Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung zur ...
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die Selbstbeherrschung angeht, verhalten sich ihre Anweisungen zu denen Kants zuweilen wie die<br />
spezielle Anwendung zum Grundsatz. »Die Tugend also«, heißt es bei diesem[117], »sofern sie auf<br />
innere Freiheit begründet ist, enthält für die Menschen auch ein bejahendes Gebot, nämlich alle seine<br />
Vermögen und Neigungen unter seine (<strong>der</strong> Vernunft) Gewalt zu bringen, mithin <strong>der</strong> Herrschaft über<br />
sich selbst, welche(s) über das Verbot, nämlich von seinen Gefühlen und Neigungen sich nicht<br />
beherrschen zu lassen, (<strong>der</strong> Pflicht <strong>der</strong> Apathie) hinzukommt: weil, ohne daß die Vernunft die Zügel<br />
<strong>der</strong> Regierung in die Hände nimmt, jene über den Menschen den Meister spielen.« Juliette doziert<br />
über die Selbstzucht des Verbrechers: »Erwägen Sie zuerst Ihren Plan einige Tage im voraus,<br />
überlegen Sie alle seine Folgen, prüfen Sie mit Aufmerksamkeit, was Ihnen dienen kann... was Sie<br />
möglicherweise verraten könnte, und wägen Sie diese Dinge mit <strong>der</strong>selben Kaltblütigkeit ab, wie wenn<br />
Sie sicher wären, entdeckt zu werden.«[118] Das Gesicht des Mör<strong>der</strong>s muß die größte Ruhe verraten.<br />
»... lassen Sie auf Ihren Zügen Ruhe und Gleichgültigkeit sich zeigen, versuchen Sie, die<br />
größtmögliche Kaltblütigkeit in dieser Lage zu erwerben ... wären Sie nicht sicher, keinerlei<br />
Gewissensbisse zu haben, und Sie werden es nur durch die Gewohnheit des Verbrechens sein,<br />
wenn, sage ich, Sie darüber nicht sehr sicher wären, würden sie erfolglos daran arbeiten, Meister<br />
Ihres Mienenspiels zu werden ...«[119] Die Freiheit von Gewissensbissen ist vor <strong>der</strong> formalistischen<br />
Vernunft so essentiell wie die von Liebe o<strong>der</strong> Haß. Reue setzt das Vergangene, das dem Bürgertum<br />
entgegen <strong>der</strong> populären Ideologie seit je für Nichts galt, als ein Sein; sie ist <strong>der</strong> Rückfall, vor dem zu<br />
bewahren ihre einzige Rechtfertigung vor <strong>der</strong> bürgerlichen Praxis wäre. Spricht es doch Spinoza den<br />
Stoikern nach: »Poenitentia virtus non est, sive ex ratione non oritur, sed is, quem facti poenitet, bis<br />
miser seu impotens est.«[120] Ganz im Sinne jenes Fürsten von Francavilla fügt er freilich sogleich<br />
»terret vulgus, nisi metuat«[121] hinzu und meint daher als guter Machiavellist, daß Demut und Reue<br />
wie Furcht und Hoffnung trotz aller Vernunftwidrigkeit recht nützlich seien. »Zur Tugend wird Apathie<br />
(als Stärke betrachtet) notwendig vorausgesetzt«, sagt Kant[122], indem er, Sade nicht unähnlich,<br />
diese »moralische Apathie« von <strong>der</strong> Fühllosigkeit im Sinn <strong>der</strong> Indifferenz gegen sinnliche Reize<br />
unterscheidet. Enthusiasmus ist schlecht. Ruhe und Entschlußkraft bilden die Stärke <strong>der</strong> Tugend.<br />
»Das ist <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong> Gesundheit im moralischen Leben; dagegen <strong>der</strong> Affekt, selbst wenn er durch<br />
die Vorstellung des Guten aufgeregt wird, eine augenblickliche glänzende Erscheinung ist, welche<br />
Mattigkeit hinterläßt.«[123] Juliettes Freundin Clairwil stellt ganz dasselbe vom Laster fest[124].<br />
»Meine Seele ist hart, und ich bin weit davon entfernt, Empfindsamkeit <strong>der</strong> glücklichen Apathie, <strong>der</strong> ich<br />
mich erfreue, vorzuziehen. Oh Juliette ... du täuschst dich vielleicht über die gefährliche<br />
Empfindsamkeit, auf die sich so viele Toren etwas zugute tun.« Apathie tritt an jenen Wendestellen<br />
<strong>der</strong> bürgerlichen Geschichte, auch <strong>der</strong> antiken auf, wo angesichts <strong>der</strong> übermächtigen historischen<br />
Tendenz die pauci beati <strong>der</strong> eigenen Ohnmacht gewahr werden. Sie bezeichnet den Rückzug <strong>der</strong><br />
einzelmenschlichen Spontaneität aufs Private, das dadurch erst als die eigentlich bürgerliche<br />
Existenzform gestiftet wird. Stoa, und das ist die bürgerliche Philosophie, macht es den Privilegierten<br />
im Angesicht des Leidens <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en leichter, <strong>der</strong> eigenen Bedrohung ins Auge zu sehen. Sie hält<br />
das Allgemeine fest, indem sie die private Existenz als Schutz vor ihm zum Prinzip erhebt. Die<br />
Privatsphäre des Bürgers ist herabgesunkenes Kulturgut <strong>der</strong> Oberklasse.<br />
Juliette hat die Wissenschaft zum Credo. Scheußlich ist ihr jede Verehrung, <strong>der</strong>en Rationalität nicht zu<br />
erweisen ist: <strong>der</strong> Glaube an Gott und seinen toten Sohn, <strong>der</strong> Gehorsam gegen die Zehn Gebote, <strong>der</strong><br />
Vorzug des Guten vor dem Bösen, des Heils vor <strong>der</strong> Sünde. Angezogen wird sie von den Reaktionen,<br />
die von den Legenden <strong>der</strong> Zivilisation mit einem Bann belegt waren. Sie operiert mit Semantik und<br />
logischer Syntax wie <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nste Positivismus, aber nicht wie dieser Angestellte <strong>der</strong> jüngsten<br />
Administration richtet sie ihre Sprachkritik vornehmlich gegen Denken und Philosophie, son<strong>der</strong>n als<br />
Tochter <strong>der</strong> kämpfenden <strong>Aufklärung</strong> gegen die Religion. »Ein toter Gott!« sagt sie von Christus[125],<br />
»nichts ist komischer als diese zusammenhanglose Wortfolge des katholischen Wörterbuchs: Gott, will<br />
heißen ewig; Tod, will heißen nicht ewig. Idiotische Christen, was wollt ihr denn mit eurem toten Gott<br />
machen?« Die Umwandlung des ohne wissenschaftlichen Beweis Verdammten in Erstrebenswertes<br />
wie des beweislos Anerkannten in den Gegenstand des Abscheus, die Umwertung <strong>der</strong> Werte, <strong>der</strong><br />
»Mut zum Verbotenen«[126] ohne Nietzsches verräterisches »Wohlan!«, ohne seinen biologischen<br />
Idealismus, ist ihre spezifische Leidenschaft. »Bedarf es denn <strong>der</strong> Vorwände, um ein Verbrechen zu<br />
begehen?« ruft die Fürstin Borghese, ihre gute Freundin, ganz in seinem Sinne aus[127]. Nietzsche<br />
verkündigt die Quintessenz ihrer Doktrin[128]. »Die Schwachen und Mißratnen sollen zugrunde<br />
gehen: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. Was ist schädlicher<br />
als irgendein Laster? - das Mitleiden <strong>der</strong> Tat mit allen Mißratnen und Schwachen - das Christentum<br />
...«[129] Dieses, »merkwürdig daran interessiert, die Tyrannen zu meistern und sie auf Prinzipien <strong>der</strong><br />
Brü<strong>der</strong>lichkeit zu reduzieren... spielt dabei das Spiel des Schwachen; es vertritt ihn, es muß sprechen<br />
wie er ... Wir dürfen überzeugt sein, daß jenes Band in Wahrheit vom Schwachen, wie es auch<br />
vorgeschlagen, so in Kraft gesetzt wurde, als <strong>der</strong> Zufall ihm einmal die Gewalt des Priesters in die<br />
Hände spielte.«[130] Das trägt Noirceuil, Juliettes Mentor, <strong>zur</strong> Genealogie <strong>der</strong> Moral bei. Bösartig