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Heft 4 / 2008 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

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prosa<br />

„Hast du denn schon vergessen“, fragte er,<br />

„wir wollten doch zusammen musizieren, wenn<br />

die Welt garstig zu dir ist und du sie nicht mehr<br />

magst.“ Es klang etwas vorwurfsvoll, aber doch<br />

gütig und liebevoll.<br />

„Ich kann aber doch gar nicht am Klavier spielen“,<br />

entgegnete ich, und mit einem kurzen Blick<br />

auf die Geige im offenen Kasten fügte ich hinzu<br />

„ich kann doch auch nicht Geige spielen!“<br />

Er lächelte noch immer und es war ein so strahlendes<br />

Lächeln, daß die ganze Welt um mich versank.<br />

„Natürlich kannst du es – wenn wir nur wollen<br />

und wenn wir beisammen sind“.<br />

Staunend sah ich ihn an.<br />

„Versuche es nur“, ermunterte er mich.<br />

„Lege deine Hände auf die meinen und du wirst<br />

sehen, es geht. Es ist, wie wenn man schreiben<br />

lernt.“ Er beugte sich zu meinem Ohr und sagte<br />

ganz leise, aber eindringlich:<br />

„Haben wir nicht immer gesucht, was es nicht<br />

gibt ? Haben wir uns nicht immer danach gesehnt ?“<br />

Nichts schien mir mehr unmöglich, nichts<br />

unerreichbar. Seine Hände lagen warm auf den<br />

meinen und wir spielten eine wundersame Melodie.<br />

Sie war zart und sehr bewegt und eine<br />

große Innigkeit lag in ihr. Es war das Lied des<br />

Windes in den Blättern eines Birkenwaldes an<br />

einem Aprilmorgen. Als wir geendet hatten,<br />

fragte ich ihn, was es denn gewesen wäre, was<br />

wir spielten.<br />

„Es war das Lied der Begegnung“, sagte er.<br />

„Wollen wir weiter spielen ?“<br />

Die zweite Melodie war stürmischer als die<br />

erste; lauter, fordernder, leidenschaftlicher, ungeduldiger,<br />

dann wieder tief und klar, ruhig und<br />

leidenschaftlich. Es war das Spiel zweier Wellen,<br />

die einander begegnen, verfolgen, ineinander<br />

fließen, einander fliehen, suchen, gegeneinander<br />

schlagen und wieder verebben.<br />

„Was haben wir jetzt gespielt“, fragte ich verwirrt.<br />

„Es war das Lied vom gemeinsamen Erleben!“<br />

Er lächelte wieder. „Die Musik ist eine Freundin.<br />

Sie verrät uns nie. Worte können uns verraten.“<br />

„Was spielen wir jetzt“, wollte ich wissen. Er<br />

sah mich ernst an und sagte: „Das letzte Stück“.<br />

Die Melodie war von unsagbarer Weichheit<br />

und Traurigkeit, durch die manchmal der Trost<br />

eines tiefen Friedens klang. Es war, als fiele das<br />

sanfte Licht des Mondes auf einen stillen Dorffriedhof,<br />

dessen Gräber der Sommer mit frischen<br />

Gartenblumen geschmückt hatte. Trotzdem<br />

spürte ich, wie sich meine Finger verkrampften<br />

und ich nicht mehr weiterspielen wollte und<br />

konnte. Ich schrie auf: „Was ist das, was wir jetzt<br />

spielen ?“<br />

„Es ist das Lied vom Vergehen, vom Abschied,<br />

von der Verlassenheit und der Seligkeit der Stille<br />

und von ...“<br />

Da begann ich wild zu schluchzen und schrie.<br />

„Ich kann nicht mehr !“<br />

„Vielleicht kann man das wirklich nicht“, sagte<br />

er und nach einer kurzen Pause sah er in mein tränennasses<br />

Gesicht und fügte hinzu „Aber es wäre<br />

das Schönste!“<br />

Er versuchte mich zu beruhigen. In mir war eine<br />

schmerzhafte Sehnsucht. Ich vergaß alles; wer ich<br />

war, woher ich kam, daß ich plötzlich wieder ein<br />

kleines Mädchen war, das sich auf die Zehenspitzen<br />

stellen mußte, um den Mann am Klavier zu<br />

umarmen. Ich tat es, drückte mein Gesicht an seine<br />

Schulter und sagte:<br />

„Komm doch mit mir! Komm doch bitte mit<br />

mir mit!“ Er machte sich sanft frei und sagte: „Das<br />

kann ich nicht. Aber unsere Lieder kann ich dir<br />

mitgeben.“<br />

Er führte mich zur Gondel, wir fuhren weiter.<br />

Mein kleiner Begleiter fragte mich, woran ich<br />

dachte.<br />

„Ich denke an das Lächeln der beiden. Noch niemals<br />

habe ich ein solches Lächeln gesehen!“<br />

„Es ist das Lächeln derer, die nicht mehr sind. Es<br />

ist kein eigentliches Lächeln. Es ist der Glanz ihres<br />

einmaligen, unwiederbringlichen Seins; das Licht<br />

dessen, was einmal in ihrem Herzen brannte; das,<br />

was unvergänglich ist.“ Darüber wollte ich nachdenken,<br />

war aber zu verwirrt und zu müde dazu.<br />

Nur fühlen wollte ich in diesem Moment.<br />

Wir kamen zum dritten Bild.<br />

Wieder stand ich vor einem erleuchteten Zimmer.<br />

In der Mitte stand ein kleines Bett, das meinen<br />

Blick fesselte. Es lag ein Kind darin, das erst<br />

wenige Monate alt war. Es sah uns mit großen, hellen<br />

Augen entgegen und spielte ernst mit seinem<br />

Daumen, als wäre er das Schönste und Wichtigste<br />

auf der Welt.<br />

„Ist das das Christkind“, frage ich.<br />

„Eigentlich nicht“, antwortete mein kleiner<br />

Freund. „Komm, wir wollen zu ihm gehen“.<br />

IGdA-aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (2009), Seite 13

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