Heft 4 / 2008 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
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Prosa<br />
„Wohin fahren wir“, fragte ich.<br />
Ich hatte bemerkt, daß wir uns fast unmerklich<br />
vom Erdboden abgehoben hatten und uns sanft,<br />
aber rasch weiterbewegten.<br />
„In eine Grottenbahn. Sie hat nicht viele Bilder,<br />
aber ich möchte sie dir doch gerne zeigen. Mach<br />
deine Augen zu und denke nach, ob du nicht<br />
doch jemand mitnehmen willst. Ob du nicht jemanden<br />
weißt, der das mit dir erleben sollte.“ Ich<br />
schloß meine Augen und fühlte, wie meine Lider<br />
schwer wurden. Ohne Anstrengung konnte ich<br />
sie nicht mehr öffnen. Alle Sehnsucht nach dem<br />
liebsten Menschen, den ich auf der Welt hatte,<br />
war gewichen. Ich war erfüllt von etwas Unbeschreiblichen,<br />
das nur ich – nur jetzt – nur so –<br />
erleben konnte.<br />
Vor mir lag das erste Bild:<br />
Zum Greifen nahe lag ein mit alten, schweren<br />
Möbeln eingerichtetes, schwach beleuchtetes Arbeitszimmer.<br />
An einem Schreibtisch saß ein alter<br />
Mann und schrieb. Sein gütiges Gesicht schien<br />
mir seltsam vertraut und erweckte eine Flut von<br />
Erinnerungen in mir, die jedoch keine feste Form<br />
annehmen konnten.<br />
„Du kannst aussteigen“, sagte der Lichtstrahl.<br />
Ich saß still und sah den alten Mann nur an. Der<br />
hatte mich jetzt erst bemerkt und sah mich an.<br />
Seine Augen schienen von einer warmen, heiteren<br />
Freude erfüllt.<br />
„Du hast mir gerade gefehlt“, sagte er.<br />
„Wahrscheinlich denkst du jetzt, daß ich mit<br />
meiner Arbeit aufhören werde, um mich mit dir<br />
zu unterhalten. Mit dir, einem kleinen Mädchen!<br />
„Laß mich nur bei dir sein“, sagte ich. Ich will<br />
auch ganz still sitzen.“ „Nun“, brummte der alte<br />
Mann.<br />
Da merkte ich, daß alles, was ich ihm erzählen<br />
wollte, mir plötzlich unwichtig und dumm vorkam.<br />
Es erschien mir klein, und ich hatte doch<br />
etwas recht Bedeutungsvolles erzählen wollen.<br />
Etwas, wofür er mich loben konnte und das<br />
ihn beeindruckte. Aber nur dieser Augenblick<br />
mit dem alten Mann schien bedeutungsvoll<br />
zu sein; diese Minute hier, in diesem Zimmer<br />
mit dem fremd-vertrauten Menschen. Ich genoss<br />
die ruhige, liebevolle Sicherheit seiner Gegenwart.<br />
„Du kannst mir schon etwas erzählen“, sagte<br />
er versöhnlich und fuhr fort, sich mit den eng beschriebenen<br />
Blättern auf seinem Schreibtisch zu<br />
beschäftigen. Trotzdem hatte ich nicht den Eindruck,<br />
daß er arbeitete.<br />
„Ich will nicht immer ein braves Kind sein“,<br />
sagte ich trotzig. „Ich möchte nicht immer so sein,<br />
wie es die anderen von mir erwarten und wie sie<br />
mich haben wollen. Ich möchte auch einmal so<br />
richtig böse sein und ungehorsam, gedankenlos,<br />
verspielt, ungeschickt. Ich möchte wissen, ob<br />
man mich dann auch noch lieb hat.“<br />
In dem alten Gesicht erschien ein breites Lächeln.<br />
„Es ist genug, wenn ein Mensch da war,<br />
der dich geliebt hat. Das verläßt dich nie wieder!“<br />
„Kannst du nicht mit mir kommen“, fragte<br />
ich zaghaft.<br />
Er schüttelte den Kopf und sah mir nach, als<br />
die Gondel sich wieder in Bewegung setzte. Ich<br />
hatte das Gefühl, als trüge man mich aus der<br />
nun erst gefundenen Geborgenheit hinaus in<br />
ein Meer der Unsicherheit und Gefahr.<br />
„Wir sind beim zweiten Bild“, sagte mein kleiner<br />
Freund in diesem Moment. Die Gondel hielt.<br />
Vor mir lag ein hell erleuchteter Raum, ganz anders<br />
als der erste. An den Wänden hingen Bilder.<br />
Jedes Einrichtungsstück schien mit großer Sorgfalt<br />
ausgewählt zu sein und auf dem Tisch, auf<br />
einer Kommode und einem Bücherregal standen<br />
zarte Vasen mit Blumen. Es war das Zimmer eines<br />
Künstlers. Vor dem Klavier saß ein Mann und<br />
sang ein Lied, das er selbst begleitete. Es war eine<br />
sehr einfache, aber schöne Melodie.<br />
Haltung und Bewegung des Mannes waren das<br />
gesenkte, ausdrucksvolle Gesicht eigentlich vermuten<br />
ließ. Die Lieder, die er jetzt spielte, waren<br />
abwechselnd heiter und dann wieder voll sanfter<br />
Wehmut. Wieder flüsterte mein kleiner Begleiter:<br />
„Du kannst aussteigen“.<br />
Wieder hatte ich das Gefühl, jede Bewegung<br />
dieses Mannes zu kennen, der Ton seiner Stimme<br />
schien mir vertraut. Und doch war er mir fremd.<br />
Mein Herz klopfte zum Zerspringen, als ich ihm<br />
langsam und etwas unsicher entgegenging. Er<br />
hatte sein Lied beendet und sah mich an und lächelte.<br />
„Ich dachte schon, du kommst heute gar nicht<br />
zur Stunde“, sagte er ein wenig vorwurfsvoll.<br />
„Ich wußte gar nicht, daß ich zur Klavierstunde<br />
kommen sollte“, entgegnete ich.<br />
Er schob mir einen Hocker an das Klavier, nahm<br />
mir meinen Mantel ab und strich mir mit großer<br />
Zärtlichkeit das Haar aus der Stirne.<br />
IGdA-aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (2009), Seite 12