren, in denen bürgerlichdynamische<br />

Kunst adaptiert wird. Die Technik <strong>der</strong> mechanischen Reproduktion als solche hat,<br />

vermöge dessen, was dem Original angetan ward, bereits den Aspekt des Wi<strong>der</strong>standslosen.<br />

Gleichgültig welche Schwierigkeiten eines psychologischen Schicksals <strong>der</strong> Film vorführt, dadurch daß<br />

er alle Vorgänge auf dem weißen Band am Zuschauer vorüberschleift, ist die Kraft <strong>der</strong> Gegensätze<br />

und die Möglichkeit von Freiheit in ihnen gebrochen und auf das abstrakte Zeitverhältnis des Früheren<br />

und Späteren nivelliert. Das Auge <strong>der</strong> Kamera, das den Konflikt vorm Zuschauer gesehen und aufs<br />

wi<strong>der</strong>standslos ablaufende Band projiziert hat, trägt damit zugleich Sorge, daß die Konflikte keine<br />

sind. Indem die Einzelbil<strong>der</strong> in <strong>der</strong> undurchbrochenen Folge <strong>der</strong> photographierten Bewegung von <strong>der</strong><br />

Leinwand mitgezogen werden, sind sie vorweg schon bloße Objekte. Subsumiert, ohnmächtig laufen<br />

sie ab. Wie <strong>der</strong> kindliche Leser, <strong>der</strong> einen Abenteurerroman in <strong>der</strong> Ichform liest, von vornherein die<br />

Beruhigung hat, daß dem Helden nichts geschehen ist, da er sonst nicht erzählen könnte, so geht es<br />

in gewissem Maße dem, <strong>der</strong> dem photographierten Roman beiwohnt. Wohl mag <strong>der</strong> Held sterben,

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