23.01.2014 Aufrufe

Heft 4 / 2008 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

Heft 4 / 2008 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

Heft 4 / 2008 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Prosa<br />

fernen Utopia und bin auf dem Weg nach Nirgendwo.<br />

Heute bin ich bei euch und morgen<br />

– wer weiß, wohin mein Faß mich rollt.“ Seine<br />

Stimme wird leiser.<br />

„Abends, wenn ich in meinem Faß einschlafe,<br />

dann fängt es an zu rollen und bringt mich an<br />

einen neuen Platz. Ich weiß vorher nie, wohin<br />

meine Reise mich führt. Einzig die Tonne bestimmt<br />

das Ziel.“<br />

Die Rasselbande hat ihm aufmerksam zugehört<br />

und steht staunend mit halboffenen Mündern<br />

da. Sie sind verunsichert.<br />

Dann nimmt er ihnen den Wind vollends aus<br />

den Segeln. „Ich mache euch einen Vorschlag.<br />

Ich nehme euch mit auf meine Reise. Ihr dürft in<br />

meiner Tonne heute Abend mitrollen.“<br />

Begeisterung und Neugierde haben die Zweifel<br />

endgültig besiegt. Moni, Susi, Toni und Berti<br />

strahlen. Mit ihren Gedanken sind sie bereits<br />

nach fremden Ländern und großen Abenteuern<br />

unterwegs.<br />

Nur Ludwig schaut traurig. „Ich kann nicht<br />

mitkommen. Ich muß abends zu Hause sein.<br />

Und meine Eltern lassen mich bestimmt nicht<br />

über Nacht weg. Außerdem, ich habe alle meine<br />

Brote aufgegessen. Und keine Schokolade<br />

dabei. Was sollen wir denn essen?“ Vorwurfsvoll<br />

schaut er auf den Mann im Faß. „Du hast<br />

ja nichts dabei!“ Der Moment stülpt auch den<br />

anderen die Realität wieder über.<br />

„Stimmt, wir können nicht einfach mit dir<br />

mitkommen. Wir müssen zuerst unsere Eltern<br />

fragen, ob wir mit dürfen.“, stellen übereinstimmend<br />

Toni und Berti fest.<br />

„Und ihr müßt was zu Essen von zu Hause<br />

mitnehmen.“, ergänzt der immer hungrige<br />

Ludwig.<br />

„Ach was. Laßt uns einfach einsteigen und<br />

losrollen“, beschließen die Mädchen.<br />

„Nein, nein. Ihr müßt euern Eltern Bescheid<br />

sagen und sie um Erlaubnis bitten. Ich kann<br />

nicht sagen, wann die Tonne hier wieder vorbeirollen<br />

wird, so daß ihr nach Hause gehen<br />

könnt. Es kann eine sehr lange Reise werden.<br />

Vielleicht sogar für immer?“<br />

So plötzlich, wie sich der Vogel der Begeisterung<br />

erwartungsvoll auf den Ast gesetzt hatte,<br />

so schnell breitet er nun seine Flügel aus und<br />

fliegt davon. Nun ist dieses Abenteuer für die<br />

Kinder zu groß geworden.<br />

Sie verabschieden sich von dem Mann im Faß<br />

und versprechen morgen wiederzukommen. Er<br />

bleibt den Rest des Tages ihr Geheimnis und<br />

Gesprächsthema. Auch in dieser Nacht haftet<br />

der Spuk des rollenden Fasses an ihren Träumen.<br />

Nach dem Frühstück macht sich die Gruppe<br />

der Kinder auf, um nach dem Mann im Faß zu<br />

schauen. Mit schnellen Schritten geht die Erwartung<br />

auf kurzen Füßen zielstrebig zu dem<br />

Ort, an dem gestern der Philosoph ruhte.<br />

Der Platz ist leer. Das Faß und der Mann sind<br />

verschwunden.<br />

Berti deutet auf eine Schleifspur im Sand. „Er<br />

ist mit seinem Faß nach Nirgendwo weitergerollt.“<br />

Gabriela Franze<br />

Freitag, der 13.<br />

Ich liebe Regen. Regenwetter birgt in sich eine<br />

ganz eigene Stimmung: angenehme Kühle,<br />

beruhigende Geräusche, weichgezeichnete<br />

Konturen, Wahnsinnsluft, Tropfen auf der Haut.<br />

Bin ich deswegen abartig? Möglicherweise.<br />

Möglicherweise aber auch nicht. Regen macht<br />

nämlich auch mich melancholisch. Für jemanden<br />

mit meiner Mentalität an sich nichts Ungewöhnliches.<br />

Ungarn haben, entgegen der gängigen,<br />

zum Gähnen ausgeleierten Touristenklischees,<br />

nicht Paprika im Südpol. Wer die alten Zigeunerweisen<br />

kennt, der ahnt: Ungarn sind eine<br />

Mischung aus Melancholie und Leidenschaft,<br />

Kraft und Hingabe, Leben bis zur Neige, stilles<br />

Wasser und Strudel. Die Palette reicht von himmelhoch<br />

jauchzend bis Selbstmord. Je nachdem.<br />

Das Leben kann voller überraschender Wendun-<br />

IGdA-aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (2009), Seite 20

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!