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Heft 4 / 2008 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

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prosa<br />

fremd, aber doch anders. Ich versuchte mich an<br />

Einzelheiten des vergangenen Tages zu erinnern.<br />

Es gelang mir kaum. Das Wenige, das mir einfiel,<br />

konnte ich in seinen Ursachen und Zusammenhängen<br />

nicht erklären.<br />

Plötzlich überfiel mich eine unerklärliche<br />

Angst, von jemandem gesehen zu werden – wie<br />

damals als Kind, wenn ich Dinge erlebte oder tat,<br />

die ich vor den Erwachsenen verbergen wollte,<br />

die nur mir gehörten. Und dann fiel mein Blick auf<br />

ein verschwimmendes Bild in einer Regenpfütze,<br />

die das Licht einer Straßenlaterne widerspiegelte.<br />

Da sah ich, daß ich wieder ein kleines Mädchen<br />

geworden war. Ich war weder bestürzt, noch erstaunt.<br />

Ich hatte – wenn auch sehr unklar – die<br />

Empfindung, daß mein wirkliches Alter für das,<br />

was jetzt kommen sollte, keine Rolle spielte.<br />

Mein tatsächliches Alter gehörte zu den Dingen,<br />

von denen ich in dieser Regennacht geflohen<br />

war.<br />

Der farbige Strahlenkranz, der die Laterne umgab,<br />

zu der ich aufsah, hatte etwas Anheimelndes<br />

und Tröstliches an sich. Mit seinem Schillern und<br />

Glänzen, seinem ständig wechselnden Farbenspiel<br />

schien er alleine in dieser toten Nacht zu<br />

leben.<br />

Plötzlich löste sich ein einzelner Lichtstrahl<br />

aus diesem Kranz los, gewann eine eigene, neue<br />

Form; ein eigenes Leben, glitt herab zur Erde<br />

und stand nun körperhaft vor mir – unendlich<br />

zart war dieses Geschöpf, in einen hauchdünnen<br />

Mantel gehüllt, durch den sein leuchtender Leib<br />

schimmerte. In seinem hellen Haar lagen wie eine<br />

Diamantenkrone hell glänzende Regentropfen.<br />

„Wohin gehst du“, fragte der Lichtstrahl.<br />

„Ich weiß es nicht“, sagte ich.<br />

„Man sollte doch immer wissen, wohin man<br />

geht, wenn man um diese Zeit noch unterwegs<br />

ist“, meinte der Lichtstrahl. Er sprach tadelnd,<br />

sah mich dabei aber freundlich und etwas neugierig<br />

an.<br />

„Ich glaube, ich habe das nie gewußt“, entgegnete<br />

ich, „auch damals nicht, als ich noch ein erwachsener<br />

Mensch war“.<br />

„Hat dich nie jemand geführt ?“ Er fragte erstaunt.<br />

„Ich hatte meist das Gefühl, daß etwas in mir<br />

ist, das mich führt“, erklärte ich ihm, „aber heute<br />

habe ich dieses Gefühl verloren. Vielleicht sollte<br />

ich es suchen gehen ?“<br />

„Wir könnten doch miteinander gehen“, sagte er<br />

und ergriff meinen langen Mantel an einem Zipfel.<br />

Von dieser Berührung ging eine wunderbare<br />

Wärme aus. Eine Wärme, wie sie nur Kinder fühlen<br />

oder Liebende, die meinen, den einzigen Kameraden<br />

gefunden zu haben, der die Spiele des<br />

Lebens spielt,<br />

Einen Augenblick lang tauchte vor meinem inneren<br />

Auge mein einsames Zimmer auf, verblaßte<br />

wieder und versank.<br />

„Wenn du willst, können wir auch fahren“, sagte<br />

mein kleiner Begleiter.<br />

Ich blickte mich um. In den Straßen war es vollkommen<br />

still. Es war weder ein Geräusch, noch<br />

ein Schritt oder ein Atemzug zu hören. Selbst die<br />

Regentropfen fielen lautlos.<br />

„Es fährt doch nichts mehr“, sagte ich leise.<br />

„Es würde mir aber auch nicht einfallen, mit so<br />

etwas Gewöhnlichem wie einer Strassenbahn oder<br />

einem Autobus zu fahren“, meinte er.<br />

Ich schwieg, konnte mir aber vorstellen, was<br />

mein Begleiter meinen konnte.<br />

Wir bogen in eine schmale Gasse ein. Sie war<br />

nicht beleuchtet, nur das zarte Licht meines kleinen<br />

Begleiters brach durch die Finsternis. Eine<br />

kleine, graue Nebelwolke wälzte sich uns entgegen.<br />

Je näher sie kam, desto genauer sah ich die<br />

Umrisse einer kleinen Gondel. Sie war grau, weich<br />

gepolstert und ich sah, daß man zu zweit darin sitzen<br />

konnte.<br />

Wir stiegen ein und ich versank in den weichen<br />

Sitzen wie in Daunenpolstern, während mein kleiner<br />

Begleiter ebenfalls Platz nahm.<br />

„Sollten wir noch jemand mitnehmen?“. Er<br />

fragte mich leise.<br />

„Ich will nur mit dir zusammen sein“, erwiderte<br />

ich heftig, heftiger als ich es wollte.<br />

„Es gibt niemand, den ich dabei haben möchte.“<br />

Der Lichtstrahl lächelte. Nie hatte ich etwas<br />

Schöneres gesehen, als sein von Licht und Lächeln<br />

erfülltes Gesicht.<br />

„Es sind die Menschen doch eigenartige Geschöpfe“,<br />

sagte er.<br />

„Sie bringen es zustande, mich ein halbes Leben<br />

nicht zu sehen. Aber wenn sie mich einmal<br />

entdeckt haben, wollen sie mich für sich alleine<br />

haben.“<br />

IGdA-aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (2009), Seite 11

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