Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...
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Wendung, im kunstreichen Essen, <strong>der</strong> Existenz von Bordellen, den gußeisernen Pissoirs. Solchem<br />
Respekt vor dem Einzelnen hat aber schon die Regierung Blum den Kampf angesagt, und selbst die<br />
Konservativen taten nur wenig, um seine Denkmale zu schützen.<br />
AUS EINER THEORIE DES VERBRECHERS<br />
... Wie <strong>der</strong> Verbrecher so war die Freiheitsstrafe bürgerlich. Im Mittelalter kerkerte man die<br />
Fürstenkin<strong>der</strong> ein, die einen unbequemen Erbanspruch symbolisierten. Der Verbrecher dagegen<br />
wurde zu Tode gefoltert, um <strong>der</strong> Masse <strong>der</strong> Bevölkerung Respekt für Ordnung und Gesetz<br />
einzuprägen, weil das Beispiel <strong>der</strong> Strenge und Grausamkeit die Strengen und Grausamen <strong>zur</strong> Liebe<br />
erzieht. Die reguläre Freiheitsstrafe setzt steigendes Bedürfnis an Arbeitskraft voraus. Sie spiegelt die<br />
bürgerliche Daseinsweise als Leiden wi<strong>der</strong>. Die Reihen <strong>der</strong> Gefängniszellen im mo<strong>der</strong>nen Zuchthaus<br />
stellen Monaden im authentischen Sinne von Leibniz dar. »Die Monaden haben keine Fenster, durch<br />
die etwas hinein o<strong>der</strong> heraus kann. Die Akzidentien können sich nicht ablösen o<strong>der</strong> außerhalb <strong>der</strong><br />
Substanzen umherspazieren, wie es ehemals die wahrnehmbaren Formen <strong>der</strong> Scholastiker taten.<br />
We<strong>der</strong> Substanz noch Akzidenz kommt von außen in eine Monade hinein.«[224] Es gibt keinen<br />
direkten Einfluß <strong>der</strong> Monaden aufeinan<strong>der</strong>, die Regelung und Koordinierung ihres Lebens erfolgt<br />
durch Gott, bzw. die Direktion[225]. Die absolute Einsamkeit, die gewaltsame Rückverweisung auf das<br />
eigene Selbst, dessen ganzes Sein in <strong>der</strong> Bewältigung von Material besteht, im monotonen Rhythmus<br />
<strong>der</strong> Arbeit, umreißen als Schreckgespenst die Existenz des Menschen in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt. Radikale<br />
Isolierung und radikale Reduktion auf stets dasselbe hoffnungslose Nichts sind identisch. Der Mensch<br />
im Zuchthaus ist das virtuelle Bild des bürgerlichen Typus, zu dem er sich in <strong>der</strong> Wirklichkeit erst<br />
machen soll. Denen es draußen nicht gelingt, wird es drinnen in furchtbarer Reinheit angetan. Die<br />
Rationalisierung <strong>der</strong> Existenz von Zuchthäusern durch die Notwendigkeit, den Verbrecher von <strong>der</strong><br />
Gesellschaft abzuson<strong>der</strong>n, o<strong>der</strong> gar durch seine Besserung, trifft nicht den Kern. Sie sind das Bild <strong>der</strong><br />
zu Ende gedachten bürgerlichen Arbeitswelt, das <strong>der</strong> Haß <strong>der</strong> Menschen gegen das, wozu sie sich<br />
machen müssen, als Wahrzeichen in die Welt stellt. Der Schwache, Zurückgebliebene, Vertierte muß<br />
qualifiziert die Lebensordnung leiden, in die man selbst sich ohne Liebe findet, verbissen wird die<br />
introvertierte Gewalt an ihm wie<strong>der</strong>holt. Der Verbrecher, dem in seiner Tat die Selbsterhaltung über<br />
alles an<strong>der</strong>e ging, hat in Wahrheit das schwächere, labilere Selbst, <strong>der</strong> Gewohnheitsverbrecher ist ein<br />
Debiler.<br />
Gefangene sind Kranke. Ihre Schwäche hat sie in eine Situation geführt, die Körper und Geist schon<br />
angegriffen hat und immer weiter angreift. Die meisten waren schon krank, als sie die Tat begingen,<br />
die sie hineinführte: durch ihre Konstitution, durch die Verhältnisse. An<strong>der</strong>e haben gehandelt wie je<strong>der</strong><br />
Gesunde in <strong>der</strong> gleichen Konstellation <strong>der</strong> Reize und Motive gehandelt hätte, sie haben nur Unglück<br />
gehabt. Ein Rest war böser und grausamer als die meisten Freien, so böse und grausam in Person<br />
wie die faschistischen Herren <strong>der</strong> Welt durch ihre Stellung. Die Tat <strong>der</strong> gemeinen Verbrecher ist<br />
engstirnig, persönlich, unmittelbar destruktiv. Die Wahrscheinlichkeit ist, daß die lebendige Substanz,<br />
die in jedem dieselbe ist, auch bei den äußersten Taten dem gleich starken Druck <strong>der</strong> körperlichen<br />
Verfassung und des individuellen Schicksals von Geburt an, die den Verbrecher dazu führten, sich in<br />
keiner Gestalt hätte entziehen können, daß du und ich, ohne die Gnade <strong>der</strong> Einsicht, die uns durch<br />
Verkettung von Umständen zuteil geworden, gehandelt hätten wie jener, da er den Mord beging. Und<br />
nun als Gefangene sind sie bloß Leidende, und die Strafe an ihnen ist blind, ein entfremdetes<br />
Geschehen, ein Unglück wie <strong>der</strong> Krebs o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Einfall eines Hauses. Gefängnis ist ein Siechtum.<br />
Das verraten auch ihre Mienen, <strong>der</strong> vorsichtige Gang, die umständliche Art des Denkens. Sie können<br />
wie Kranke nur von ihrer Krankheit sprechen.<br />
Wo, wie in <strong>der</strong> Gegenwart, die Grenzen zwischen respektablen und illegalen Rackets objektiv fließend<br />
sind, gehen auch psychologisch die Gestalten ineinan<strong>der</strong> über. Solange die Verbrecher aber noch<br />
Kranke waren, wie im neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t, stellte die Haft die Umkehrung ihrer Schwäche dar.<br />
Die Kraft, von <strong>der</strong> Umwelt sich als Individuum abzuheben und zugleich durch die konzessionierten<br />
Formen des Verkehrs mit ihr in Verbindung zu treten, um in ihr sich zu behaupten, war im Verbrecher<br />
angefressen. Er repräsentierte die dem Lebendigen tief einwohnende Tendenz, <strong>der</strong>en Überwindung<br />
das Kennzeichen aller Entwicklung ist: sich an die Umgebung zu verlieren anstatt sich tätig in ihr<br />
durchzusetzen, den Hang, sich gehen zu lassen, <strong>zur</strong>ückzusinken in Natur. Freud hat sie den<br />
Todestrieb genannt, Caillois le mimétisme[226]. Süchtigkeit solcher Art durchzieht, was dem<br />
unentwegten Fortschritt zuwi<strong>der</strong>läuft, vom Verbrechen, das den Umweg über die aktuellen<br />
Arbeitsformen nicht gehen kann, bis zum sublimen Kunstwerk. Die Weichheit gegen die Dinge, ohne<br />
die Kunst nicht existiert, ist <strong>der</strong> verkrampften Gewalt des Verbrechers nicht so fern. Die Ohnmacht,