HANS WERNER HENZE - Schott Music
HANS WERNER HENZE - Schott Music
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Hülsdorf-Gotha, zu Beginn des 19. Jahrhunderts.<br />
Die Honoratioren und Bürger warten<br />
auf den reichen Engländer Sir Edgar, der im<br />
Ort ein Haus gekauft hat. Sie haben einen pompösen<br />
Empfang vorbereitet und sind konsterniert, als Sir Edgar<br />
durch seinen Sekretär mitteilen lässt, dass er an<br />
den Festlichkeiten kein Interese habe. Besonders die<br />
Baronin Grünwiesel ärgert sich, dass Sir Edgar ihre Einladung<br />
zum Tee ausschlägt. Die Verstimmung wächst,<br />
als Sir Edgar wenig später die Artisten eines Wanderzirkus<br />
in sein Haus einlädt, das daraufhin in der Nacht<br />
mit ausländerfeindlichen Parolen beschmiert wird.<br />
Einige Zeit später treffen sich Wilhem und Luise, das<br />
Mündel der Baronin Grünwiesel, abends heimlich zu<br />
einem Rendevouz. Ihre Liaison wird von der Baronin<br />
nicht gerne gesehen, da sie andere Pläne mit Luise<br />
hat. Beide werden durch laute Schreie erschreckt, die<br />
aus dem Haus Sir Edgars dringen. Vom Bürgermeister<br />
zur Rede gestellt, erklärt Sir Edgar, dass sein kürzlich<br />
aus London eingetroffener Neffe Lord Barrat die deutsche<br />
Sprache lerne und bei jedem Fehler von ihm gezüchtigt<br />
werde. Er hoffe aber, Lord Barrat in Kürze bei<br />
einem Empfang präsentieren zu können. Nach zwei<br />
weiteren Wochen ist es soweit: der Empfang findet<br />
statt und die Gäste sind fasziniert vom exzentrischen<br />
Verhalten des jungen Lords, dessen Marotten alle<br />
begeistert nachahmen. Nur Wilhelm ist unangenehm<br />
berührt von der Art und Weise, wie der junge Lord um<br />
Luise wirbt. Die Baronin Grünwiesel jedoch sieht sich<br />
am Ziel ihrer Wünsche: sie will im Lauf des Abends<br />
die Verlobung von Luise und Lord Barrat bekannt geben.<br />
Während man ausgelassen tanzt, verfällt der junge<br />
Lord immer mehr in wilde Zuckungen, bis er sich<br />
schließlich die Kleider vom Leib reißt und seine wahre<br />
Natur offenbar wird: Es ist der Zirkusaffe Adam, als<br />
Lord verkleidet. Sir Edgar bringt ihn mit der Peitsche<br />
zur Räson und verlässt den Raum – zurück bleiben die<br />
schockierten Bürger von Hülsdorf-Gotha, die gewahr<br />
werden, dass sie an der Nase herumgeführt wurden.<br />
Der junge Lord war das letzte Bühnenwerk, das Hans<br />
Werner Henze und Ingeborg Bachmann gemeinsam<br />
entwickelten (nach dem Mimodram Der Idiot 1952<br />
und der Oper Der Prinz von Homburg 1958/59). Als<br />
Grundlage für das Libretto wählten sie eine Erzählung<br />
von Wilhelm Hauff („Der junge Engländer oder Der<br />
Affe als Mensch“) aus dessen Märchenalmanch „Der<br />
Scheik von Alexandria und seine Sklaven“ von 1826.<br />
Musikalische Vorbilder für seine erste komische Oper<br />
sieht Henze in Mozart und Rossini. Die formale Anlage<br />
folgt dem Modell der Opera buffa mit den für diese<br />
Gattung typischen Ensembles und dem weitgehenden<br />
Verzicht auf ariose Elemente, wie sie für die Opera<br />
seria kennzeichnend sind. Charakteristisch für die<br />
Tonsprache des Jungen Lord ist auch die Verwendung<br />
traditioneller Formen wie Volks- und Kinderlieder,<br />
Menuette und Walzer. Dies jedoch darf nicht darüber<br />
hinwegtäuschen, dass schon im Jungen Lord deutliche<br />
Anzeichen der gesellschaftskritischen Tendenzen<br />
sichtbar sind, die die späteren Werke der 70er und<br />
80er Jahre kennzeichnen.<br />
“<br />
Der wesentliche Gegenstand dieses Stücks<br />
ist: die Lüge. Sie wird geboren aus unersättlicher<br />
Neugier, betrogenen materiellen Hoffnungen,<br />
provinzieller Angeberei und beleidigter Eitelkeit. Sie<br />
verbreitet sich als Gerücht (im Zwischenspiel vom<br />
2. zum 3. Bild) und pervertiert und decouvriert<br />
die Charaktere und das ihnen zugehörende musikalische<br />
Material in zunehmendem Maße. Daraus<br />
entspringt die Reaktion des Gegenmilieus (die Welt<br />
des Engländers), das mit einem „naturwissenschaftlichen“<br />
Experiment der Lüge und der ihr auf dem<br />
Fuß folgenden Aggression entgegenwirkt. Das musikalische<br />
Ambiente des Engländers entwickelt sich<br />
parallel dazu, es greift um sich (vom 5. Bild an) und<br />
arbeitet dem von Hülsdorf-Gotha entgegen, um es<br />
schließlich zunichte zu machen. Am Ende, sobald<br />
die Fremden die Szene verlassen haben, fällt das<br />
Ganze in jene Konventionalität und Kleinkrämerei<br />
zurück, mit der die Oper begonnen hatte. Nichts ist<br />
hinzugelernt worden, so scheint es, nichts hat sich<br />
verändert. Es war nur ein Zwischenfall. Aber nicht<br />
ganz.