Heft 4 / 2008 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
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essay<br />
befreien? Oder handelt es sich um eine modische<br />
Marotte, die lediglich für den „Augenblick“<br />
die Ungeübtheit des Auges, von oben<br />
nach unten zu lesen, nutzt? Bemerkbar in der<br />
Eintönigkeit des Untereinanderschreibens<br />
sind der Fettdruck („Korsett“), der verkleinerte<br />
Schriftgrad („Rückgrat“), die durchgehende<br />
Kleinschreibung und die fehlende<br />
Interpunktion.<br />
In allen Fassungen fallen die Zeilensprünge<br />
besonders auf, Zeilensprünge als Dissonanz, als<br />
Unpassung, als Spannung zwischen syntaktischer<br />
Einheit und Vers. Die syntaktische Einheit weist<br />
über das Versende hinaus und „springt“. Die Bezeichnung<br />
„Zeilensprung“ wird nicht einheitlich<br />
verwendet. Gleichwertig finden sich die Benennungen<br />
„Zeilenbruch“, „Verssprung“, „Enjambement“.<br />
Sicherlich kann der Vorgang von Fall zu<br />
Fall und von Person zu Person unterschiedlich als<br />
„Bruch“, als „Sprung“ oder als „Hinüberschreiten“<br />
gemeint sein und empfunden werden.<br />
Die Zeilensprünge im Verbund mit den weiteren<br />
hier angewandten Signalen (Lücke im Versfluß,<br />
Großschreibung am Versanfang, Kursivschrift,<br />
Fettdruck, Wechsel der Schriftgröße, Mittelachse,<br />
Kleinschreibung, Interpunktion) spielen mit der<br />
Möglichkeit unterschiedlicher inhaltlicher Akzentsetzungen.<br />
Das so inszenierte Spannungsverhältnis<br />
zwischen Vers- und Sinngliederung eröffnet<br />
stilistische Möglichkeiten. Und zu einer besonderen<br />
Herausforderung wird dabei die Lautgestalt<br />
des Lesens, wird der Leserhythmus mit seiner akzentuierenden<br />
und sinngestaltenden Kraft.<br />
Zusammenfassend zu unserem Veranschaulichungsbeispiel:<br />
Die vier freiversigen Varianten<br />
ein und desselben Textes (ohne Wortumstellung)<br />
setzen sich von der Prosasatzmelodie ab und unterscheiden<br />
sich darüber hinaus untereinander<br />
derart, daß sie je eigene Lautgestalten herausfordern.<br />
Demnach ergibt die graphische Textgestalt<br />
freier Verse doch eine Art „Ohrbild“. Und mit<br />
dem Probieren verschiedener Lautgestalten und<br />
somit verschiedener inhaltlicher Akzentsetzungen<br />
klopfe ich den Text zugleich auf die Frage ab:<br />
Ist er für mich hinreichend „sinnintensiv“ (Elke<br />
Austermühl)?<br />
Wie die Lautgestalten allerdings letztlich klingen<br />
sollten, ist nicht zu systematisieren. Darüber<br />
entscheidet ... ja, unsere Eingangsfrage lautete:<br />
Wie lesen Sie Gedichte, die in freien Versen geschrieben<br />
sind?<br />
Vielleicht spielen Sie diese Frage mit eigenen<br />
– bereits fertigen oder in der Entstehung begriffenen<br />
– Texten durch? – Das könnte spannend<br />
werden.<br />
Übrigens in seinem „Produktiven Umgang mit<br />
Lyrik“ sagt Günter Waldmann zum freien Vers:<br />
„Der freie Vers ist anerkanntermaßen mit seinen<br />
zahlreichen lautlichen, visuellen und sprachlichen<br />
Funktionen eine sprachgerechte, nicht<br />
künstlich beengte literarische Form, die nachhaltiges<br />
und aussagestarkes lyrisches Sprechen in<br />
vielerlei Gestalten erlaubt ...“ (Schneider Verlag<br />
Hohengehren, 8/2003, S. 20).<br />
Rainer Hengsbach-Parcham<br />
Werden Schriftsteller immer ersetzbarer?<br />
Dichter und Schriftsteller waren stets kreative<br />
Künstler, sowohl zu Zeiten Goethes und Schillers<br />
wie zu Zeiten Brechts und Benns. Und auch<br />
noch ein Günter Kunert oder Günter Grass haben<br />
Kreatives hinterlassen. Es ist heute kaum<br />
mehr vorstellbar, daß schöpferische Menschen<br />
die längste Zeit in der Geschichte ihre Werke<br />
mit der Feder zu Paper brachten und beim Verlag<br />
ablieferten. Erst spät gab es für Schriftsteller<br />
Hilfsmittel, und die Schreibmaschine Nietzsches<br />
mutet heute höchst vorsintflutlich an, auch wenn<br />
sie für den Autor seinerzeit ein großer Fortschritt<br />
war.<br />
Wie aber sieht es heute aus? Heute: das heißt<br />
bei den Schriftstellern und Dichtern, die derzeit<br />
– sagen wir 30 Jahre alt sind oder jünger; bei den<br />
Jahrgängen, die bereits in der Schulzeit mit dem<br />
PC und seinen Segnungen vertraut gemacht<br />
IGdA-aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (2009), Seite 24