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Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...

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überhaupt, denn vor Vernunft vermag keine standzuhalten: die <strong>der</strong> Frau zum Mann so wenig wie die<br />

des Liebhabers <strong>zur</strong> Geliebten, die Eltern- so wenig wie die Kindesliebe. Der Herzog von Blangis<br />

verkündigt den Untergebenen, daß die mit den Gebietern Verwandten, Töchter und Gattinnen, so<br />

streng, ja noch strenger behandelt würden als die an<strong>der</strong>en, »und das gerade deshalb, um euch zu<br />

zeigen, wie verächtlich in unseren Augen die Bande sind, an die ihr uns vielleicht gefesselt<br />

glaubt«[187]. Die Liebe <strong>der</strong> Frau wird abgelöst wie die des Manns. Die Regeln <strong>der</strong> Libertinage, die<br />

Saint-Fonds Juliette mitteilt, sollen für alle Frauen gelten[188]. Dolmance gibt die materialistische<br />

Entzauberung <strong>der</strong> Elternliebe. »Die letzteren Bande entstammen <strong>der</strong> Angst <strong>der</strong> Eltern, in ihrem Alter<br />

verlassen zu sein, und <strong>der</strong> interessierte Anteil, den sie an uns in unserer Kindheit nehmen, soll ihnen<br />

dieselben Aufmerksamkeiten in ihrem Alter einbringen.«[189] Sades Argument ist so alt wie das<br />

Bürgertum. Demokrit schon hat die menschliche Elternliebe als ökonomisch denunziert[190]. Sade<br />

aber entzaubert auch die Exogamie, die Grundlage <strong>der</strong> Zivilisation. Der Inzest hat nach ihm keine<br />

rationalen Gründe gegen sich[191], und das hygienische Argument, das dagegen stand, ist von <strong>der</strong><br />

fortgeschrittenen Wissenschaft am Ende eingezogen worden. Sie hat Sades kühles Urteil ratifiziert. »<br />

... es ist keineswegs bewiesen, daß inzestuöse Kin<strong>der</strong> mehr als an<strong>der</strong>e dazu tendieren, als Kretins,<br />

Taubstumme, Rachitische, usw. geboren zu werden.«[192] Die Familie, zusammengehalten nicht<br />

durch die romantische Geschlechtsliebe, son<strong>der</strong>n durch die Mutterliebe, die den Grund aller<br />

Zärtlichkeit und sozialen Gefühle bildet[193], gerät mit <strong>der</strong> Gesellschaft selbst in Konflikt. »Bildet euch<br />

nicht ein, gute Republikaner zu machen, so lange ihr die Kin<strong>der</strong>, die nur dem Gemeinwesen gehören<br />

sollen, in ihrer Familie isoliert... Wenn es den größten Nachteil mit sich bringt, die Kin<strong>der</strong> so in ihren<br />

Familien Interessen einsaugen zu lassen, die häufig von denen des Vaterlands stark verschieden<br />

sind, so hat es also den größten Vorteil, sie davon zu trennen.«[194] Die »Bande des Hymen« sind<br />

aus gesellschaftlichen Gründen zu zerstören, den Kin<strong>der</strong>n ist die Kenntnis des Vaters »absolument<br />

interdite«, sie sind »uniquement les enfants de la patrie«[195], und die Anarchie, <strong>der</strong> Individualismus,<br />

die Sade im Kampf gegen die Gesetze verkündigt hat[196], mündet in die absolute Herrschaft des<br />

Allgemeinen, <strong>der</strong> Republik. Wie <strong>der</strong> gestürzte Gott in einem härteren Götzen wie<strong>der</strong>kehrt, so <strong>der</strong> alte<br />

bürgerliche Nachtwächterstaat in <strong>der</strong> Gewalt des faschistischen Kollektivs. Sade hat den<br />

Staatssozialismus zu Ende gedacht, bei dessen ersten Schritten St. Just und Robespierre gescheitert<br />

sind. Wenn das Bürgertum sie, seine treuherzigsten Politiker, auf die Guillotine schickte, so hat es<br />

seinen offenherzigsten Schriftsteller in die Hölle <strong>der</strong> Bibliothèque Nationale verbannt. Denn die<br />

chronique scandaleuse Justines und Juliettes, die, wie am laufenden Band produziert, im Stil des<br />

achtzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts die Kolportage des neunzehnten und die Massenliteratur des zwanzigsten<br />

vorgebildet hat, ist das homerische Epos, nachdem es die letzte mythologische Hülle noch<br />

abgeworfen hat: die Geschichte des Denkens als Organs <strong>der</strong> Herrschaft. Indem es nun im eigenen<br />

Spiegel vor sich selbst erschrickt, eröffnet es den Blick auf das, was über es hinaus liegt. Nicht das<br />

harmonische Gesellschaftsideal, das auch für Sade in <strong>der</strong> Zukunft dämmert: »gardez vos frontières et<br />

restez chez vous«[197], nicht einmal die sozialistische Utopie, die in <strong>der</strong> Geschichte von Zamé<br />

entwickelt ist[198], son<strong>der</strong>n daß Sade es nicht den Gegnern überließ, die <strong>Aufklärung</strong> sich über sich<br />

selbst entsetzen zu lassen, macht sein Werk zu einem Hebel ihrer Rettung.<br />

Die dunklen Schriftsteller des Bürgertums haben nicht wie seine Apologeten die Konsequenzen <strong>der</strong><br />

<strong>Aufklärung</strong> durch harmonistische Doktrinen abzubiegen getrachtet. Sie haben nicht vorgegeben, daß<br />

die formalistische Vernunft in einem engeren Zusammenhang mit <strong>der</strong> Moral als mit <strong>der</strong> Unmoral<br />

stünde. Während die hellen das unlösliche Bündnis von Vernunft und Untat, von bürgerlicher<br />

Gesellschaft und Herrschaft durch Leugnung schützten, sprachen jene rücksichtlos die schockierende<br />

Wahrheit aus. »... In die von Gattinnen- und Kin<strong>der</strong>mord, von Sodomie, Mordtaten, Prostitution und<br />

Infamien besudelten Hände legt <strong>der</strong> Himmel diese Reichtümer; um mich für diese Schandtaten zu<br />

belohnen, stellt er sie mir <strong>zur</strong> Verfügung«, sagt Clairwil im Resumé <strong>der</strong> Lebensgeschichte ihres<br />

Bru<strong>der</strong>s[199]. Sie übertreibt. Die Gerechtigkeit <strong>der</strong> schlechten Herrschaft ist nicht ganz so konsequent,<br />

nur die Scheußlichkeiten zu belohnen. Aber nur die Übertreibung ist wahr. Das Wesen <strong>der</strong><br />

Vorgeschichte ist die Erscheinung des äußersten Grauens im Einzelnen. Hinter <strong>der</strong> statistischen<br />

Erfassung <strong>der</strong> im Pogrom Geschlachteten, die auch die barmherzig Erschossenen einschließt,<br />

verschwindet das Wesen, das an <strong>der</strong> genauen Darstellung <strong>der</strong> Ausnahme, <strong>der</strong> schlimmsten Folterung,<br />

allein zutagetritt. Das glückliche Dasein in <strong>der</strong> Welt des Grauens wird durch <strong>der</strong>en bloße Existenz als<br />

ruchlos wi<strong>der</strong>legt. Diese wird damit zum Wesen, jenes zum Nichtigen. Zur Tötung <strong>der</strong> eigenen Kin<strong>der</strong><br />

und Gattinnen, <strong>zur</strong> Prostitution und Sodomie, ist es bei den Oberen gewiß in <strong>der</strong> bürgerlichen Ära<br />

seltener gekommen als bei den Regierten, von denen die Sitten <strong>der</strong> Herren aus früheren Tagen<br />

übernommen wurden. Dafür haben diese, wenn es um die Macht ging, selbst in späten Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />

Berge von Leichen getürmt. Vor <strong>der</strong> Gesinnung und den Taten <strong>der</strong> Herren im Faschismus, in dem die<br />

Herrschaft zu sich selbst gekommen ist, sinkt die enthusiastische Schil<strong>der</strong>ung des Lebens Brisa-<br />

Testas, an dem jene freilich sich erkennen lassen, zu familiärer Harmlosigkeit herab. Die privaten<br />

Laster sind bei Sade wie schon bei Mandeville die vorwegnehmende Geschichtsschreibung <strong>der</strong>

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