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Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...

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den Menschen wie dann <strong>der</strong> deutsche Faschismus in <strong>der</strong> Realität. Während jedoch <strong>der</strong> bewußtlose<br />

Koloß des Wirklichen, <strong>der</strong> subjektlose Kapitalismus, die Vernichtung blind durchführt, läßt sich <strong>der</strong><br />

Wahn des rebellischen Subjekts von ihr seine Erfüllung verdanken und strahlt so mit <strong>der</strong><br />

schneidenden Kälte gegen die als Dinge mißbrauchten Menschen zugleich die verkehrte Liebe aus,<br />

die in <strong>der</strong> Welt von Dingen den Platz <strong>der</strong> unmittelbaren hält. Krankheit wird zum Symptom des<br />

Genesens. Der Wahn erkennt in <strong>der</strong> Verklärung <strong>der</strong> Opfer ihre Erniedrigung. Er macht sich dem<br />

Ungeheuer <strong>der</strong> Herrschaft gleich, das er leibhaft nicht überwinden kann. Als Grauen sucht Imagination<br />

dem Grauen standzuhalten. Das römische Sprichwort, demzufolge die strenge Sache die wahre Lust<br />

sei, ist nicht bloß Antreiberei. Es drückt auch den unauflöslichen Wi<strong>der</strong>spruch <strong>der</strong> Ordnung aus, die<br />

Glück in seine Parodie verwandelt, wo sie es sanktioniert, und es schafft bloß, wo sie es verfemt.<br />

Diesem Wi<strong>der</strong>spruch, den Sade und Nietzsche verewigten, haben sie doch damit zum Begriff<br />

verholfen.<br />

Vor <strong>der</strong> Ratio erscheint die Hingabe ans angebetete Geschöpf als Götzendienst. Daß die<br />

Vergötterung zergehen muß, folgt aus dem Mythologieverbot, wie es im jüdischen Monotheismus<br />

erlassen ist und von seiner säkularisierten Form, <strong>der</strong> <strong>Aufklärung</strong>, in <strong>der</strong> Geschichte des Denkens an<br />

den wechselnden Gestalten <strong>der</strong> Verehrung vollzogen wurde. Im Zerfall <strong>der</strong> ökonomischen Realität, die<br />

jeweils dem Aberglauben zugrunde lag, wurden die spezifischen Kräfte <strong>der</strong> Negation freigesetzt. Das<br />

Christentum aber hat die Liebe propagiert: die reine Anbetung Jesu. Es hat den blinden<br />

Geschlechtstrieb durch Heiligung <strong>der</strong> Ehe zu erheben, wie das kristallhelle Gesetz durch himmlische<br />

Gnade <strong>der</strong> Erde näherzubringen gesucht. Die Versöhnung <strong>der</strong> Zivilisation mit Natur, die es durch die<br />

Lehre vom gekreuzigten Gott vorzeitig erkaufen wollte, blieb dem Judentum so fremd wie dem<br />

Rigorismus <strong>der</strong> <strong>Aufklärung</strong>. Moses und Kant haben nicht das Gefühl verkündigt, ihr kaltes Gesetz<br />

kennt we<strong>der</strong> Liebe noch Scheiterhaufen. Nietzsches Kampf gegen den Monotheismus trifft die<br />

christliche tiefer als die jüdische Doktrin. Er leugnet freilich das Gesetz, aber er will dem »höheren<br />

Selbst«[179] angehören, nicht dem natürlichen son<strong>der</strong>n dem mehr-als-natürlichen. Er will Gott durch<br />

den Übermenschen ersetzen, weil <strong>der</strong> Monotheismus, vollends seine gebrochene, christliche Form,<br />

als Mythologie durchschaubar geworden sei. Wie aber im Dienste dieses höheren Selbst die alten<br />

asketischen Ideale als die Selbstüberwindung »<strong>zur</strong> Ausbildung <strong>der</strong> herrschenden Kraft«[180] von<br />

Nietzsche gepriesen werden, so erweist sich das höhere Selbst als verzweifelter Versuch <strong>zur</strong> Rettung<br />

Gottes, <strong>der</strong> gestorben sei, als die Erneuerung von Kants Unternehmen, das göttliche Gesetz in<br />

Autonomie zu transformieren, um die europäische Zivilisation zu retten, die in <strong>der</strong> englischen Skepsis<br />

den Geist aufgab. Kants Prinzip, »alles aus <strong>der</strong> <strong>Max</strong>ime seines Willens als eines solchen zu tun, <strong>der</strong><br />

zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebenden zum Gegenstand haben könnte«[181], ist auch das<br />

Geheimnis des Übermenschen. Sein Wille ist nicht weniger despotisch als <strong>der</strong> kategorische Imperativ.<br />

Beide Prinzipien zielen auf die Unabhängigkeit von äußeren Mächten, auf die als Wesen <strong>der</strong><br />

<strong>Aufklärung</strong> bestimmte unbedingte Mündigkeit. Indem freilich die Furcht vor <strong>der</strong> Lüge, die Nietzsche in<br />

den hellsten Augenblicken selbst noch als »Don-Quixoterie«[182] verschrieen hat, das Gesetz durch<br />

die Selbstgesetzgebung ablöst und alles so durchsichtig wird wie ein einziger großer aufgedeckter<br />

Aberglaube, wird <strong>Aufklärung</strong> selbst, ja Wahrheit in jeglicher Gestalt zum Götzen, und wir erkennen,<br />

»daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch<br />

von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christenglaube, <strong>der</strong><br />

auch <strong>der</strong> Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist.«[183] Noch die<br />

Wissenschaft also verfällt <strong>der</strong> Kritik an <strong>der</strong> Metaphysik. Die Leugnung Gottes enthält in sich den<br />

unaufhebbaren Wi<strong>der</strong>spruch, sie negiert das Wissen selbst. Sade hat den Gedanken <strong>der</strong> <strong>Aufklärung</strong><br />

nicht bis an diesen Punkt des Umschlags weitergetrieben. Die Reflexion <strong>der</strong> Wissenschaft auf sich<br />

selbst, das Gewissen <strong>der</strong> <strong>Aufklärung</strong>, war <strong>der</strong> Philosophie, das heißt den Deutschen, vorbehalten. Für<br />

Sade ist <strong>Aufklärung</strong> nicht so sehr ein geistiges wie ein soziales Phänomen. Er trieb die Auflösung <strong>der</strong><br />

Bande, die Nietzsche idealistisch durch das höhere Selbst zu überwinden wähnte, die Kritik an <strong>der</strong><br />

Solidarität mit Gesellschaft, Amt, Familie[184], bis <strong>zur</strong> Verkündigung <strong>der</strong> Anarchie. Sein Werk enthüllt<br />

den mythologischen Charakter <strong>der</strong> Prinzipien, auf denen nach <strong>der</strong> Religion die Zivilisation beruht: des<br />

Dekalogs, <strong>der</strong> väterlichen Autorität, des Eigentums. Es ist genau die Umkehrung <strong>der</strong><br />

Gesellschaftstheorie, die Le Play nach hun<strong>der</strong>t Jahren ausgesponnen hat[185]. Jedes einzelne <strong>der</strong><br />

Zehn Gebote erfährt den Nachweis seiner Nichtigkeit vor <strong>der</strong> Instanz <strong>der</strong> formalen Vernunft. Sie<br />

werden ohne Rest als Ideologien nachgewiesen. Das Plädoyer zu Gunsten des Mordes hält <strong>der</strong> Papst<br />

auf Juliettes Wunsch hin selbst[186]. Er hat es leichter, die unchristlichen Taten zu rationalisieren, als<br />

je die christlichen Prinzipien, nach denen sie vom Teufel sind, durchs natürliche Licht zu rechtfertigen<br />

waren. Der »philosophe mitré«, <strong>der</strong> den Mord begründet, muß zu weniger Sophismen greifen als<br />

Maimonides und <strong>der</strong> heilige Thomas, die ihn verdammen. Mehr noch als <strong>der</strong> Preußengott hält es die<br />

römische Vernunft mit den stärkeren Bataillonen. Das Gesetz aber ist entthront und die Liebe, die es<br />

vermenschlichen sollte, als Rückkehr zum Götzendienst entlarvt. Nicht bloß die romantische<br />

Geschlechtsliebe verfiel <strong>der</strong> Wissenschaft und Industrie als Metaphysik, son<strong>der</strong>n jede Liebe

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