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Heft 4 / 2008 - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

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Essay<br />

Hermann Wischnat<br />

Freie Verse lesen?<br />

Wie lesen Sie Gedichte, die in freien Versen geschrieben<br />

sind? Gemeint ist insbesondere auch<br />

das laute Lesen, also das Umsetzen des freiversigen<br />

Sprachgebildes in eine Lautgestalt.<br />

In der Lesepraxis wird dem Hörer, der den<br />

Text visuell verfolgen kann, in der Regel schnell<br />

deutlich, welche Funktion der Leser der Zeile,<br />

bzw. dem Vers zumißt. Anscheinend ist es entscheidend,<br />

ob im Lesevorgang das Zeilenende<br />

– verflüssigend oder (meist) stauend – als Zäsur<br />

berücksichtigt wird oder nicht. Wenn nicht, geht<br />

das Lesen in die vertraute syntaktisch gesteuerte<br />

Lautgestalt über, selbst wenn optische Signale<br />

eher dagegen sprechen. Das ist lesetechnisch bei<br />

„verschrobenen“ Freiversen oft gar nicht einfach.<br />

Ist demnach das Untergliedern eines Textes<br />

in freie Verse nur ein „äußeres, rein formales<br />

Merkmal“ (M. Andreotti) – also nur visuell zu<br />

orten –, und läuft das Lesen – ungeachtet der<br />

Untergliederungsvarianten – in der Satzmelodie<br />

eines Prosatextes ab, sobald das Auge die<br />

Verse sortiert und geordnet hat? Oder ergibt die<br />

graphische Gestaltung doch ein – oder gar das<br />

– „Ohrbild“ (Arno Holz) des Textes, das lesend<br />

„abzubilden“ ist?<br />

Vielleicht läßt sich die Frage an einem zunächst<br />

in Prosa abgedruckten Text veranschaulichen,<br />

den ich viermal in freie Zeilen umstelle, in freie<br />

Verse breche: „Früh legten sie ihm ein Korsett an<br />

und sagten, das sei sein Rückgrat.“<br />

1.<br />

Früh<br />

legten sie ihm<br />

ein Korsett an und sagten, das sei sein Rückgrat.<br />

2.<br />

Früh legten sie ihm<br />

Ein Korsett an und sagten,<br />

Das<br />

Sei sein Rückgrat.<br />

4.<br />

früh<br />

legten<br />

sie<br />

ihm<br />

ein<br />

korsett<br />

an<br />

und<br />

sagten<br />

das<br />

sei<br />

sein<br />

rückgrat<br />

3.<br />

Früh legten sie ihm ein<br />

Korsett<br />

an und sagten, das sei sein<br />

Rückgrat.<br />

Im Wechselverhältnis zwischen Inhalt und<br />

Form wird in diesen Beispielen durch die Änderung<br />

der Form der Inhalt je anders akzentuiert.<br />

1. In der ersten Fassung fallen die Worte „Früh“,<br />

„ihm“ und „Rückgrat“ auf. Wird „ihm“ also<br />

hier „früh“ das „Rückgrat“ gebrochen? Sind<br />

Zeilenbruch und Rückgratbruch als Assoziation<br />

vielleicht sogar übertrieben?<br />

2. In der zweiten Fassung läuft die Textgestaltung<br />

demonstrativ auf „Das“ zu. Die Großbuchstaben<br />

am Zeilenanfang betonen die<br />

Versfunktion der Zeilen. Die Verse beanspruchen<br />

demnach bei aller syntaktischen Vernetzung<br />

eine besondere Sinnfunktion. Angemerkt<br />

sei der heute häufige Einwand,<br />

Großbuchstaben am Zeilenanfang seien nur<br />

noch eine funktionslose Traditionalisme.<br />

3. Die dritte Fassung ist zentriert gestaltet. Sie<br />

signalisiert die „Mittelachse“ (Arno Holz), die<br />

zentral die Sinnworte – „sie“ / „Korsett“ / „sagten,<br />

das“ / „Rückgrat“ – trifft oder sammelt.<br />

4. Die vierte Fassung: – Macht sie ernst mit der<br />

Absicht, das einzelne Wort vom Satzzwang<br />

und vom (metrischen) Verszwang zugleich zu<br />

IGdA-aktuell, <strong>Heft</strong> 1 (2009), Seite 23

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