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Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...

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ernsthafte Gefahr mit sich zu bringen. Bei <strong>der</strong> zunehmenden Oberflächlichkeit <strong>der</strong> allgemeinen<br />

akademischen Ausbildung unserer Ärzte mag die Medizin durch die unbegrenzte Anwendung des<br />

Mittels dazu ermutigt werden, sorglos immer kompliziertere und schwerere chirurgische Eingriffe zu<br />

unternehmen. Anstatt im Dienste <strong>der</strong> Forschung solche Experimente an Tieren auszuführen, werden<br />

dann unsere Patienten die ahnungslosen Versuchspersonen sein. Es ist denkbar, daß die<br />

schmerzhaften Erregungen, die infolge ihrer spezifischen Natur alle bekannten Sensationen dieser Art<br />

übertreffen mögen, einen dauernden seelischen Schaden in den Kranken herbeiführen o<strong>der</strong> gar in <strong>der</strong><br />

Narkose selbst zu einem unbeschreiblich qualvollen Tod führen, dessen Eigentümlichkeiten den<br />

Angehörigen und <strong>der</strong> Welt auf ewig verborgen bleiben. Wäre das nicht ein allzu hoher Preis, den wir<br />

für den Fortschritt bezahlten?«<br />

Hätte Flourens in diesem Briefe recht, so wären die dunklen Wege des göttlichen Weltregimes<br />

wenigstens einmal gerechtfertigt. Das Tier wäre durch die Leiden seiner Henker gerächt: jede<br />

Operation eine Vivisektion. Es entstünde <strong>der</strong> Verdacht, daß wir uns zu den Menschen, ja <strong>zur</strong> Kreatur<br />

überhaupt, nicht an<strong>der</strong>s verhielten als zu uns selbst nach überstandener Operation, blind gegen die<br />

Qual. Der Raum, <strong>der</strong> uns von an<strong>der</strong>en trennt, bedeutete für die Erkenntnis dasselbe wie die Zeit<br />

zwischen uns und dem Leiden unserer eigenen Vergangenheit; die unüberwindbare Schranke. Die<br />

perennierende Herrschaft über die Natur aber, die medizinische und außermedizinische Technik<br />

schöpft ihre Kraft aus solcher Verblendung, sie wäre durch Vergessen erst möglich gemacht. Verlust<br />

<strong>der</strong> Erinnerung als transzendentale Bedingung <strong>der</strong> Wissenschaft. Alle Verdinglichung ist ein<br />

Vergessen.<br />

LEERES ERSCHRECKEN<br />

Das Hinstarren aufs Unheil hat etwas von Faszination. Damit aber etwas vom geheimen<br />

Einverständnis. Das schlechte soziale Gewissen, das in jedem steckt, <strong>der</strong> am Unrecht teilhat, und <strong>der</strong><br />

Haß gegen erfülltes Leben sind so stark, daß sie in kritischen Situationen als immanente Rache<br />

unmittelbar gegen das eigene Interesse sich kehren. Es gab eine fatale Instanz in den französischen<br />

Bürgern, die dem heroischen Ideal <strong>der</strong> Faschisten ironisch gleichsah: sie freuten sich an dem Triumph<br />

von ihresgleichen, wie er in Hitlers Aufstieg ausgedrückt war, auch wenn er ihnen selber mit<br />

Untergang drohte, ja sie nahmen ihren eigenen Untergang als Beweisstück für die Gerechtigkeit <strong>der</strong><br />

Ordnung, die sie vertraten. Eine Vorform zu diesem Verhalten ist die Stellung vieler reicher Leute <strong>zur</strong><br />

Verarmung, <strong>der</strong>en Bild sie unter <strong>der</strong> Rationalisierung <strong>der</strong> Sparsamkeit herbeiziehen, ihre latente<br />

Neigung, während sie zäh um jeden Pfennig kämpfen, gegebenenfalls kampflos auf all ihren Besitz zu<br />

verzichten o<strong>der</strong> ihn unverantwortlich aufs Spiel zu setzen. Im Faschismus gelingt ihnen die Synthese<br />

von Herrschgier und Selbsthaß, und das leere Erschrecken wird stets begleitet von dem Gestus: so<br />

hab ich mir das immer gedacht.<br />

INTERESSE AM KÖRPER<br />

Unter <strong>der</strong> bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal <strong>der</strong> durch<br />

Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften. Von <strong>der</strong><br />

faschistischen Gegenwart aus, in <strong>der</strong> das Verborgene ans Licht tritt, erscheint auch die manifeste<br />

Geschichte in ihrem Zusammenhang mit jener Nachtseite, die in <strong>der</strong> offiziellen Legende <strong>der</strong><br />

Nationalstaaten und nicht weniger in ihrer progressiven Kritik übergangen wird.<br />

Von <strong>der</strong> Verstümmelung betroffen ist vor allem das Verhältnis zum Körper. Die Arbeitsteilung, bei <strong>der</strong><br />

die Nutznießung auf die eine und die Arbeit auf die an<strong>der</strong>e Seite kam, belegte die rohe Kraft mit einem<br />

Bann. Je weniger die Herren die Arbeit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en entbehren konnten, als desto niedriger wurde sie<br />

erklärt. Wie <strong>der</strong> Sklave so erhielt die Arbeit ein Stigma. Das Christentum hat die Arbeit gepriesen,<br />

dafür aber erst recht das Fleisch als Quelle allen Übels erniedrigt. Es hat die mo<strong>der</strong>ne bürgerliche<br />

Ordnung im Einverständnis mit dem Heiden Machiavelli durch den Preis <strong>der</strong> Arbeit eingeläutet, die im<br />

alten Testament doch immerhin als Fluch bezeichnet war. Bei den Wüstenvätern, dem Dorotheus,<br />

Moses dem Räuber, Paulus dem Einfältigen und an<strong>der</strong>en Armen im Geist diente die Arbeit noch<br />

unmittelbar dem Eintritt ins Himmelreich. Bei Luther und Calvin war das Band, das die Arbeit mit dem<br />

Heil verknüpfte, schon so verschlungen, daß die reformatorische Arbeitstreiberei fast wie Hohn, wie<br />

<strong>der</strong> Tritt eines Stiefels gegen den Wurm erscheint.

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