13.11.2012 Aufrufe

Letter - DAAD-magazin

Letter - DAAD-magazin

Letter - DAAD-magazin

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

12 TITEl<br />

Gunther Hirschfelder vertritt an der Universität Bonn eine<br />

Professur für Kulturanthropologie/Volkskunde. Der Privatdozent<br />

erforscht die Ess- und Trinkgewohnheiten in Europa.<br />

Er ist Vorstandsmitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik<br />

und Autor des Buchs „Europäische Esskultur. Geschichte<br />

der Ernährung in Europa von der Steinzeit bis heute“, das<br />

im Campus-Verlag erschien.<br />

Warum beschäftigen Sie sich als Historiker<br />

und Volkskundler mit der europäischen<br />

Esskultur?<br />

Bereits als Schüler habe ich viele Fernreisen<br />

innerhalb und außerhalb Europas<br />

unternommen und dabei die fremden Länder<br />

auf dem Teller wahrgenommen. Diese<br />

wichtige Erfahrung bei Tisch hat sich zu<br />

einem wissenschaftlichen Interesse weiterentwickelt.<br />

Die Ernährungsweise des<br />

Menschen ist nicht biologisch vorgegeben,<br />

sondern kulturell beeinflusst. Das betrifft<br />

die Auswahl, die Wertschätzung und die<br />

Ablehnung von Nahrungsmitteln. Essen und<br />

Trinken zählen somit zu den besten Indikatoren,<br />

kulturelle Kontexte zu erschließen.<br />

Stimmt das auch heute?<br />

Nicht mehr so eindeutig wie früher. Wir<br />

befinden uns in Deutschland in einer Übergangsphase.<br />

Was wir essen, hängt heute<br />

weniger von einer Gruppe ab, als vielmehr<br />

von unserem Lebensstil. Vor 50 Jahren hat<br />

sich ein Industriearbeiter aus dem Ruhrgebiet<br />

24 Stunden täglich als solcher verhalten<br />

und auch so gegessen. Heute vermischen<br />

sich die Lebensstile, wir agieren nicht<br />

mehr bürgerlich oder proletarisch. Zum<br />

Beispiel hat die Konsumentengruppe der<br />

LOHAS – das steht für Life Style of Health<br />

and Sustainability – ein ausgeprägtes ökologisches<br />

Bewusstsein und ernährt sich<br />

entsprechend, greift aber unter dem Zeit-<br />

und Mobilitätsdiktat auch zu Fastfood.<br />

Was hat sich an der Esskultur in<br />

Deutschland in der letzten Generation<br />

verändert?<br />

Das Essen außer Haus hat extrem zugenommen,<br />

und es gibt wesentlich mehr<br />

Fertiggerichte und Halbfertiggerichte in den<br />

Supermärkten zu kaufen. Damit geht einher,<br />

dass die unter 30-Jährigen kaum noch<br />

kochen können. Wie man einen Schweinebraten<br />

zubereitet oder ein Schnitzel brät,<br />

gerät in Vergessenheit. Die Küche unterteilt<br />

sich heute in die schnelle Versorgungs-<br />

„Einen Coffee to go, bitte!”<br />

Interview mit dem<br />

Bonner Kulturwissenschaftler<br />

Gunther Hirschfelder<br />

küche im Alltag und die Erlebnisküche zu<br />

besonderen Anlässen. Kochen wird zur<br />

Freizeitgestaltung mit Eventcharakter. Beispiele<br />

sind Sonntagsbraten, Grillabende oder<br />

Plätzchenbacken in der Weihnachtszeit.<br />

Ein anderer Wandel betrifft das Essen auf<br />

der Straße. Noch in den 50er und 60er<br />

Jahren war es absolut verpönt, draußen im<br />

Gehen zu essen. Man hat es einfach nicht<br />

getan. Heute ist die „To-go-Welle“ auf dem<br />

Höhepunkt. Diesem Trend ging eine lange<br />

Entwicklung voraus: Auslöser war der<br />

Normwandel nach dem Zweiten Weltkrieg.<br />

In Deutschland stationierte amerikanische<br />

Soldaten brachten nicht nur neue Kleidung<br />

und Musik mit, sondern auch andere Ess-<br />

und Trinkgewohnheiten. Sie bereiteten den<br />

Boden für die Snack-Kultur. Traditionen<br />

ändern sich aber nicht so schnell: Erst 1971<br />

eröffnete die Fastfood-Kette McDonald’s eine<br />

Filiale in München, Burger King folgte 1976<br />

in Berlin. Beide Ketten haben übrigens ziemlich<br />

lange in Deutschland Verluste gemacht.<br />

Hat das Essen in Deutschland im<br />

europäischen Vergleich einen geringen<br />

Stellenwert?<br />

Es gibt kein Industrieland auf der Welt, wo<br />

so wenig Geld für Essen und Trinken aus-<br />

gegeben wird wie in Deutschland. Während<br />

Franzosen oder Italiener 23 bis 24 Prozent<br />

ihres verfügbaren Einkommens in Nahrungsmittel<br />

und Getränke investieren, belasten<br />

Deutsche ihr Budget nur mit 13 Prozent.<br />

Aber deutsche Nahrungsmittel und Getränke<br />

sind besser als ihr Ruf. Weine von Mosel<br />

und Rhein zählen heute zu den beliebtesten<br />

und teuersten weltweit. Für regionale Weine<br />

haben wir ein hohes Qualitätsbewusstsein,<br />

beim Essen müssen wir noch nachziehen.<br />

So können junge urbane Deutsche leicht<br />

zehn französische Käsesorten aufzählen,<br />

aber kaum einer kennt ebenso viele deutsche<br />

Wurstsorten oder ist sogar stolz auf<br />

diese Vielfalt. Die mangelnde Akzeptanz<br />

ist ein Kulturmuster, das ebenfalls nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und die<br />

Abkehr von allem Deutschen forderte. Traditionen<br />

galten als altmodisch und belastet.<br />

Die Deutschen investieren dagegen in ihre<br />

Ausrüstung: Möglichst billige Lebensmittel<br />

bereiten sie mit den teuersten Herden, Töpfen<br />

und Messern der Welt zu. Allerdings<br />

setzt langsam ein Wandel von „nur billig“<br />

zu „mehr Qualität“ ein und Verbraucher<br />

besinnen sich auf regionale Produkte. Darüber<br />

freue ich mich, denn was aus der<br />

Region kommt und zur Jahreszeit passt,<br />

ist gesünder, schmeckt besser und gibt<br />

mehr Identität als gesichtsloses Essen, das<br />

um die halbe Welt transportiert wird.<br />

Das Interview führte Katja Spross<br />

<strong>DAAD</strong> <strong>Letter</strong> 2/08<br />

Foto: privat

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!