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HANS WERNER HENZE - Schott Music

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24<br />

Hülsdorf-Gotha, zu Beginn des 19. Jahrhunderts.<br />

Die Honoratioren und Bürger warten<br />

auf den reichen Engländer Sir Edgar, der im<br />

Ort ein Haus gekauft hat. Sie haben einen pompösen<br />

Empfang vorbereitet und sind konsterniert, als Sir Edgar<br />

durch seinen Sekretär mitteilen lässt, dass er an<br />

den Festlichkeiten kein Interese habe. Besonders die<br />

Baronin Grünwiesel ärgert sich, dass Sir Edgar ihre Einladung<br />

zum Tee ausschlägt. Die Verstimmung wächst,<br />

als Sir Edgar wenig später die Artisten eines Wanderzirkus<br />

in sein Haus einlädt, das daraufhin in der Nacht<br />

mit ausländerfeindlichen Parolen beschmiert wird.<br />

Einige Zeit später treffen sich Wilhem und Luise, das<br />

Mündel der Baronin Grünwiesel, abends heimlich zu<br />

einem Rendevouz. Ihre Liaison wird von der Baronin<br />

nicht gerne gesehen, da sie andere Pläne mit Luise<br />

hat. Beide werden durch laute Schreie erschreckt, die<br />

aus dem Haus Sir Edgars dringen. Vom Bürgermeister<br />

zur Rede gestellt, erklärt Sir Edgar, dass sein kürzlich<br />

aus London eingetroffener Neffe Lord Barrat die deutsche<br />

Sprache lerne und bei jedem Fehler von ihm gezüchtigt<br />

werde. Er hoffe aber, Lord Barrat in Kürze bei<br />

einem Empfang präsentieren zu können. Nach zwei<br />

weiteren Wochen ist es soweit: der Empfang findet<br />

statt und die Gäste sind fasziniert vom exzentrischen<br />

Verhalten des jungen Lords, dessen Marotten alle<br />

begeistert nachahmen. Nur Wilhelm ist unangenehm<br />

berührt von der Art und Weise, wie der junge Lord um<br />

Luise wirbt. Die Baronin Grünwiesel jedoch sieht sich<br />

am Ziel ihrer Wünsche: sie will im Lauf des Abends<br />

die Verlobung von Luise und Lord Barrat bekannt geben.<br />

Während man ausgelassen tanzt, verfällt der junge<br />

Lord immer mehr in wilde Zuckungen, bis er sich<br />

schließlich die Kleider vom Leib reißt und seine wahre<br />

Natur offenbar wird: Es ist der Zirkusaffe Adam, als<br />

Lord verkleidet. Sir Edgar bringt ihn mit der Peitsche<br />

zur Räson und verlässt den Raum – zurück bleiben die<br />

schockierten Bürger von Hülsdorf-Gotha, die gewahr<br />

werden, dass sie an der Nase herumgeführt wurden.<br />

Der junge Lord war das letzte Bühnenwerk, das Hans<br />

Werner Henze und Ingeborg Bachmann gemeinsam<br />

entwickelten (nach dem Mimodram Der Idiot 1952<br />

und der Oper Der Prinz von Homburg 1958/59). Als<br />

Grundlage für das Libretto wählten sie eine Erzählung<br />

von Wilhelm Hauff („Der junge Engländer oder Der<br />

Affe als Mensch“) aus dessen Märchenalmanch „Der<br />

Scheik von Alexandria und seine Sklaven“ von 1826.<br />

Musikalische Vorbilder für seine erste komische Oper<br />

sieht Henze in Mozart und Rossini. Die formale Anlage<br />

folgt dem Modell der Opera buffa mit den für diese<br />

Gattung typischen Ensembles und dem weitgehenden<br />

Verzicht auf ariose Elemente, wie sie für die Opera<br />

seria kennzeichnend sind. Charakteristisch für die<br />

Tonsprache des Jungen Lord ist auch die Verwendung<br />

traditioneller Formen wie Volks- und Kinderlieder,<br />

Menuette und Walzer. Dies jedoch darf nicht darüber<br />

hinwegtäuschen, dass schon im Jungen Lord deutliche<br />

Anzeichen der gesellschaftskritischen Tendenzen<br />

sichtbar sind, die die späteren Werke der 70er und<br />

80er Jahre kennzeichnen.<br />

“<br />

Der wesentliche Gegenstand dieses Stücks<br />

ist: die Lüge. Sie wird geboren aus unersättlicher<br />

Neugier, betrogenen materiellen Hoffnungen,<br />

provinzieller Angeberei und beleidigter Eitelkeit. Sie<br />

verbreitet sich als Gerücht (im Zwischenspiel vom<br />

2. zum 3. Bild) und pervertiert und decouvriert<br />

die Charaktere und das ihnen zugehörende musikalische<br />

Material in zunehmendem Maße. Daraus<br />

entspringt die Reaktion des Gegenmilieus (die Welt<br />

des Engländers), das mit einem „naturwissenschaftlichen“<br />

Experiment der Lüge und der ihr auf dem<br />

Fuß folgenden Aggression entgegenwirkt. Das musikalische<br />

Ambiente des Engländers entwickelt sich<br />

parallel dazu, es greift um sich (vom 5. Bild an) und<br />

arbeitet dem von Hülsdorf-Gotha entgegen, um es<br />

schließlich zunichte zu machen. Am Ende, sobald<br />

die Fremden die Szene verlassen haben, fällt das<br />

Ganze in jene Konventionalität und Kleinkrämerei<br />

zurück, mit der die Oper begonnen hatte. Nichts ist<br />

hinzugelernt worden, so scheint es, nichts hat sich<br />

verändert. Es war nur ein Zwischenfall. Aber nicht<br />

ganz.

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