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Fatale Bilanz. Die LINKE fordert einen grundlegenden ...

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<strong>Die</strong> ureigenste Verbindung<br />

Im Berliner Bezirk Lichtenberg wird in diesem Jahr zum dritten Mal ein<br />

Bürgerhaushalt aufgestellt Von Roland Etzel<br />

Direkte Demokratie ist ein Kernanliegen<br />

linker Politik. Sie dürfte sogar bis<br />

weit in die Mitte der Gesellschaft auf<br />

Zustimmung stoßen, gerade weil ihr<br />

in diesem Lande sehr enge Grenzen<br />

gesetzt sind. Der Wunsch, per Volksgesetzgebung<br />

und Referenden über<br />

grundlegende Fragen mitentscheiden<br />

zu dürfen und sie nicht allein einem<br />

einmal für vier Jahre gewählten Gremium<br />

mit s<strong>einen</strong> zementierten Mehrheiten<br />

zu überlassen, manifestierte<br />

sich auf Bundesebene zuletzt 2005/06<br />

während der Diskussion um die EU-Verfassung<br />

– und wurde in Deutschland im<br />

Gegensatz zu anderen EU-Staaten komplett<br />

missachtet. Ein weiteres Mal verschanzte<br />

sich ein eng begrenzter Kreis<br />

von Politikern in seinem Elfenbeinturm<br />

hinter dem Schlagwort »repräsentative<br />

Demokratie« und entschied für den<br />

großen Lümmel Volk, was für ihn vermeintlich<br />

gut und richtig ist.<br />

Gemeinsam mit vielen anderen bürgerschaftlich<br />

engagierten Gruppen und<br />

Verbänden hatte die PDS bzw. die Linke<br />

gegen diese aufgezwungene Vormundschaft<br />

protestiert. Aber ihre Argumente<br />

wurden nicht einmal ernsthaft geprüft.<br />

Direkte Demokratie wird in Deutschland<br />

von den regierenden Parteien auf<br />

Bundesebene geradezu als antidemokratisch<br />

verteufelt, obwohl sie keineswegs,<br />

wie oft behauptet, durch das<br />

Grundgesetz ausgeschlossen wird. Auf<br />

Landesebene sind die Quoren (also die<br />

Mindestteilnehmerzahlen von Wahlberechtigten<br />

an Volksbefragungen) meist<br />

so hoch angesetzt und mit so vielen<br />

bürokratischen Hürden versehen, dass<br />

sie kaum überwindbar sind.<br />

Sind Formen direkter Demokratie in<br />

Deutschland also gar nicht möglich?<br />

Doch: auf kommunaler Ebene – wenn<br />

man sie denn will, wenn man bereit<br />

ist, neue Wege zu gehen. Ein Projekt<br />

direkter Demokratie trägt den Namen<br />

Bürgerhaushalt und wird bereits in die<br />

Tat umgesetzt: in Lichtenberg.<br />

Der Bezirk im Berliner Nordosten mit<br />

reichlich einer Viertel Million Einwohner<br />

ist sogar eine Art Pilotprojekt, wissenschaftlich<br />

begleitet von der Hochschule<br />

für Öffentliche Verwaltung Speyer<br />

und der Bundeszentrale für Politische<br />

Bildung und versehen mit dem sperrigen<br />

Namen »partizipative Haushaltsaufstellung<br />

und Kontrolle« oder eben<br />

Bürgerhaushalt. Angestoßen 2003 von<br />

dem PDS-Mitglied des Abgeordnetenhauses<br />

Peter-Rudolf Zotl, der wiederum<br />

eine Idee der brasilianischen Großstadt<br />

Porto Alegre aufnahm, wird nun<br />

bereits zum dritten Mal der Haushaltsplan<br />

Lichtenbergs gemeinsam mit den<br />

Bürgerinnen und Bürgern erstellt.<br />

Es ist nicht gerade das Einfache im<br />

Brecht‘schen Sinne, das so schwer zu<br />

machen ist, es ist kein Selbstläufer.<br />

Es er<strong>fordert</strong> Arbeit und Hingabe von<br />

Seiten der gewählten Vertreter/innen<br />

ebenso wie vom Bezirksamt, und es<br />

bedarf eben des Interesses der Bürgerinnen<br />

und Bürger, welches es zu wecken<br />

und dann mit der nötigen Aufmerksamkeit<br />

und Sorgfalt zu behandeln<br />

gilt. Nicht zuletzt braucht es dafür<br />

ein Stadtoberhaupt, das die Idee des<br />

Bürgerhaushalts überzeugend praktiziert<br />

und in der Öffentlichkeit vertritt.<br />

Das ist in Lichtenberg die Bürgermeisterin<br />

der <strong>LINKE</strong>N Christina Emmrich, die<br />

dem Bezirk seit 2002 vorsteht.<br />

Der andere Politikstil<br />

Zu versuchen, <strong>einen</strong> Bürgerhaushalt<br />

aufzustellen, sagt sie ganz dezidiert<br />

bei unserem Gespräch im Rathaus, gehöre<br />

für sie zu den Grundauffassungen,<br />

die ein Kommunalpolitiker haben sollte,<br />

»denn er ist die ureigenste Verbindung,<br />

die er zu s<strong>einen</strong> Bürgern haben<br />

kann«. <strong>Die</strong> Einstellung zum Bürgerhaushalt<br />

ist für sie die Antwort auf die<br />

Frage: Wie halte ich es mit der direkten<br />

Demokratie? »Wir als <strong>LINKE</strong>«, betont<br />

Christina Emmrich, »sind angetreten,<br />

<strong>einen</strong> anderen Politikstil zu praktizieren.<br />

Und wenn wir in verantwortliche<br />

Positionen gewählt sind, gehört es<br />

einfach dazu, die Menschen nicht nur<br />

über Entscheidungen zu informieren,<br />

sondern sie nach Möglichkeit an ihnen<br />

teilhaben zu lassen. Das sollte ein Markenzeichen<br />

linker Politik sein.«<br />

Und dann sagt sie noch so <strong>einen</strong><br />

Satz wie in Stein gemeißelt: »Nichts<br />

entbindet uns von der Verpflichtung, <strong>einen</strong><br />

lesbaren Haushalt vorzulegen. <strong>Die</strong><br />

Menschen müssen verstehen, was wir<br />

machen.« Dabei legt sie <strong>einen</strong> gehefteten<br />

Stapel Papier auf den Tisch. 1.000<br />

Seiten, alles Einzelpositionen und Zahlen.<br />

Für Christina Emmrich sind sie lesbar,<br />

denn sie ist nicht allein Bürgermeisterin,<br />

sondern auch Leiterin der<br />

Abteilung Personal und Finanzen. Aber<br />

selbst für <strong>einen</strong> engagierten und interessierten<br />

Bürger, der das Angebot<br />

mitzuentscheiden annehmen möchte,<br />

sind sie vermutlich ein Grund zur Resignation.<br />

<strong>Die</strong> Zahlenflut muss also<br />

aufbereitet und handhabbar gemacht<br />

werden, denn insgesamt geht es beim<br />

Lichtenberger Haushalt um mehr als eine<br />

halbe Milliarde Euro.<br />

Der Löwenanteil davon – 524,6 Millionen<br />

Euro – fließt in Pflichtaufgaben,<br />

an deren Höhe weder das kommunale<br />

Parlament, die Bezirksverordnetenversammlung<br />

(BVV), noch Bürgervorschläge<br />

etwas ändern dürfen, zum Beispiel<br />

für Wohngeld, Sozialhilfe und den Betrieb<br />

von Schulen. Für den Bürgerhaushalt,<br />

also die Möglichkeit der Mitbestimmung<br />

über die sogenannten steuerbaren<br />

Ausgaben, verbleiben in diesem<br />

Jahr immerhin noch erkleckliche<br />

30,7 Millionen Euro. <strong>Die</strong>se Summe hat<br />

sich trotz der sprichwörtlichen Berliner<br />

Haushaltsnotlage gegenüber den vergangenen<br />

Jahren nicht verringert.<br />

Doch selbst wenn das so wäre,<br />

meint die Bürgermeisterin, auch<br />

kleinere Beträge wären an sich noch<br />

kein Grund, Mitbestimmung zu versagen.<br />

Auch Schulden nicht. Schließlich<br />

schleppt ein Großteil der Kommunen<br />

hierzulande Verbindlichkeiten herum.<br />

Trotzdem – oder vielleicht sogar deswegen?<br />

– »haben die Menschen doch<br />

ein Recht zu wissen, was mit dem Geld<br />

passiert«. Schulden zu haben, meint<br />

die Bürgermeisterin ganz entschieden,<br />

sei kein Hinderungsgrund für <strong>einen</strong><br />

Bürgerhaushalt.<br />

Wie vollzieht sich die Mitbestimmung<br />

über <strong>einen</strong> Bürgerhaushalt nun<br />

praktisch? Damit das 1.000-Seiten-<br />

Buch keines mit sieben Siegeln bleibt,<br />

hat das Bezirksamt eine Liste von variablen<br />

Sachgebieten aufgestellt: Bibliotheken,<br />

Gesundheitsförderung, Jugendförderung,<br />

Kultur, Musikschule,<br />

Seniorenförderung, Sport, Natur und<br />

Umwelt … Dafür können anhand der<br />

Budgetzahlen aus dem letzten Jahr<br />

Vorschläge abgegeben werden. Erfragt<br />

wird ebenso die Zufriedenheit mit dem<br />

bisherigen Angebot: Soll das Budget<br />

für eine Einzelposition gesenkt oder<br />

die Zahl der angebotenen Leistungen<br />

verringert werden? Wollen Sie die Qua-<br />

DEMOKRATIE<br />

DISPUT September 2007 018

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