Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...
Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...
Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
auf dessen Bewältigung verzichtet wird, die Absenz des Sinnes hervortreten zu lassen und ihn selber<br />
allein in seiner Negativität: »Der Rest ist Schweigen«. Von Shakespeares chronikaler Dramatik über<br />
den Kampf <strong>der</strong> Schweizer und Lessings gegen die klassizistische Poetik bis zum psychologischen<br />
Roman ist diese Tendenz, unterm riesigen Schatten des Bürgertums, immer mächtiger geworden.<br />
Heute überschlägt sie sich an den Polen, bei <strong>der</strong> Avantgarde und in <strong>der</strong> Massenkultur. Die letzten<br />
großen Romane, Proust und Joyce, überantworten sich so schrankenlos an die Zeit, daß diese, <strong>der</strong>en<br />
sinnleerer Ablauf nach Lukács' Beobachtung noch bei Flaubert den eigentlichen Gehalt des Romans<br />
ausmachte, sich selber dissoziiert gleich den Individuen, <strong>der</strong>en Leben in ihr verläuft: die entsagende<br />
Hingabe ans bloß Zeitliche sprengt das zeitliche Kontinuum, und die Zeitmomente, an welche die<br />
Darstellung sich verliert, treten selbst aus <strong>der</strong> Beziehung <strong>der</strong> temporalen Folge heraus und ziehen<br />
vermöge <strong>der</strong> Erinnerung wie Strudel alles zeitliche Geschehen in sich hinein. Brechts Dramatik endlich<br />
setzt wie den Zerfall des Individuums so den <strong>der</strong> Zeit bereits voraus. Das epische Element soll die<br />
intensive Einheit des dramatischen Knotens als illusionär und ideologisch durchschneiden,<br />
keineswegs aber durch die Einheit des Zeitkontinuums substituieren. Es herrscht in den Brechtschen<br />
Dramen temps espace, Experimentalzeit, die des wie<strong>der</strong>holbaren »Versuchs« eher als die <strong>der</strong><br />
Historie. Diese Experimentalzeit freilich ist so wenig wie ihr Wi<strong>der</strong>spiel, die dramatisch gestaute, vorm<br />
Einbruch <strong>der</strong> empirischen sicher, die, als <strong>der</strong> tiefste Nie<strong>der</strong>schlag des Herrschaftsverhältnisses im<br />
Bewußtsein, so lange weilt wie Herrschaft dauert und auf dem Grunde von Kunst selber liegt, weil<br />
Kunst im Protest gegen jene Zeit - die von Schicksal - sich konstituiert. Während solche Zeit durch das<br />
räumlich-simultane Verhältnis <strong>der</strong> montierten Szenen ausgeschlossen wird, schleicht sie sich in die<br />
konfliktlose Folge. Solange das Drama überhaupt von Sukzession gebunden bleibt, fällt es <strong>der</strong><br />
abstrakten Zeit um so mehr zu, je unerbittlicher es sich verwehrt, Zeit durch Handlung zu schürzen.<br />
Massenkultur, die keinen Konflikt duldet, aber auch keine offenbare Montage, hat in jedem ihrer<br />
Produkte den Tribut an die Zeit zu entrichten. Das ist ihr Paradoxon: je geschichtsloser,<br />
vorentschiedener sie verläuft; je weniger die Zeitrelation ihr zum Problem wird und in die dialektische<br />
Einheit <strong>der</strong> Momente sich umsetzt; je schlauer sie mit <strong>der</strong> Statik <strong>der</strong> Tricks ums Neue als Inhalt <strong>der</strong><br />
Zeit betrügt, um so weniger hat sie <strong>der</strong> Zeit draußen entgegenzustellen, um so tödlicher wird sie <strong>der</strong>en<br />
Beute. Ihre Geschichtslosigkeit ist die Langeweile, die sie zu kürzen prätendiert. Sie weckt die Frage,<br />
ob nicht gar die eindimensionale Zeit des blinden Geschichtsverlaufs mit <strong>der</strong> Zeitlosigkeit des<br />
Immergleichen, dem Schicksal, identisch sei[235].<br />
Die Liquidation des Konflikts in <strong>der</strong> Massenkultur ist aber keine bloße Willkür <strong>der</strong> Manipulation.<br />
Konflikt, Intrige und Durchführung, die Zentralstücke autonomer Dichtung und Musik, sind zugleich<br />
unabdingbar bürgerlich. Nicht umsonst hat das Drama seit <strong>der</strong> attischen Komödie seine Intriganten<br />
unter den Bürgern aufgesucht. Die Intrige, als <strong>der</strong> Versuch des Ohnmächtigen, durch Geist Macht sich<br />
anzueignen, ist die ästhetische Chiffre des bürgerlichen Siegs über den Feudalen, von Kalkül und<br />
Geld über immobilen Landbesitz und unmittelbare Repression durch die Waffe. Die Geschäftigkeit des<br />
Intriganten, wie sie noch in <strong>der</strong> Frühzeit <strong>der</strong> großen Symphonik bei Haydn in lächelnd-zuversichtlicher<br />
Affirmation waltet und dann, kritisch gewandt, den Kern des Beethovenschen Humors ausmacht, ist<br />
abgeleitet von <strong>der</strong> unbegrenzten Anstrengung <strong>der</strong> Konkurrenz, dem emsigen und redlichen Fleiß, <strong>der</strong><br />
unwillentlich noch dem, <strong>der</strong> dahinter <strong>zur</strong>ückbleibt, die Schlinge um den Hals legt. Der Intrigant ist die<br />
negative Figur des bürgerlichen Individuums, dessen notwendiger Wi<strong>der</strong>spruch <strong>zur</strong> Solidarität, so wie<br />
<strong>der</strong> Held mit Freiheit und Opfer die Wahrheit des gleichen Individuums vertreten sollte. Beide gehören<br />
zusammen wie die zusammengeschmiedeten Bruchstücke <strong>der</strong> gespaltenen Welt, fast könnte man<br />
sagen: wie Bürgerlichkeit und Kunst selber. Beiden geht es heute ans Leben, indem sie<br />
zusammenrücken. Der Held bringt kein Opfer mehr, son<strong>der</strong>n hat Erfolg, und in seiner Tat wird er nicht<br />
mündig <strong>zur</strong> Freiheit, son<strong>der</strong>n die Karriere ist die Offenbarung seiner Konformität. So ist er <strong>der</strong><br />
angelangte Intrigant, dessen konfiszierte Physiognomie Clark Gable als Unwi<strong>der</strong>stehlichkeit <strong>zur</strong> Schau<br />
stellt: nicht an<strong>der</strong>s als das Monopol den angelangten Konkurrenten etabliert. Damit aber verschwindet<br />
<strong>der</strong> Intrigant unten wie <strong>der</strong> kleine Konkurrent, sein Komplott wäre immer nur <strong>der</strong> Bankrott, das<br />
siegreiche aber wird als jenes Schicksal sanktioniert, welches Handlung, als vorentschiedene,<br />
illusorisch macht. Die letzten Intrigen waren die triumphalen, welche die Faschisten im Kaiserhof und<br />
beim Bankier Schrö<strong>der</strong>, im Schlafwagenzug nach Rom und bei <strong>der</strong> Ermordung <strong>der</strong> Palladine ans<br />
Steuer brachten und in <strong>der</strong> Regierung befestigten. Keinem würde mehr die Intrige wohl anschlagen,<br />
nachdem ihr Gebot unmittelbar und allmögend geworden ist, und die Massenkunst registriert das,<br />
indem sie den Konflikt als altmodisch beiseite schiebt, allenfalls <strong>der</strong> Bildung entlehnt, stets durch<br />
Vorentschiedenheit dem Bereich eigentlicher Spontaneität ihn entrückt. Die bürgerlichen Typen, die<br />
das gemeine Bewußtsein mit Intrige und Konflikt assoziiert, treten gleichsam in den Sträflingsklei<strong>der</strong>n<br />
auf, die sie sich in <strong>der</strong> liberalen Vergangenheit erworben haben sollen. Bankier ist selbst in Amerika<br />
zum Schimpfwort geworden, so wie <strong>der</strong> Name des Advokaten und des Berufspolitikers, und <strong>der</strong><br />
unbefriedigten, begehrenden Frau ergeht es unter <strong>der</strong> Maske des Vamps nicht besser. Reporter und<br />
Impresarios werden als komische Relikte toleriert. Den Fabeln <strong>der</strong> Kulturwaren wird Geschichte