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journal Psychotherapeuten - Psychotherapeutenkammer NRW

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Körperbilddiagnostik<br />

Therapiestunde (Henningsen/München,<br />

Sauer/Heidelberg und Gündel/Hannover).<br />

1.2 Einsatz der Körperbilddiagnostik<br />

Methoden zur Diagnostik des Körpererlebens<br />

können zur Therapievorbereitung<br />

und Therapiebegleitung sowie zur wissenschaftlichen<br />

Evaluation eingesetzt werden.<br />

Häufig verwendete Verfahren, wie der Gießener<br />

Beschwerdebogen (Brähler, Hinz &<br />

Scheer, 2008) und die Symptomcheckliste<br />

nach Derogatis (Franke, 2002) prüfen<br />

zwar das Vorhandensein körperlicher<br />

Symptome, lassen jedoch wesentliche Aspekte<br />

des Körperbildkonstruktes unberücksichtigt.<br />

Thompson (2004) und Röhricht<br />

(2009) wiesen auf die Komplexität und<br />

Multidimensionalität des Körperbildes und<br />

die sich daraus ergebenden methodischen<br />

Konsequenzen hin. So liegt ein häufig<br />

auftretender Mangel in der unzureichenden<br />

Passung zwischen dem mit einem<br />

bestimmten diagnostischen Instrument<br />

erfassbaren Daten und den in der Fragestellung<br />

behandelten Teilaspekten des Körpererlebens.<br />

Die Multidimensionalität des<br />

Konstrukts erfordert also den gleichzeitigen<br />

Einsatz mehrerer Erhebungsmethoden,<br />

wie z. B. Fragebögen und projektive<br />

Verfahren, um die komplexen Phänomene<br />

der Leiberfahrung annähernd akkurat abbilden<br />

zu können. Ebenso sollten immer<br />

auch objektive Körpermaße, wie der BMI<br />

erhoben werden, um die Vergleichbarkeit<br />

innerhalb einer Kohorte zu sichern (Röhricht,<br />

2009).<br />

1.3 In der Praxis<br />

Unserer Einschätzung nach werden spezifische<br />

Diagnoseinstrumente zur Erfassung<br />

des Körperbilds überwiegend im<br />

stationären Bereich und auch dort eher in<br />

spezialisierten Einrichtungen systematisch<br />

eingesetzt. Gründe hierfür mögen der in<br />

Kliniken übliche interdisziplinäre Ansatz<br />

und die größere Nähe zur Forschung sein,<br />

welche eine schnellere Umsetzung von<br />

gesamtgesellschaftlichen Tendenzen, wie<br />

im Moment den Trend hin zum Körper,<br />

erlaubt. Einige körperpsychotherapeutische<br />

Verfahren, die ambulant meist im<br />

Nichtkassen-Bereich agieren, entwickelten<br />

eigene Diagnoseinventare, wie z. B.<br />

die Konzentrative Bewegungstherapie<br />

den Gruppenerfahrungsbogen für die KBT<br />

(GEB-KBT; Seidler, 1995) oder die KBT-<br />

Körperwahrnehmungsskalen (Schreiber-<br />

Willnow, 2009, unveröff. Mitteilung/Lit.<br />

verz.: Vortrag Dresdener Körperbildwerkstatt<br />

2009).<br />

Was den niedergelassenen Bereich betrifft,<br />

können wir nur vorsichtige Schätzungen<br />

anstellen. Einige der körperbezogen arbeitenden<br />

Kollegen haben sicher einen Vorrat<br />

an entsprechenden Fragebögen oder anderen<br />

Instrumenten, wobei sie vermutlich<br />

eher eine Ausnahme darstellen. Organisatorische<br />

und zeitliche Zwänge behindern<br />

eine fundierte Diagnostik, insbesondere<br />

da die Auswertung vieler Verfahren sehr<br />

umfangreich ist. Deshalb sollten bei der<br />

Entwicklung zukünftiger Instrumente ökonomische<br />

Aspekte, insbesondere im Hinblick<br />

auf den klinischen Anwendungsbereich,<br />

eine größere Rolle spielen. Stünden<br />

Auswertungsschablonen oder die Ermittlung<br />

einfacher Summenwerte zur Verfügung,<br />

fänden körperdiagnostische Verfahren<br />

sicher auch im ambulanten Bereich<br />

eine größere Verbreitung. Auch die Kooperationsbereitschaft<br />

der Entwickler könnte<br />

gefragt sein, indem sich diese bspw. zur<br />

Auswertung der von niedergelassenen Kollegen<br />

erhobenen Daten bereit erklären.<br />

Insgesamt ist eine Eingangs- und Verlaufsdiagnostik<br />

des Körperbildes sehr wünschenswert<br />

und sollte möglichst schon vor<br />

dem ersten Antrag in die Anamneseerhebung<br />

integriert werden. Ein Beispiel für ein<br />

mögliches Vorgehen in diese Richtung ist<br />

Bielefeld (1986), welcher den Begriff der<br />

Körperbiographie prägte (siehe Absatz<br />

5.1.1). Eine umfassende Anamneseerhebung<br />

sollte lebensgeschichtliche Schwellensituationen<br />

bezüglich des Körpererlebens<br />

berücksichtigen, bspw. Berichte über<br />

die Pränatalzeit und den Geburtsverlauf,<br />

die Baby- und Kleinkindzeit oder das Körpererleben<br />

in der Adoleszenz, bis hin zu<br />

den Erfahrungen der Mütter und auch der<br />

Großmütter in deren eigener frühester<br />

Lebenszeit. Ebenso sollten Erfahrungen<br />

von Ausgegrenztheit oder dem miterlebten<br />

Leid von Angehörigen erfragt werden.<br />

Insbesondere durch projektive Verfahren<br />

kann eine Hellhörigkeit des Therapeuten<br />

für mit den individuellen Körperzonen verbundene<br />

Beschämungsgeschichten, nicht<br />

berührte Körperzonen oder Überidentifikationen<br />

mit dem Schmerz eines Angehörigen<br />

in einer Körperregion geschaffen bzw.<br />

intensiviert werden.<br />

2. Historischer Abriss<br />

2.1 Pioniere der Körperbildforschung<br />

Freud hatte bereits 1905 geschrieben:<br />

„Das Ich ist vor allem ein körperliches. Es<br />

ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern<br />

selbst die Projektion einer Oberfläche“<br />

(S. 169). Freud orientierte sich in seinen<br />

Ausführungen zur oralen, analen und<br />

genitalen Phase an körperlichen Zonen<br />

als Lokalisationen spezifischer Triebbedürfnisse<br />

(Joraschky, 1983; Kutter, 2009).<br />

Der Neurologe und Psychiater Arnold Pick<br />

(1908) prägte den Begriff des Körperschemas,<br />

worunter er die Orientierung am<br />

eigenen Körper anhand taktiler und kinästhetischer<br />

Empfindungen verstand. Der<br />

englische Neurologe Henry Head (1920)<br />

entwickelte auf der Grundlage zahlreicher<br />

Selbstexperimente ein neurophysiologisches<br />

Modell des Körperschemas. Fast<br />

gleichzeitig beschrieb der Physiologe (und<br />

Nobelpreisträger) Charles Scott Sherrington<br />

(1906) den Vorgang der Rückmeldung<br />

des Körpers im Sinne der körperlichen<br />

Selbst-Wahrnehmung als Propriozeption<br />

(von lat. „das Eigene in Besitz nehmen“)<br />

und postulierte damit die physiologische<br />

Grundlage für das Gefühl, lebendig zu<br />

sein. (Übrigens griff der Neuropsychologe<br />

Oliver Sacks viel später auf dieses Konzept<br />

zurück und machte es in seinen populären<br />

wissenschaftlichen Essays und Fallgeschichten<br />

breiter bekannt, z. B. „Die körperlose<br />

Frau“ oder, autobiographisch, „Der<br />

Tag an dem mein Bein fortging“, 1989).<br />

Der Wiener Psychoanalytiker Paul Schilder<br />

(1950) führte in seinem Konzept des<br />

Körperbildes erstmalig den Bezug zur subjektiven<br />

Erlebniswelt ein und entwarf eine<br />

umfassende Theorie des Körpererlebens.<br />

Allerdings unternahm Schilder keine Anstrengungen<br />

einer definitorischen Abgrenzung,<br />

sodass in der Folge die Begriffe Körperschema<br />

und Körperbild überwiegend<br />

überlappend verwendet wurden (Röhricht,<br />

2009).<br />

262 <strong>Psychotherapeuten</strong><strong>journal</strong> 3/2010

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