Was ist eigentlich normal? „Krankheit ist immer eine Krise, und jede Krise will Entwicklung. Jeder Versuch, den Stand vor einer Erkrankung wieder zu erreichen, ist naiv oder dumm. Krankheit will weiterführen zu neuen, unbekannten und ungelebten Ufern – erst wenn wir diesem Aufruf bewusst und freiwillig folgen, verleihen wir der Krise Sinnhaftigkeit.“ Dethlefsen, Thorwald/Dahlke, Rüdiger 1989, 115f: Krankheit als Weg. Deutung und Bedeutung der Krankheitsbilder. München. Wenn ich diese Zeilen während meiner Erkrankung gelesen hätte, dann hätte ich mit diesen Worten <strong>nicht</strong> viel anfangen können. Denn wo soll ich einen Sinn sehen, wenn ich die meiste Zeit im Krankenzimmer verbringen muss, wenn ich die Chemotherapie über mich ergehen lassen muss, wenn ich die Folgeerscheinungen der Chemotherapie aushalten muss, wenn ich mit der eingeschränkten Beweglichkeit nach den Operationen ans „Bett gefesselt bin“, immer auf <strong>Hilfe</strong> anderer angewiesen bin und nur selten die Chance habe, das zu machen, was ich im Augenblick will? Sechs Jahre später kann ich mit den Zeilen etwas anfangen, denn die Zeit der Krankheit hat auch mich in meiner Entwicklung weitergebracht. Ich sehe heute die <strong>Krebs</strong>erkrankung aus einem anderen Blickwinkel, es sind <strong>nicht</strong> mehr so stark die Gefühle präsent, die ich hatte, als ich die Zeit im Krankenzimmer verbrachte, auch <strong>nicht</strong> mehr der Zustand nach einer OP, <strong>nicht</strong> mehr das Abhängigkeitsgefühl gegenüber dem Arzt, den Schwestern, der Chemotherapie oder das Gefühl der Hilflosigkeit, weil man allein <strong>nicht</strong>s schafft. Heute sehe ich die Zeit der Krankheit im Zusammenhang mit meinem Leben vorher und dem Leben nachher. Die Zeit der <strong>Krebs</strong>erkrankung ist ein Teil meines Lebens, die Erfahrungen während dieser Zeit und in der Zeit danach, also dem Wiedereinstieg ins „normale Leben“, haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Heute schöpfe ich aus der überstandenen Krankheit Kraft, die Krankheit hat mir wieder Lebensgefühl gegeben, sie hat mir gezeigt, dass es einen Sinn hat zu kämpfen. Erst durch die Zeit der Krankheit habe ich gesehen: Ich bin <strong>nicht</strong> alleine – wie ich immer glaubte – nein, es sind Menschen für mich da, denen ich wichtig bin, die froh sind, dass es mich gibt, die mir beistehen, wenn es mir schlecht geht. Diese Menschen haben mir Kraft gegeben, haben in mir wieder das Feuer des Lebens angeheizt, das schon im Erlöschen bei mir war. Ich habe dann wieder ein Ziel im Leben gesehen, wofür es sich lohnt zu leben, und das hat Kräfte in mir mobilisiert, um die Krankheit zu überwinden. Wenn ich heute davon spreche, dass die überwundene Krankheit mir Kraft zum Weiterleben gibt, dann war das <strong>nicht</strong> immer so, denn die erste Zeit nach der Krankheit war auch <strong>nicht</strong> leicht, sondern teilweise schmerzhaft und hat mir ein Gefühl der Orientierungslosigkeit gegeben. Auf einmal wieder ins „normale Leben“ gestoßen zu werden, mich wieder mit Dingen auseinan- 70 •
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