pdf-Drucker, Job 74 - Universität Bamberg
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Menschen in Unterdrückungssituationen, die kritische Analyse der eigenen Mitwirkung<br />
sowie die Hinterfragung von sozialen Kategorien auszeichnet.<br />
Zum anderen greife ich auf radikalkonstruktivistische Vorstellungen zurück. Die<br />
kognitionstheoretischen Annahmen des Radikalen Konstruktivismus stellen selbst keine<br />
Ethik dar, sie haben jedoch in vielerlei Hinsicht entscheidende ethische Konsequenzen. 194<br />
Diese betreffen erstens das Selbstverständnis der Ethik als Wissenschaft. Die Ordnungsebenen<br />
der Wirklichkeit weisen Parallelen auf zu Moral (1. Ordnung), der Ethik als deren Reflexion<br />
(2. Ordnung) und der Metaethik als der Reflexion von Ethik (3. Ordnung). 195 Der<br />
Gegenstand der Ethik, das Ethos, ist in konstruktivistischer Perspektive nicht naturgegeben,<br />
sondern „von Menschen für Menschen [erdacht und durchgesetzt].“ 196 Durch die ethische<br />
Reflexion wird das Ethos veränderbar. Indem sie sich mit dem gelebten Ethos auseinandersetzt,<br />
indem sie Fragestellungen aufwirft und formuliert, legt Ethik bereits bestimmte Prämissen<br />
und Unterscheidungen fest und hat so teil an der Konstruktion von Wirklichkeit. 197<br />
Zweitens motiviert der Radikale Konstruktivismus dazu, die Perspektive der Mitmenschen<br />
einzunehmen. Wir leben „in einer Welt […], in der niemand für sich beanspruchen kann,<br />
die Dinge in einem umfassenden Sinne besser zu verstehen als andere.“ 198 Eine radikalkonstruktivistische<br />
Weltsicht deckt die Relevanz des jeweiligen Kontextes für Konstruktionen<br />
auf, sie fördert ein tolerantes Zusammenleben und hat insofern unmittelbare Folgen für den<br />
Alltag und den Umgang der Menschen miteinander. Drittens betont dieser Denkansatz die<br />
Verantwortung jedes einzelnen Menschen. Er verweist Einstellungen, Wissen, Haltungen<br />
und Handlungen an die BeobachterInnen zurück. Er macht deutlich, daß Menschen permanent<br />
Unterscheidungen treffen und zur Lebensbewältigung treffen müssen, daß sie dies aufgrund<br />
bestimmter Kriterien tun und damit notwendigerweise und noch nicht schuldhaft<br />
immer auch etwas ausblenden. Die BeobachterInnen und KonstrukteurInnen sind aber verantwortlich<br />
dafür, sich ihre Konstruktionen bewußt zu machen. Dieser Reflexionsprozeß<br />
ermöglicht wiederum aktive Konstruktion, Dekonstruktion oder Neukonstruktion von gesellschaftlicher<br />
Wirklichkeit. Daß Veränderungen von Wirklichkeit möglich sind, stellt<br />
194<br />
195<br />
196<br />
197<br />
198<br />
Siehe Glasersfeld, Ernst von: Siegener Gespräche über Radikalen Konstruktivismus, in: Siegfried J.<br />
Schmidt (Hrsg.): Diskurs, 401-440, hier 415-417; Rusch, Gebhard; Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.):<br />
Konstruktivismus und Ethik; Varela, Francisco J.: Ethisches Können (Edition Pandora; Bd. 24, Europäische<br />
Vorlesungen; Bd. 4), Frankfurt am Main; New York 1994.<br />
Zum Diskurs von Moraltheologie und Radikalem Konstruktivismus siehe Osberger, Stefan: Christliche<br />
Moral im wissenschaftlichen Diskurs des Konstruktivismus, insbesondere den Entwurf einer radikal-konstruktivistischen<br />
Autonomen Moraltheologie, <strong>74</strong>-85.<br />
Anders Mutschler, der dem Radikalen Konstruktivismus vorwirft, daß er ethische Gesichtspunkte<br />
gerade nicht berücksichtige (Siehe Mutschler, Hans-Dieter: Ethische Probleme der virtuellen Realitätserzeugung<br />
und des radikalen Konstruktivismus, in: JCSW 37 [1996] 67-77). Mutschler geht allerdings<br />
hier u.a. davon aus, daß in radikalkonstruktivistischer Sicht „Wirklichkeit zum bloßen Konstrukt<br />
degeneriert“ (ebd., 71) sei, und wird so den radikalkonstruktivistischen Ansätzen nicht gerecht.<br />
Vgl. Osberger, Stefan: Christliche Moral im wissenschaftlichen Diskurs des Konstruktivismus,<br />
26-29.<br />
Korff, Wilhelm: Theologische Ethik – Eine Einführung. Unter Mitarbeit von Walter Fürst und Josef<br />
Torggler, Freiburg; Basel; Wien 1975, 14.<br />
Trotz dieser deutlichen Anknüpfungspunkte werden radikalkonstruktivistische Ergebnisse bisher in<br />
der Theologischen Ethik kaum rezipiert, vgl. Anm. 18 in diesem Kapitel. Hier sind weitere Forschungen<br />
wünschenswert.<br />
Varela, Francisco: Der kreative Zirkel. Skizzen zur Naturgeschichte der Rückbezüglichkeit, in: Paul<br />
Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit, 294-309, hier 308. Siehe auch Watzlawick, Paul:<br />
Epilog, in: ders. (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit, 310-315, hier 311.