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Heft 4 / 2008 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

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prosa<br />

Angelika Zöllner<br />

Magersüchtig<br />

Die Sicht aus meinem Fenster ist verengt.<br />

Balkongitter unterbrechen die Eindrücke,<br />

Stimmengewirre, Wortfetzen und<br />

Autogeräusche, die aufbrausen, dröhnen, Sirenengeheul,<br />

das sich entfernt.<br />

Der Tropf steht neben mir, drohend und verläßlich<br />

mit mir verbunden. Pling, pling. Gleichmäßig<br />

fallen die Tropfen. Muß ich aushalten, bis die<br />

Flasche zu Ende geht, eine neue befestigt wird –<br />

ein Kreislauf. Pling, Pling höre ich die Flüssigkeit<br />

klopfen nein, – hören kann ich sie nicht, sagt die<br />

Schwester – fühle ich sie trotzdem unter meiner<br />

dünnen Haut den Takt schlagen.<br />

„Aushalten“, sagt der Doktor. Warum soll ich<br />

weitermachen? Die Zähne zeigen? Gleichgültigkeit<br />

breitet sich aus, eine wattige Decke. So angenehm,<br />

dieses Fallenlassen in Unbestimmbares,<br />

Weiches.<br />

Damit ist es zu Ende. Das möchte ich nicht mehr,<br />

etwas erwarten von mir, weil andere Forderungen<br />

an mich stellen. Vielmehr dahinträumen will<br />

ich, mich gleiten lassen – diese unbeschreibliche<br />

Leichte, wenn Nahrung wegfällt, Flügel strecken<br />

und Atem holen, wenn die Zeit sich dehnt – weit<br />

hinaus über Enge und fremde Wünsche hinausfliegen<br />

aus Tag und Nacht.<br />

Einhalten soll ich. Eingehalten habe ich genug,<br />

auf Gewissenskissen gelegen und mir den Kopf<br />

durchgezirkelt, wie ich es den Eltern recht machen<br />

kann und wodurch. Schuldgefühle vor mir<br />

hergetragen, wenn ich Maßstäbe nicht auseinanderhalten<br />

konnte, ihnen Genüge tun in meiner Suche,<br />

sie zu verstehen. Ich sank in wiederholende<br />

Tagfehler. Immer vergaß ich trotz allem, etwas zu<br />

erledigen, redete den Erwachsenen hinein, weil<br />

ich nicht aufsparen konnte und warten, mischte<br />

mich in das Hin‐ und Herwerfen der Wörter und<br />

Gesprächsbälle – das Pingpongspiel der Erwachsenen,<br />

in dem Kinder nicht mithalten können und<br />

durchweg im Wege stehen. Morgen für Morgen<br />

trug ich mich schwerer aus dem Bett, so mühsam<br />

das Aufwachen aus verklebten Lidern und das<br />

Angehen von Bergen vor mir, die, kaum abgetragen,<br />

aufs Neue über den Kopf wachsen.<br />

Der Doktor sitzt an meinem Bett, weiß und<br />

streng. Ich soll essen. „Nein, Herr Doktor“, mit<br />

mir ist nicht mehr zu rech nen. Ich habe zu lange<br />

gehorcht. Ich schweige, lasse seinen Wortschwall<br />

wie einen Fluß über mich gleiten. Ich werde nichts<br />

mehr erwidern. Diesen Erwachsenen verweigere<br />

ich mich fortan. Ich kenne mich selbst nicht. Wie<br />

hätte ich mich kennen lernen sollen? Ich hab nicht<br />

auf mich gehört. Ich bin nur euch nachgezogen,<br />

hab mich an eure Füße geheftet. Leben? Das ist<br />

mir so gleich geworden. Das hab ich genug gehört.<br />

Leben können die anderen. Ich bin eine Tote<br />

unter ihnen, eine Mumie unter den wandelnden<br />

Leibern. Ich bin lebendig begraben. Zwieback<br />

steht auf meinem Teller, ein Brot. Ich habe keine<br />

Gelüste. Selbst wenn ich aufstehen könnte, wenn<br />

mich dieser Tropf nicht wie ein Gefängniswärter<br />

vereinnahmen würde – ich wollte nichts in mich<br />

hineinnehmen. Hineinstopfen würden sie es am<br />

liebsten. Aber ich bin genug abgefüllt. Ich kündige<br />

den Gehorsam.<br />

„Wenn Sie etwas Besonderes wünschen ...“ Sie<br />

würden mir jederzeit etwas bringen. Wenn ich nur<br />

wüßte, was ihnen daran liegt, mich zu erhalten.<br />

Viele Tage liege ich hier, eine Woche oder länger.<br />

Die Zeit schiebt sich vor mir her. Ich bin allein<br />

gewesen, so wunderbar allein. Niemand haben sie<br />

zu mir gelassen. Nicht die Eltern, nicht die neugierigen<br />

Gesichter anderer Menschen. Ich hatte herrliche<br />

Stille und wohnte in mir allein. Der Doktor<br />

schweigt jetzt, sagt kein Wort mehr, wenn er bei<br />

mir am Bett sitzt. Aber zweimal am Tag kommt er,<br />

prüft den Tropf und heftet seine schweren Blicke<br />

auf mich. Ich bin froh, wenn er geht.<br />

Heute haben sie mir eine Frau ins Zimmer gestellt.<br />

Eine Alte, die brabbelt. Sie redet fortwährend<br />

Wörter in sich hinein. Sie purzeln über die<br />

Bettdecke, erreichen mich nicht. Einen Schlaganfall<br />

hat sie gehabt, soviel hab ich verstanden. Nun<br />

laufen die Schwestern aus und ein, setzen ihre<br />

Füße und Freundlichkeiten übereinander. Mit der<br />

Alten kann man noch sprechen, mit mir nicht, Sie<br />

antwortet. Sie wird munterer. Sie ist schon zwei<br />

Stunden da. Die Worte sind dumpf, die Laute<br />

gestoßen. Sie richtet sich auf, drängt sich zu mir<br />

hinüber. Mädchen, versteh ich. Mädchen. Sie will<br />

etwas, das ich nicht verstehe. Sie ist unartikuliert.<br />

Ich spüre, wie ihre Not mir den Rücken hinab-<br />

IGdA-aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (2009), Seite 15

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