Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...
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des homerischen Entrinnens. Nicht umsonst wird <strong>der</strong> entrinnende Held als Erzählen<strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong><br />
eingeführt. Die kalte Distanz <strong>der</strong> Erzählung, die noch das Grauenhafte vorträgt, als wäre es <strong>zur</strong><br />
Unterhaltung bestimmt, läßt zugleich das Grauen erst hervortreten, das im Liede zum Schicksal<br />
feierlich sich verwirrt. Das Innehalten in <strong>der</strong> Rede aber ist die Zäsur, die Verwandlung des Berichteten<br />
in längst Vergangenes, kraft <strong>der</strong>en <strong>der</strong> Schein von Freiheit aufblitzt, den Zivilisation seitdem nicht<br />
mehr ganz ausgelöscht hat. Im XXII. Gesang <strong>der</strong> Odyssee wird die Strafe beschrieben, die <strong>der</strong> Sohn<br />
des Inselkönigs an den treulosen Mägden, den ins Hetärentum Zurückgefallenen, vollstrecken läßt.<br />
Mit ungerührter Gelassenheit, unmenschlich wie nur die impassibilité <strong>der</strong> größten Erzähler des<br />
neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts, wird das Los <strong>der</strong> Gehenkten dargestellt und ausdruckslos dem Tod von<br />
Vögeln in <strong>der</strong> Schlinge verglichen, mit jenem Schweigen, dessen Erstarrung <strong>der</strong> wahre Rest aller<br />
Rede ist. Daran schließt sich <strong>der</strong> Vers, <strong>der</strong> berichtet, die aneinan<strong>der</strong> Gereihten »zappelten dann mit<br />
den Füßen ein weniges, aber nicht lange«[96]. Die Genauigkeit des Beschreibers, die schon die Kälte<br />
von Anatomie und Vivisektion ausstrahlt[97], führt romanmäßig Protokoll über die Zuckung <strong>der</strong><br />
Unterworfenen, die im Zeichen von Recht und Gesetz in jenes Reich hinabgestoßen werden, aus dem<br />
<strong>der</strong> Richter Odysseus entkam. Als Bürger, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Hinrichtung nachsinnt, tröstet Homer sich und die<br />
Zuhörer, die eigentlich Leser sind, mit <strong>der</strong> gesicherten Feststellung, daß es nicht lange währte, ein<br />
Augenblick und alles war vorüber[98]. Aber nach dem »Nicht lange« steht <strong>der</strong> innere Fluß <strong>der</strong><br />
Erzählung still. Nicht lange? fragt die Geste des Erzählers und straft seine Gelassenheit Lügen. Indem<br />
sie den Bericht aufhält, verwehrt sie es, die Gerichteten zu vergessen, und deckt die unnennbare<br />
ewige Qual <strong>der</strong> einen Sekunde auf, in <strong>der</strong> die Mägde mit dem Tod kämpfen. Als Echo bleibt vom<br />
»Nicht lange« nichts <strong>zur</strong>ück als das Quo usque tandem, das die späteren Rhetoren nichtsahnend<br />
entweihten, indem sie die Geduld sich selber zusprachen. Hoffnung aber knüpft sich im Bericht von<br />
<strong>der</strong> Untat daran, daß es schon lange her ist. Für die Verstrickung von Urzeit, Barbarei und Kultur hat<br />
Homer die tröstende Hand im Eingedenken von Es war einmal. Erst als Roman geht das Epos ins<br />
Märchen über.<br />
Exkurs II. Juliette o<strong>der</strong> <strong>Aufklärung</strong> und Moral<br />
<strong>Aufklärung</strong> ist in Kants Worten »<strong>der</strong> Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten<br />
Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines<br />
an<strong>der</strong>en zu bedienen.«[99] »Verstand ohne Leitung eines an<strong>der</strong>en« ist von Vernunft geleiteter<br />
Verstand. Das heißt nichts an<strong>der</strong>es, als daß er vermöge <strong>der</strong> eigenen Konsequenz die einzelnen<br />
Erkenntnisse zum System zusammenfügt. »Die Vernunft hat... nur den Verstand und dessen<br />
zweckmäßige Anstellung zum Gegenstande.«[100] Sie setzt »eine gewisse kollektive Einheit zum<br />
Ziele <strong>der</strong> Verstandeshandlungen«[101], und diese ist das System. Ihre Vorschriften sind die<br />
Anweisungen zum hierarchischen Aufbau <strong>der</strong> Begriffe. Bei Kant nicht an<strong>der</strong>s als bei Leibniz und<br />
Descartes besteht die Rationalität darin, »daß man... sowohl im Aufsteigen zu höheren Gattungen, als<br />
im Herabsteigen zu nie<strong>der</strong>en Arten, den systematischen Zusammenhang... vollende«[102]. Das<br />
»Systematische« <strong>der</strong> Erkenntnis ist »<strong>der</strong> Zusammenhang <strong>der</strong>selben aus einem Prinzip«[103]. Denken<br />
ist im Sinn <strong>der</strong> <strong>Aufklärung</strong> die Herstellung von einheitlicher, wissenschaftlicher Ordnung und die<br />
Ableitung von Tatsachenerkenntnis aus Prinzipien, mögen diese als willkürlich gesetzte Axiome,<br />
eingeborene Ideen o<strong>der</strong> höchste Abstraktionen gedeutet werden. Die logischen Gesetze stellen die<br />
allgemeinsten Beziehungen innerhalb <strong>der</strong> Ordnung her, sie definieren sie. Die Einheit liegt in <strong>der</strong><br />
Einstimmigkeit. Der Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch ist das System in nuce. Erkenntnis besteht in <strong>der</strong><br />
Subsumtion unter Prinzipien. Sie ist eins mit dem Urteil, das dem System einglie<strong>der</strong>t. An<strong>der</strong>es Denken<br />
als solches, das aufs System sich richtet, ist direktionslos o<strong>der</strong> autoritär. Nichts wird von <strong>der</strong> Vernunft<br />
beigetragen als die Idee systematischer Einheit, die formalen Elemente festen begrifflichen<br />
Zusammenhangs. Jedes inhaltliche Ziel, auf das die Menschen sich berufen mögen, als sei es eine<br />
Einsicht <strong>der</strong> Vernunft, ist nach dem strengen Sinn <strong>der</strong> <strong>Aufklärung</strong> Wahn, Lüge, »Rationalisierung«,<br />
mögen die einzelnen Philosophen sich auch die größte Mühe geben, von dieser Konsequenz hinweg<br />
aufs menschenfreundliche Gefühl zu lenken. Die Vernunft ist »ein Vermögen..., das Beson<strong>der</strong>e aus<br />
dem Allgemeinen abzuleiten«[104]. Die Homogenität des Allgemeinen und Beson<strong>der</strong>en wird nach<br />
Kant durch den »Schematismus des reinen Verstandes« garantiert. So heißt das unbewußte Wirken<br />
des intellektuellen Mechanismus, <strong>der</strong> die Wahrnehmung schon dem Verstand entsprechend<br />
strukturiert. Der Verstand prägt die Verständlichkeit <strong>der</strong> Sache, die das subjektive Urteil an ihr findet,<br />
ihr als objektive Qualität schon auf, ehe sie ins Ich noch eintritt. Ohne solchen Schematismus, kurz<br />
ohne Intellektualität <strong>der</strong> Wahrnehmung, paßte kein Eindruck zum Begriff, keine Kategorie zum<br />
Exemplar, es herrschte nicht einmal die Einheit des Denkens, geschweige des Systems, auf die doch<br />
alles abzielt. Diese herzustellen ist die bewußte Aufgabe <strong>der</strong> Wissenschaft. Wenn »alle empirischen<br />
Gesetze. . . nur beson<strong>der</strong>e Bestimmungen <strong>der</strong> reinen Gesetze des Verstandes«[105] sind, muß die