Wahlkampf-Strategien 2013 – Das Hochamt der Demokratie
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Komplexes. Er wurde nicht aus Böswilligkeit o<strong>der</strong> konträren Interessen „nie<strong>der</strong>geschrieben“.<br />
Wohl aber fehlte es an Neigung und Bereitschaft zur gegenläufigen<br />
Lektüre. Wenn <strong>der</strong> „Spiegel“ im Januar dieses Jahres schreibt, auf Steinbrücks<br />
Pinot-Grigio-Spruch bei einer Matinee des „Cicero“ bezogen, „<strong>der</strong> Connaisseur mit<br />
dem exquisiten Geschmack ist auch nicht gerade eine Standardrolle <strong>der</strong> Sozialdemokratie“,<br />
spricht das Magazin aus, was es verschweigen will: dass Wahlkämpfe<br />
hohe Zeiten <strong>der</strong> Rollenproduktion sind, dass diese Produktion auf Standards erpicht<br />
ist und standardisiert verläuft und dass die Medien solche entindividualisierenden<br />
Standards weitertragen.<br />
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Angela Merkel wie<strong>der</strong>um scheint Herrin ihrer Symbolproduktion zu sein <strong>–</strong> wie schon<br />
im <strong>Wahlkampf</strong> 2005. Damals plau<strong>der</strong>te sie mit <strong>der</strong> Frauenzeitschrift „Brigitte“<br />
über die Knappheit an „Apfel- und Kirschmost“ in Kindheitstagen. <strong>Das</strong> vermeintlich<br />
Persönliche öffnete sofort einen gewaltigen symbolischen Echoraum: Merkel,<br />
Bürgerin <strong>der</strong> Mangelwirtschaft in <strong>der</strong> DDR. Nun, anno <strong>2013</strong>, erzählte sie wie<strong>der</strong>um<br />
<strong>der</strong> „Brigitte“, sie rühre im Kochtopf, ohne sich dabei als Kanzlerin zu fühlen. In<br />
<strong>der</strong> DDR habe sie „Kirschwodka“ genossen und bei Discoparties darauf geachtet,<br />
das staatlicherseits vorgeschriebene Mischungsverhältnis von „sechzig zu vierzig“<br />
zwischen Ost- und Westmusik einzuhalten. Merkel ist demnach auch Hausfrau und<br />
war demnach auch Staatsbürgerin, die sich in <strong>der</strong> Diktatur durchschlug und durchkam,<br />
wie so viele an<strong>der</strong>e auch. Gerade mit diesen Versatzstücken einer persön -<br />
lichen Biographie wird das Individuelle zum Paradigma einer allgemeinen<br />
Biographie. Indem sie sich scheinbar öffnet, schließt sie sich ab vor allzu persönlichen<br />
Zudringlichkeiten und öffnet den Medien das weite Feld <strong>der</strong> symbolischen<br />
Rede. Diese griffen beherzt zu.<br />
Divergierende Lesarten wurden in erstaunlicher Geschlossenheit als nichterzählbar<br />
ausgeson<strong>der</strong>t. Natürlich lässt sich die öffentliche Persönlichkeit Merkel auch<br />
mit den von ihr bereitwillig gelieferten biographischen Versatzstücken symbolisch<br />
verdichten. Bemerkenswert ist es aber schon, dass an<strong>der</strong>e Anfragen rasch und roh<br />
vom Tisch gefegt wurden. Die Geschichte von Merkel, <strong>der</strong> Karrieristin, ließe sich<br />
zumindest versuchsweise erzählen, ebenso die Geschichte von <strong>der</strong> zweimaligen<br />
Systemgewinnerin. Diese Geschichten müssen den dominierenden Lesarten nicht<br />
überlegen sein; aber sie hätten eine größere Aufmerksamkeit verdient, allein schon<br />
aus demokratiehygienischen Gründen.<br />
Fast unisono haben die meisten Medien aber Gertrud Höhlers („Die Patin“) durchaus<br />
ruppigen Versuch, Merkel einen „zentralistisch-autokratischen Politikstil“<br />
nachzuweisen, als persönliche Retourkutsche aus gekränkter Eitelkeit abqualifiziert.<br />
Kaum besser erging es Ralf Georg Reuth und Günther Lachmann („<strong>Das</strong> erste Leben