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Heft 4 / 2008 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

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Prosa<br />

Gesina Jaeckle<br />

Stummer Schrei<br />

Endlose Gänge. Sie bewegte sich langsam.<br />

Vorbei an vielen Türen. Verspürte den unbezwingbaren<br />

Wunsch eine zu öffnen.<br />

Der Raum war leer. Sie durchschritt ihn bis zur<br />

nächsten Tür. Sie ließ sich nicht öffnen. Sie taumelte<br />

zurück auf den Gang. Drückte auf eine andere<br />

Klinke. Betrat den nächsten Raum. Ebenfalls<br />

leer. Schien größer zu sein als der letzte. Keine<br />

Fenster. Nur ein schmaler Durchlaß in der Wand.<br />

Sie zwängte sich hindurch. Landete in einem neuen<br />

Raum. Genauso kalt und leer. Noch größer als<br />

der vorherige.<br />

Zwanghaft ging sie weiter. Wie von Geisterhand<br />

schob sich einen andere Tür auf. Sie durchquerte<br />

den nächsten Raum. Leer. Noch größer.<br />

Sie lief weiter. Eine Tür nach der anderen sprang<br />

auf. Schnell, immer schneller. Sie hatte große<br />

Mühe, das Tempo zu halten. Alle Räume waren<br />

kahl und frostig. Ihre Größe nahm von Mal zu<br />

Mal zu. Atemlos blieb sie im letzten stehen. Ein<br />

riesiger Saal, von dessen Wänden ein stummer<br />

Schrei widerhallte.<br />

Angst, unvorstellbare Angst nahm sie gefangen.<br />

Ein Engel erschien aus der oberen Ecke der<br />

linken Wand. Er besaß nur einen Flügel. Einen<br />

kleinen, gebrochenen Flügel. Nachtschwarz. Sein<br />

Antlitz war häßlich. Sein Gewand mit Blutspuren<br />

bedeckt. Eingetrockneten Blutspuren. Kleinen<br />

und großen. Der Engel blickte sie an. Vorwurfsvoll<br />

und traurig.<br />

Ihr Herz stolperte und drohte zu versagen.<br />

Der Engel streckte einen Arm nach ihr aus. Sie<br />

wich in Panik zurück. Der Arm wurde lang und<br />

länger. Berührte fast ihre Schulter.<br />

Sie begann zu schreien. Und je länger sie schrie,<br />

desto mehr wandelte sich das Antlitz des Engels.<br />

Seine Züge wurden gelöst und schön, überirdisch<br />

schön.<br />

Der Flügel begann zu wachsen und bekam einen<br />

goldenen Glanz. Der Engel verneigte sich vor<br />

ihr. Verschwand unerwartet von einer Sekunde<br />

zur anderen. Der Saal schrumpfte zusammen, bis<br />

nur ein winziger Spalt übrig blieb.<br />

Und nirgends eine Tür zum Entrinnen.<br />

Die Beerdigung fand in aller Stille statt.<br />

Georg Walz<br />

Gereift in der Tonne<br />

Erzählung<br />

Er dreht die Gedanken zur Seite und blinzelt<br />

verschlafen in das Licht der Sonne.<br />

Die Wärme in seiner hölzernen Behausung<br />

hat merklich zugenommen. Die Strahlen<br />

der Morgensonne stechen in den freiliegenden<br />

nackten Oberkörper, der nicht vom Schatten der<br />

Rundung geschützt ist. Leicht modriger Geruch,<br />

drängt aus der Tiefe nach vorne und kündet von<br />

der Reife der Füße, die dringend nach einem erfrischenden<br />

Bad in kühlem Wasser verlangen.<br />

Noch ehe er die Augen vollends öffnen kann,<br />

um die Nähe des neuen Tages zu schauen, hört<br />

er das schlurfende Geräusch von Schritten, die<br />

sich schnell nähern und das Durcheinander aufgeregter<br />

junger Stimmen.<br />

„Da, gleich da hinten muß er liegen. Ich habe<br />

ihn gesehen. Er schläft in einem großen Faß.“<br />

Die Geräusche verstummen. Kleine Körper<br />

drängen sich zwischen die wärmenden Strahlen<br />

der Sonne und dem Auftreffen auf seine Haut.<br />

Schatten fällt auf sein Gesicht. Die halb geöffneten<br />

Lider lassen ihn schemenhaft neugierige Gesichter<br />

erkennen, die sich über ihn beugen.<br />

„Er ist tot?“, stellt eine kindliche Stimme fest.<br />

„Nein, ich glaube nicht, daß er tot ist. Er hat die<br />

Augen ein bißchen geöffnet und schaut uns an.“,<br />

IGdA-aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (2009), Seite 18

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