Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...
Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...
Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Dorval, das Haupt eines respektablen Pariser Gangs, vor Juliette das geheime Credo aller<br />
Herrscherklassen, das Nietzsche, um die Psychologie des Ressentiments vermehrt, <strong>der</strong> Gegenwart<br />
vorhielt. Er bewun<strong>der</strong>t wie Juliette »das schöne Schreckliche <strong>der</strong> Tat«[140], wenn er auch als<br />
deutscher Professor von Sade sich dadurch unterscheidet, daß er den Kriminellen desavouiert, weil<br />
dessen Egoismus »sich auf so nie<strong>der</strong>e Ziele richtet und auf sie beschränkt. Sind die Ziele groß, so hat<br />
die Menschheit einen an<strong>der</strong>en Maßstab und schätzt 'Verbrechen' nicht als solche, selbst die<br />
furchtbarsten Mittel.«[141] Von solchem Vorurteil fürs Große, das in <strong>der</strong> Tat die bürgerliche Welt<br />
kennzeichnet, ist die aufgeklärte Juliette noch frei, ihr ist <strong>der</strong> Racketeer nicht deshalb weniger<br />
sympathisch als <strong>der</strong> Minister, weil seine Opfer <strong>der</strong> Zahl nach geringer sind. Dem Deutschen aber geht<br />
die Schönheit von <strong>der</strong> Tragweite aus, er kann inmitten aller Götzendämmerung von <strong>der</strong> idealistischen<br />
Gewohnheit nicht lassen, die den kleinen Dieb hängen sehen, aus imperialistischen Raubzügen<br />
welthistorische Missionen machen möchte. Indem <strong>der</strong> deutsche Faschismus den Kultus <strong>der</strong> Stärke <strong>zur</strong><br />
welthistorischen Doktrin erhob, hat er ihn zugleich <strong>zur</strong> eigenen Absurdität geführt. Als Einspruch<br />
gegen die Zivilisation vertrat die Herrenmoral verkehrt die Unterdrückten: <strong>der</strong> Haß gegen die<br />
verkümmerten Instinkte denunziert objektiv die wahre Natur <strong>der</strong> Zuchtmeister, die an ihren Opfern nur<br />
zum Vorschein kommt. Als Großmacht aber und Staatsreligion verschreibt sich die Herrenmoral<br />
vollends den zivilisatorischen powers that be, <strong>der</strong> kompakten Majorität, dem Ressentiment und allem,<br />
wogegen sie einmal stand. Nietzsche wird durch seine Verwirklichung wi<strong>der</strong>legt und zugleich die<br />
Wahrheit an ihm freigesetzt, die trotz allem Jasagen zum Leben dem Geist <strong>der</strong> Wirklichkeit feind war.<br />
Wenn schon die Reue als wi<strong>der</strong>vernünftig galt, so ist Mitleid die Sünde schlechthin. Wer ihm nachgibt,<br />
»pervertiert das allgemeine Gesetz: woraus folgt, daß das Mitleid, weit entfernt, eine Tugend zu sein,<br />
ein wirkliches Laster wird, sobald es uns dazu bringt, eine Ungleichheit zu stören, die durch die<br />
Naturgesetze gefor<strong>der</strong>t ist«[142]. Sade und Nietzsche erkannten, daß nach <strong>der</strong> Formalisierung <strong>der</strong><br />
Vernunft das Mitleid gleichsam als das sinnliche Bewußtsein <strong>der</strong> Identität von Allgemeinem und<br />
Beson<strong>der</strong>em, als die naturalisierte Vermittlung, noch übrig war. Es bildet das zwingendste Vorurteil,<br />
»quamvis pietatis specimen prae se ferre videatur«, wie Spinoza sagt[143], »denn wer an<strong>der</strong>en Hilfe<br />
zu bringen we<strong>der</strong> durch Vernunft, noch durch Mitleid bewogen wird, <strong>der</strong> wird mit Recht Unmensch<br />
genannt«[144]. Commiseratio ist Menschlichkeit in unmittelbarer Gestalt, aber zugleich »mala et<br />
inutilis«[145], nämlich als das Gegenteil <strong>der</strong> männlichen Tüchtigkeit, die von <strong>der</strong> römischen virtus über<br />
die Medicis bis <strong>zur</strong> efficiency unter den Fords stets die einzig wahre bürgerliche Tugend war. Weibisch<br />
und kindisch nennt Clairwil das Mitleid, ihres »Stoizismus« sich rühmend, <strong>der</strong> »Ruhe <strong>der</strong><br />
Leidenschaften«, die ihr erlaube, »alles zu tun und alles durchzuhalten ohne Erschütterung«[146]. »...<br />
das Mitleid ist nichts weniger als eine Tugend, es ist eine Schwäche, geboren aus Angst und Unglück,<br />
eine Schwäche, die man vor allem dann überwinden muß, wenn man daran arbeitet, die zu große<br />
Feinnervigkeit zu überwinden, die mit den <strong>Max</strong>imen <strong>der</strong> Philosophie unvereinbar ist.«[147] Vom Weibe<br />
stammen die »Ausbrüche von unbegrenztem Mitleid«[148]. Sade und Nietzsche wußten, daß ihre<br />
Lehre von <strong>der</strong> Sündhaftigkeit des Mitleids altes bürgerliches Erbgut war. Dieser verweist auf alle<br />
»starken Zeiten«, auf die »vornehmen Kulturen«, jener auf Aristoteles[149] und die Peripatetiker[150].<br />
Das Mitleid hält vor <strong>der</strong> Philosophie nicht stand. Auch Kant selbst hat keine Ausnahme gemacht. Es<br />
sei »eine gewisse Weichmütigkeit« und habe »die Würde <strong>der</strong> Tugend nicht an sich«[151]. Er übersieht<br />
jedoch, daß auch <strong>der</strong> Grundsatz <strong>der</strong> »allgemeinen Wohlgewogenheit gegen das menschliche<br />
Geschlecht«[152], durch den er im Gegensatz zum Rationalismus <strong>der</strong> Clairwil das Mitleid zu ersetzen<br />
trachtet, demselben Fluch <strong>der</strong> Irrationalität anheimfällt, wie »diese gutartige Leidenschaft«, die den<br />
Menschen leicht dazu verführen kann, »ein weichmütiger Müßiggänger« zu werden. <strong>Aufklärung</strong> läßt<br />
sich nicht täuschen, in ihr hat das allgemeine vor dem beson<strong>der</strong>en Faktum, die umspannende Liebe<br />
vor <strong>der</strong> begrenzten, keinen Vorzug. Mitleid ist anrüchig. Wie Sade zieht auch Nietzsche die ars poetica<br />
<strong>zur</strong> Beurteilung heran. »Die Griechen litten nach Aristoteles öfter an einem Übermaß von Mitleid:<br />
daher die notwendige Entladung durch die Tragödie. Wir sehen, wie verdächtig diese Neigung ihnen<br />
vorkam. Sie ist staatsgefährlich, nimmt die nötige Härte und Straffheit, macht, daß Heroen sich<br />
gebärden wie heulende Weiber usw.«[153] Zarathustra predigt: »Soviel Güte, soviel Schwäche sehe<br />
ich. Soviel Gerechtigkeit und Mitleiden, soviel Schwäche.«[154] In <strong>der</strong> Tat hat Mitleid ein Moment, das<br />
<strong>der</strong> Gerechtigkeit wi<strong>der</strong>streitet, mit <strong>der</strong> Nietzsche freilich es zusammenwirft. Es bestätigt die Regel <strong>der</strong><br />
Unmenschlichkeit durch die Ausnahme, die es praktiziert. Indem Mitleid die Aufhebung des Unrechts<br />
<strong>der</strong> Nächstenliebe in ihrer Zufälligkeit vorbehält, nimmt es das Gesetz <strong>der</strong> universalen Entfremdung,<br />
die es mil<strong>der</strong>n möchte, als unabän<strong>der</strong>lich hin. Wohl vertritt <strong>der</strong> Mitleidige als Einzelner den Anspruch<br />
des Allgemeinen, nämlich den zu leben, gegen das Allgemeine, gegen Natur und Gesellschaft, die ihn<br />
verweigern. Aber die Einheit mit dem Allgemeinen, als dem Inneren, die <strong>der</strong> Einzelne betätigt, erweist<br />
an seiner eigenen Schwäche sich als trügerisch. Nicht die Weichheit son<strong>der</strong>n das Beschränkende am<br />
Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig. Wie die stoische Apathie, an <strong>der</strong> die bürgerliche<br />
Kälte, das Wi<strong>der</strong>spiel des Mitleids, sich schult, dem Allgemeinen, von dem sie sich <strong>zur</strong>ückzog, noch<br />
eher die armselige Treue hielt, als die teilnehmende Gemeinheit, die dem All sich adaptierte, so