Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...
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und Gegenstände <strong>der</strong> Verehrung in abscheuliche Untaten und Schreckgespenster verzaubert. Die<br />
Ängste und Idiosynkrasien heute, die verhöhnten und verabscheuten Charakterzüge können als Male<br />
gewaltsamer Fortschritte in <strong>der</strong> menschlichen Entwicklung entziffert werden. Vom Ekel vor den<br />
Exkrementen und dem Menschenfleisch bis <strong>zur</strong> Verachtung des Fanatismus, <strong>der</strong> Faulheit, <strong>der</strong> Armut,<br />
geistiger und materieller, führt eine Linie von Verhaltensweisen, die aus adäquaten und notwendigen<br />
in Scheußlichkeiten verwandelt wurden. Diese Linie ist die <strong>der</strong> Zerstörung und <strong>der</strong> Zivilisation<br />
zugleich. Je<strong>der</strong> Schritt war ein Fortschritt, eine Etappe <strong>der</strong> <strong>Aufklärung</strong>. Während aber alle früheren<br />
Verän<strong>der</strong>ungen, vom Präanimismus <strong>zur</strong> Magie, von <strong>der</strong> matriarchalen <strong>zur</strong> patriarchalen Kultur, vom<br />
Polytheismus <strong>der</strong> Sklavenhalter <strong>zur</strong> katholischen Hierarchie, neue, wenn auch aufgeklärte<br />
Mythologien an die Stelle <strong>der</strong> älteren setzten, den Gott <strong>der</strong> Heerscharen an Stelle <strong>der</strong> großen Mutter,<br />
die Verehrung des Lammes an Stelle des Totems, zerging vor dem Licht <strong>der</strong> aufgeklärten Vernunft<br />
jede Hingabe als mythologisch, die sich für objektiv, in <strong>der</strong> Sache begründet hielt. Alle vorgegebenen<br />
Bindungen verfielen damit dem tabuierenden Verdikt, nicht ausgenommen solche, die <strong>zur</strong> Existenz <strong>der</strong><br />
bürgerlichen Ordnung selbst notwendig waren. Das Instrument, mit dem das Bürgertum <strong>zur</strong> Macht<br />
gekommen war, Entfesselung <strong>der</strong> Kräfte, allgemeine Freiheit, Selbstbestimmung, kurz, die <strong>Aufklärung</strong>,<br />
wandte sich gegen das Bürgertum, sobald es als System <strong>der</strong> Herrschaft <strong>zur</strong> Unterdrückung<br />
gezwungen war. <strong>Aufklärung</strong> macht ihrem Prinzip nach selbst vor dem Minimum an Glauben nicht halt,<br />
ohne das die bürgerliche Welt nicht existieren kann. Sie leistet <strong>der</strong> Herrschaft nicht die zuverlässigen<br />
Dienste, die ihr von den alten Ideologien stets erwiesen wurden. Ihre anti-autoritäre Tendenz, die,<br />
freilich bloß unterirdisch, mit jener Utopie im Vernunftbegriff kommuniziert, macht sie dem etablierten<br />
Bürgertum schließlich so feind wie <strong>der</strong> Aristokratie, mit <strong>der</strong> es sich denn auch recht bald verbündet<br />
hat. Das anti-autoritäre Prinzip muß schließlich ins eigene Gegenteil, in die Instanz gegen die Vernunft<br />
selber umschlagen: die Abschaffung alles von sich aus Verbindlichen, die es leistet, erlaubt es <strong>der</strong><br />
Herrschaft, die ihr jeweils adäquaten Bindungen souverän zu dekretieren und zu manipulieren. Nach<br />
Bürgertugend und Menschenliebe, für die sie schon keine guten Gründe hatte, hat denn auch die<br />
Philosophie Autorität und Hierarchie als Tugenden verkündigt, als diese längst auf Grund <strong>der</strong><br />
<strong>Aufklärung</strong> zu Lügen geworden waren. Aber auch gegen solche Perversion ihrer selbst besaß die<br />
<strong>Aufklärung</strong> kein Argument, denn die lautere Wahrheit genießt vor <strong>der</strong> Entstellung, die Rationalisierung<br />
vor <strong>der</strong> Ratio keinen Vorzug, wenn sie nicht etwa einen praktischen für sich aufzuweisen hat. Mit <strong>der</strong><br />
Formalisierung <strong>der</strong> Vernunft wird Theorie selbst, soweit sie mehr als ein Zeichen für neutrale<br />
Verfahrungsweisen sein will, zum unverständlichen Begriff, und Denken gilt als sinnvoll nur nach<br />
Preisgabe des Sinns. Eingespannt in die herrschende Produktionsweise löst die <strong>Aufklärung</strong>, die <strong>zur</strong><br />
Unterminierung <strong>der</strong> repressiv gewordenen Ordnung strebt, sich selber auf. In den frühen Angriffen auf<br />
Kant, den Alleszermalmer, welche die gängige <strong>Aufklärung</strong> unternahm, ist das schon ausgedrückt. Wie<br />
Kants Moralphilosophie seine aufklärerische Kritik begrenzte, um die Möglichkeit <strong>der</strong> Vernunft zu<br />
retten, so strebte umgekehrt das unreflektiert aufgeklärte Denken aus Selbsterhaltung stets danach,<br />
sich selbst in Skeptizismus aufzuheben, um für die bestehende Ordnung genügend Platz zu<br />
bekommen.<br />
Das Werk Sades, wie dasjenige Nietzsches, bildet dagegen die intransigente Kritik <strong>der</strong> praktischen<br />
Vernunft, <strong>der</strong> gegenüber die des Alleszermalmers selbst als Revokation des eignen Denkens<br />
erscheint. Sie steigert das szientifische Prinzip ins Vernichtende. Kant hatte freilich das moralische<br />
Gesetz in mir schon so lang von jedem heteronomen Glauben gereinigt, bis <strong>der</strong> Respekt entgegen<br />
Kants Versicherungen bloß noch eine psychologische Naturtatsache war, wie <strong>der</strong> gestirnte Himmel<br />
über mir eine physikalische. »Ein Faktum <strong>der</strong> Vernunft« nennt er es selbst[114], »un instinct général<br />
de société« hieß es bei Leibniz[115]. Tatsachen aber gelten dort nichts, wo sie nicht vorhanden sind.<br />
Sade leugnet ihr Vorkommen nicht. Justine, die gute <strong>der</strong> beiden Schwestern, ist eine Märtyrerin des<br />
Sittengesetzes. Juliette freilich zieht die Konsequenz, die das Bürgertum vermeiden wollte: sie<br />
dämonisiert den Katholizismus als jüngste Mythologie und mit ihm Zivilisation überhaupt. Die<br />
Energien, die aufs Sakrament bezogen waren, bleiben verkehrt dem Sakrileg zugewandt. Diese<br />
Verkehrung aber wird auf Gemeinschaft schlechthin übertragen. In all dem verfährt Juliette<br />
keineswegs fanatisch wie <strong>der</strong> Katholizismus mit den Inkas, sie besorgt nur aufgeklärt, geschäftig den<br />
Betrieb des Sakrilegs, das auch den Katholiken von archaischen Zeiten her noch im Blute lag. Die<br />
urgeschichtlichen Verhaltensweisen, auf welche Zivilisation ein Tabu gelegt, hatten, unter dem Stigma<br />
<strong>der</strong> Bestialität in destruktive transformiert, ein unterirdisches Dasein geführt. Juliette betätigt sie nicht<br />
mehr als natürliche, son<strong>der</strong>n als die tabuierten. Sie kompensiert das Werturteil gegen sie, das<br />
unbegründet war, weil alle Werturteile unbegründet sind, durch seinen Gegensatz. Wenn sie so die<br />
primitiven Reaktionen wie<strong>der</strong>holt, sind es darum nicht mehr die primitiven son<strong>der</strong>n die bestialischen.<br />
Juliette, nicht unähnlich <strong>der</strong> Merteuil aus den 'Liaisons Dangereuses'[116], verkörpert, psychologisch<br />
ausgedrückt, we<strong>der</strong> unsublimierte noch regredierte libido, son<strong>der</strong>n intellektuelle Freude an <strong>der</strong><br />
Regression, amor intellectualis diaboli, die Lust, Zivilisation mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Sie<br />
liebt System und Konsequenz. Sie handhabt das Organ des rationalen Denkens ausgezeichnet. Was