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Letter - DAAD-magazin

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20 WISSEnSChaFT<br />

Foto: ullstein bild/Granger Collection<br />

Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin und<br />

unterrichtet als außerplanmäßiger Professor an der<br />

Universität Erfurt. Bekannt wurde er als Vertreter der<br />

Lebenskunstphilosophie mit Büchern wie „Schönes<br />

Leben? Einführung in die Lebenskunst“ (2000). Sein<br />

Buch „Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen,<br />

und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist“<br />

(2007) wurde zum Bestseller. Schmid, der bei dem<br />

französischen Philosophen Michel Foucault promovierte<br />

und Vater von vier Kindern ist, lehrte als langjähriger<br />

<strong>DAAD</strong>-Gastdozent in den 90er Jahren zunächst in<br />

Riga (Lettland) und bis 2006 in Tiflis (Georgien).<br />

Informationen: www.lebenskunstphilosophie.de<br />

empfinden und dass alles positiv läuft.<br />

Dafür überwinden sie Berge und durchschwimmen<br />

Ozeane. Doch der Glaube, das<br />

allein sei Glück, ist ein furchtbarer Irrtum.<br />

Was machen die Glückssucher falsch?<br />

Wohlgefühl ist eine wunderbare Sache, aber<br />

es gibt sie niemals auf Dauer. Am schönsten<br />

drückt dies der französische Begriff für<br />

Glück aus: le bonheur. Die „gute Stunde“<br />

ist machbar, und man kann für solche<br />

Glücksmomente viel tun: ein Glas Wein, ein<br />

schönes Gespräch, eine Urlaubsreise, das<br />

alles tut gut. Insofern irren sich die Propagandisten<br />

des Glücks nicht. Aber sie irren<br />

sich, wenn sie glauben, ihr Leben zu einer<br />

einzigen Wohlfühl-Veranstaltung machen zu<br />

können. Mit diesem Versuch scheitern sie.<br />

Was raten Sie ihnen?<br />

Mein Rat ist: Frage Dich, was Leben für<br />

Dich ist. Leben findet ständig in Gegensätzen<br />

statt. Es gibt nicht nur Freude,<br />

sondern auch freudlose, wenn nicht gar<br />

leidvolle Zeiten. Wenn man nicht nur das<br />

Positive, sondern auch das Negative als<br />

Bestandteil des Lebens akzeptiert, erfährt<br />

Foto: Benno Kraehahn<br />

man erst den Reichtum des Lebens. Ich<br />

bezeichne das als das „Glück der Fülle“.<br />

Bleibt der Mensch bei der Glückssuche<br />

ganz auf sich selbst bezogen?<br />

Wenn die Menschen nach Glück fragen, meinen<br />

sie oft etwas ganz anderes. Sie suchen<br />

eigentlich nach Sinn. Ohne Glück – das kriegt<br />

man hin, aber ohne Sinn können wir nicht leben.<br />

Sinn ist überall, wo Zusammenhang ist.<br />

Das gilt zum Beispiel für den sozialen Zusammenhang.<br />

Für Liebende stellt sich kaum die<br />

Frage nach dem Sinn des Lebens, weil sie ihn<br />

schon besitzen. Auch der Zusammenhang mit<br />

der Natur ist Sinnerfahrung. Wenn Sinn da<br />

ist, kommt das Glück automatisch hinterher.<br />

Sie waren einige Jahre als Gastdozent in<br />

Georgien tätig. Sind die Menschen dort<br />

glücklicher als in Deutschland?<br />

Menschen in Georgien haben eine ganz andere<br />

Vorstellung von Glück als die Deutschen –<br />

so wie es ohnehin nicht den einen Glücksbegriff<br />

gibt. Für die Georgier spielen familiäre<br />

und soziale Bindungen noch eine große Rolle.<br />

Deshalb fragen sie viel weniger nach Glück<br />

und Lebenssinn. Sie sind konsterniert darüber,<br />

dass Menschen im Westen oft keinen Lebenssinn<br />

sehen, und entwickeln eine Skepsis<br />

gegenüber unserer Wohlstandsgesellschaft.<br />

Glück der Liebenden:<br />

Auguste Rodins „Der Kuss“ von 1886<br />

Die philosophische Wissenschaft hat das<br />

Image, eher theoretisch, ja elitär zu sein.<br />

Sie selbst beschäftigen sich als Philosoph<br />

unmittelbar mit den Menschen. Was kann<br />

Philosophie bewirken?<br />

In der arbeitsteiligen Gesellschaft ist die Philosophie<br />

die Disziplin der Nachdenklichkeit.<br />

Nachdenken kann jeder, aber die Philosophen<br />

sind darin Profis. Sie haben keine Lösungen,<br />

können Menschen aber dabei helfen, Orientierung<br />

im Leben zu finden. Das war von<br />

ungefähr 800 vor Christus bis ins 19. Jahrhundert<br />

hinein typisch für die Philosophie.<br />

Zuletzt hat sich die Philosophie über längere<br />

Zeit den Wissenschaften zur Grundlagenreflektion<br />

zur Verfügung gestellt – etwa in<br />

Form von Wissenschaftsphilosophie oder<br />

Sprachphilosophie. Erst heute wendet sie<br />

sich wieder verstärkt Fragen des praktischen<br />

Lebens zu. Dazu gehören etwa die<br />

Auswirkungen moderner Technologien<br />

oder neuer medizinischer Forschungsergebnisse<br />

auf das Leben der Menschen.<br />

Sind Sie glücklich?<br />

Die Frage nach Glück stelle ich mir privat<br />

nie, weil ich mir über ihre Begrenztheit im<br />

Klaren bin.<br />

Aber Sie verschaffen sich doch glückliche<br />

Momente?<br />

Ja, wenn ich morgens ins Café gehe, um dort<br />

zu arbeiten, fühle ich mich wohl. Dann bestelle<br />

ich eine Tasse Espresso, die ich im Verlauf<br />

von ungefähr zwei Stunden trinke, denn<br />

wenn man die kleine Pfütze Kaffee nicht in<br />

sich hineinschüttet, sondern ganz langsam<br />

zu sich nimmt, steigt das Wohlgefühl.<br />

Die Fragen stellte Leonie Loreck<br />

<strong>DAAD</strong> <strong>Letter</strong> 2/08

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