Heft 4 / 2008 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
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Prosa<br />
fernen Utopia und bin auf dem Weg nach Nirgendwo.<br />
Heute bin ich bei euch und morgen<br />
– wer weiß, wohin mein Faß mich rollt.“ Seine<br />
Stimme wird leiser.<br />
„Abends, wenn ich in meinem Faß einschlafe,<br />
dann fängt es an zu rollen und bringt mich an<br />
einen neuen Platz. Ich weiß vorher nie, wohin<br />
meine Reise mich führt. Einzig die Tonne bestimmt<br />
das Ziel.“<br />
Die Rasselbande hat ihm aufmerksam zugehört<br />
und steht staunend mit halboffenen Mündern<br />
da. Sie sind verunsichert.<br />
Dann nimmt er ihnen den Wind vollends aus<br />
den Segeln. „Ich mache euch einen Vorschlag.<br />
Ich nehme euch mit auf meine Reise. Ihr dürft in<br />
meiner Tonne heute Abend mitrollen.“<br />
Begeisterung und Neugierde haben die Zweifel<br />
endgültig besiegt. Moni, Susi, Toni und Berti<br />
strahlen. Mit ihren Gedanken sind sie bereits<br />
nach fremden Ländern und großen Abenteuern<br />
unterwegs.<br />
Nur Ludwig schaut traurig. „Ich kann nicht<br />
mitkommen. Ich muß abends zu Hause sein.<br />
Und meine Eltern lassen mich bestimmt nicht<br />
über Nacht weg. Außerdem, ich habe alle meine<br />
Brote aufgegessen. Und keine Schokolade<br />
dabei. Was sollen wir denn essen?“ Vorwurfsvoll<br />
schaut er auf den Mann im Faß. „Du hast<br />
ja nichts dabei!“ Der Moment stülpt auch den<br />
anderen die Realität wieder über.<br />
„Stimmt, wir können nicht einfach mit dir<br />
mitkommen. Wir müssen zuerst unsere Eltern<br />
fragen, ob wir mit dürfen.“, stellen übereinstimmend<br />
Toni und Berti fest.<br />
„Und ihr müßt was zu Essen von zu Hause<br />
mitnehmen.“, ergänzt der immer hungrige<br />
Ludwig.<br />
„Ach was. Laßt uns einfach einsteigen und<br />
losrollen“, beschließen die Mädchen.<br />
„Nein, nein. Ihr müßt euern Eltern Bescheid<br />
sagen und sie um Erlaubnis bitten. Ich kann<br />
nicht sagen, wann die Tonne hier wieder vorbeirollen<br />
wird, so daß ihr nach Hause gehen<br />
könnt. Es kann eine sehr lange Reise werden.<br />
Vielleicht sogar für immer?“<br />
So plötzlich, wie sich der Vogel der Begeisterung<br />
erwartungsvoll auf den Ast gesetzt hatte,<br />
so schnell breitet er nun seine Flügel aus und<br />
fliegt davon. Nun ist dieses Abenteuer für die<br />
Kinder zu groß geworden.<br />
Sie verabschieden sich von dem Mann im Faß<br />
und versprechen morgen wiederzukommen. Er<br />
bleibt den Rest des Tages ihr Geheimnis und<br />
Gesprächsthema. Auch in dieser Nacht haftet<br />
der Spuk des rollenden Fasses an ihren Träumen.<br />
Nach dem Frühstück macht sich die Gruppe<br />
der Kinder auf, um nach dem Mann im Faß zu<br />
schauen. Mit schnellen Schritten geht die Erwartung<br />
auf kurzen Füßen zielstrebig zu dem<br />
Ort, an dem gestern der Philosoph ruhte.<br />
Der Platz ist leer. Das Faß und der Mann sind<br />
verschwunden.<br />
Berti deutet auf eine Schleifspur im Sand. „Er<br />
ist mit seinem Faß nach Nirgendwo weitergerollt.“<br />
Gabriela Franze<br />
Freitag, der 13.<br />
Ich liebe Regen. Regenwetter birgt in sich eine<br />
ganz eigene Stimmung: angenehme Kühle,<br />
beruhigende Geräusche, weichgezeichnete<br />
Konturen, Wahnsinnsluft, Tropfen auf der Haut.<br />
Bin ich deswegen abartig? Möglicherweise.<br />
Möglicherweise aber auch nicht. Regen macht<br />
nämlich auch mich melancholisch. Für jemanden<br />
mit meiner Mentalität an sich nichts Ungewöhnliches.<br />
Ungarn haben, entgegen der gängigen,<br />
zum Gähnen ausgeleierten Touristenklischees,<br />
nicht Paprika im Südpol. Wer die alten Zigeunerweisen<br />
kennt, der ahnt: Ungarn sind eine<br />
Mischung aus Melancholie und Leidenschaft,<br />
Kraft und Hingabe, Leben bis zur Neige, stilles<br />
Wasser und Strudel. Die Palette reicht von himmelhoch<br />
jauchzend bis Selbstmord. Je nachdem.<br />
Das Leben kann voller überraschender Wendun-<br />
IGdA-aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (2009), Seite 20