Aufgeben gibt's nicht. - Ãsterreichische Kinder-Krebs-Hilfe
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Meine Schwester hat Scharlach und wird ausquartiert<br />
zur Oma. Es tut mir so leid – ich wollte dir <strong>nicht</strong> deine<br />
Mutter nehmen.<br />
Tage später und später und später. Wieder im Bett im<br />
Krankenhaus. Die Zeit verliert ihre Bedeutung als vierte<br />
Dimension. Es ist wie Tauchen, Fliegen – Schweben,<br />
durch einen Dornenwald, ohne oben und unten, ohne<br />
vorne und hinten, links und rechts. Was war vorher, vor<br />
den Schmerzen? Was kommt danach? Wird nachher wie<br />
vorher sein? Einzig die Nadelstiche dienen als Orientierungspunkte.<br />
Venphlon stechen. Rückenmarkspunktion.<br />
Knochenmarkspunktion. Intramuskukäre Injektionen<br />
von Asparaginase: noch hundert, noch neunundneunzig,<br />
noch achtundneunzig, noch siebenundneunzig,<br />
noch neunzig.<br />
Der Arzt hat sich beim Venen punktieren zweimal verstochen.<br />
Tut mir leid, Herr Doktor, dass ich so viele Venenklappen<br />
habe, und Ihnen das Stechen damit so schwer<br />
mache.<br />
Zusammengekrümmt liege ich da, wie ein Embryo im<br />
Mutterleib. So sind die Schmerzen am erträglichsten.<br />
Bloß <strong>nicht</strong> aufstehen müssen. Bloß <strong>nicht</strong> aufstehen<br />
müssen. Morgen darf ich heim!!! Schnell raus, <strong>nicht</strong>s<br />
wie weg.<br />
Tage später? Wieder liege ich im Bett. Meine Mutter<br />
gibt mir ein Zäpfchen. Barbiturat – eigentlich schon so<br />
gut wie längst verboten, macht höchstgradig abhängig.<br />
Was soll’s, die armen <strong>Kinder</strong>, da ist es eh schon so gut<br />
wie längst egal. Gebt’s ihr halt, in Gottes Namen. Danke,<br />
Herr Doktor! Schmerzen weg, Morpheus da. Stunden<br />
oder Tage später wache ich auf aus einer Art permanentem<br />
Dämmerzustand. Draußen ist Nacht. Meine<br />
Eltern schlafen, meine Schwester wohl auch. Da ist er<br />
wieder, der Schmerz. Und die Verzweiflung. Will ich das<br />
echt noch mit mir machen lassen? Reicht es <strong>nicht</strong> eigentlich<br />
schon längst? Und was, wenn dann doch alles<br />
nur umsonst gewesen ist? Die Schmerzen, die Demütigungen,<br />
wieder zum Kleinkind gemacht worden zu sein,<br />
das In-mich-selbst-Verschließen? Und wenn der <strong>Krebs</strong><br />
gewinnt?<br />
NEIN! Ich will erleben, wie Johanna aufwächst. Will sie<br />
leben sehen – und mich selbst auch. Will sehen, was<br />
daraus wird. Will lachen, weinen, schreien, singen, das<br />
Leben spüren – mit meiner Schwester und anderen.<br />
Damals habe ich beschlossen zu leben.<br />
Ich könnte nun schreiben, dass der <strong>Krebs</strong> in den 13 Jahren,<br />
die seither vergangen sind, in meinem Leben immer<br />
noch eine Rolle spielt, obwohl er äußerlich keine Spuren<br />
hinterlassen hat. Es aber immer noch Erinnerungen<br />
gibt, die aufzuarbeiten sind: Trauer, Ärger, Aggression.<br />
Manchmal glaube ich, dass der <strong>Krebs</strong> mir das Leben gerettet<br />
hat, indem er es verändert hat, mich selbst verändert<br />
hat, näher zu mir gebracht hat. Die Erfahrung<br />
dieser todbringenden Krankheit mich intensiver leben<br />
lässt, es Momente gibt, in denen ich mir denke, dass allein<br />
dafür sich das Ganze gelohnt hat.<br />
Die Rückkehr zur „Normalität“ ist für mich eine Illusion<br />
– weniger im Handeln, Funktionieren, als vielmehr im<br />
Denken und Erleben. Ich könnte darüber Bücher schreiben.<br />
Es wäre doch nur eine Ansammlung von Überlegungen.<br />
Den Kern der Erfahrung aber kann ich <strong>nicht</strong><br />
beschreiben, es ist ein Gefühl, das sich <strong>nicht</strong> benennen<br />
lässt, <strong>nicht</strong> durch Worte weitergegeben werden kann.<br />
Es ist etwas Persönliches, Intimes, das mich als Mensch<br />
ausmacht – und kann <strong>nicht</strong> einfach so mit anderen geteilt<br />
werden.<br />
Eine <strong>Krebs</strong>erkrankung samt Folgen hat viele Facetten.<br />
Die sich für jeden Betroffenen anders gestalten. Mich<br />
hat sie im tiefsten Inneren erschüttert, lässt mich an<br />
manchem zweifeln und an anderes wieder stärker glauben.<br />
Sie hat mich aus der Bahn geworfen und mich<br />
selbst neu sortieren, orientieren lassen. Es hat funktioniert<br />
– bei mir.<br />
Eva-Maria Casata (28 Jahre)<br />
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