pdf-Drucker, Job 74 - Universität Bamberg
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Deutschland. Zudem bin ich ‚Christin‘. Von diesen Faktoren profitiere ich. Ich habe beispielsweise,<br />
anders als viele Frauen und Männer, die mit mir zur selben Zeit im selben Land<br />
leben, das aktive und passive Wahlrecht. Ich kann nicht aus Deutschland ausgewiesen werden.<br />
Da mein Aussehen mich nicht als ‚Fremde‘ erscheinen läßt, bin ich auch nicht das Ziel<br />
von fremdenfeindlichen Äußerungen und Gewalttaten. Ich gehöre einer staatlich anerkannten<br />
Religionsgemeinschaft an. Als Akademikerin erlebe ich regelmäßig soziale Anerkennung.<br />
Auch weitere Faktoren meiner Lebenslage schaffen mir einen Schutzraum. Ich bin<br />
verheiratet, lebe also in einer Form, die gegenüber anderen Lebensformen staatliche Unterstützung<br />
und Schutz genießt. Ich bin ‚nichtbehindert‘, was mir eine Menge Vorteile gewährt.<br />
Treppen und enge Türen stellen für mich keine Hindernisse dar. Ich werde weder<br />
mitleidig angeschaut noch krampfhaft übersehen.<br />
Aufgrund meiner schulischen Ausbildung kann ich lesen und schreiben, was nicht<br />
für alle Menschen in Deutschland gilt. 185 Ein Stipendium ermöglicht mir, diese Dissertation,<br />
mit der ich mich seit Jahren beschäftige, nun ohne ökonomische Unsicherheiten fertigzustellen.<br />
Als ich mit der Planung dieser Arbeit angefangen habe, habe ich auf einer Vollzeitstelle<br />
gearbeitet. So spüre ich nun am eigenen Leib den Unterschied, ‚nebenbei‘ an einer<br />
Doktorarbeit zu schreiben bzw. sozusagen ‚hauptberuflich‘ zu promovieren. Gleichzeitig<br />
gibt es in Deutschland viele Frauen, die am Rande des Existenzminimums leben bzw. so<br />
sehr damit beschäftigt sind, den täglichen Lebensunterhalt für die Familie je neu zu verdienen,<br />
daß sie keine darüber hinausgehenden Ziele verfolgen können. Sie haben überhaupt<br />
nicht die Möglichkeit, ihre Gedanken zu Problemen und Nöten in einer vergleichbaren<br />
Form zu Papier zu bringen.<br />
Diese ‚Normalität‘, 186 die ich erlebe, entpuppt sich also bei näherem Hinsehen als<br />
eine hochprivilegierte Lebenssituation, an der nicht alle Menschen in Deutschland Anteil<br />
haben und die ihnen in ihrer Gesamtheit auch langfristig unerreichbar ist. Ich bin damit –<br />
ohne daß ich das zunächst selbst gewählt hätte – in verschiedenartige Strukturen der Bevorzugung<br />
und Benachteiligung mit eingebunden. In der Begegnung mit anderen Menschen<br />
werden diese Faktoren unterschiedlich relevant. Sie prägen meine Lebenswirklichkeit und<br />
auch die anderer Menschen. Dies geschieht jedoch nicht im Sinne einer bloßen Addition<br />
oder Potenzierung von Rechten oder Diskriminierungen; vielmehr lassen sich die Einflußfaktoren<br />
nicht voneinander trennen, sie stellen in ihrer Kombination eine ganz eigentümliche<br />
Gegebenheit dar und sind in jeder Situation wirksam. 187<br />
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187<br />
Nähere Informationen zu Analphabetismus bei Erwachsenen in Deutschland finden sich auf der<br />
Homepage des Bundesverbandes Alphabetisierung, http://www.alphabetisierung.de (27. Juni 2001).<br />
Siehe auch die Veröffentlichungen im Anschluß an die in der Evangelischen Akademie Bad Boll<br />
stattfindenden Fachtagungen, z.B. Stark, Werner; Fitzner, Thilo; Schubert, Christoph (Hrsg.): Berufliche<br />
Bildung und Analphabetismus. Eine Fachtagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll,<br />
Stuttgart 1993; dies. (Hrsg.): Wer schreibt, der bleibt! Und wer nicht schreibt? Gesellschaftliche,<br />
pädagogische und persönlichkeitsbildende Aspekte des Schreibens als Beiträge zur Überwindung<br />
des Analphabetismus und Sicherung einer Grundbildung für alle. Eine Fachtagung in der Evangelischen<br />
Akademie Bad Boll, Stuttgart 1998.<br />
Siehe Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird,<br />
2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Opladen; Wiesbaden 1999.<br />
Beispielsweise spielt für die Beschäftigung mit dem Thema dieser Arbeit offensichtlich eine Rolle,<br />
daß ich einen Hochschulabschluß habe, als ‚junge‘ Frau gelte, ‚Weiße‘, ‚deutsche Staatsbürgerin<br />
und Christin bin. Meine Lebensform und mein ‚Nichtbehindertsein‘ scheinen zunächst nicht relevant.<br />
Jedoch beeinflussen diese Faktoren auch dann meine Position sowie Begegnungen mit anderen