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Funktionaler Analphabetismus im Kontext von Familie und ...

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Bettina Twrsnick<br />

was sie haben“ (Lao Tse), was ermöglicht wird über die „Gesprächsbrücke“, die die<br />

Vorlesesituation mit ihren Geschichten, Bildern <strong>und</strong> den vielen gelungenen <strong>und</strong> beglückenden<br />

Momenten mit den Kindern bildet. Dass die Vorleserinnen <strong>und</strong> Vorleser<br />

freiwillig <strong>und</strong> ehrenamtlich in die <strong>Familie</strong> kommen, dass sie <strong>von</strong> keiner Behörde geschickt<br />

werden, sondern „nur“ <strong>von</strong> einer Bibliothek: Diese „neutrale“ Basis sollte<br />

eine entscheidende Rolle in der Vertrauensbildung zwischen <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Vorleserin<br />

bzw. Vorleser darstellen.<br />

Dieses Gesamtkonzept überzeugte nun auch die notwendigen Sponsoren aus der<br />

Wirtschaft (nachdem sich die öffentliche Hand nicht zuständig gezeigt hatte) – <strong>und</strong><br />

so konnte nach einem professionellen Coaching, vermittelt durch das B<strong>und</strong>esprojekt<br />

„startsocial“ 3 , <strong>und</strong> mit einer Startfinanzierung durch die PwC-Stiftung „Jugend-<br />

Bildung-Kultur“ 2006 eine Projekt-Stelle geschaffen <strong>und</strong> der erste Ausbildungskurs<br />

für 27 Vorleserinnen <strong>und</strong> Vorleser durchgeführt werden. Im Folgejahr übernahm dann<br />

die Frankfurter Crespo Fo<strong>und</strong>ation die volle Finanzierung für drei Jahre – <strong>und</strong> damit<br />

wuchs dieses Pilot-Projekt <strong>und</strong> wuchs <strong>und</strong> wuchs <strong>und</strong> wurde erfolgreich <strong>und</strong> über<br />

die Landesgrenzen hinweg berühmt … Und wenn sie nicht gestorben sind … Nein,<br />

„märchenhaft“ sind zwar die durchweg positiven Rückmeldungen aus den <strong>Familie</strong>n,<br />

den Kitas, den Schulen über die deutlich wahrnehmbaren Veränderungen – was 2010<br />

in einer Evaluation der Universität Gießen (Fleth 2010) dokumentiert wurde –, aber<br />

die Arbeit <strong>im</strong> Alltagsgeschäft des Projekts ist natürlich oft alles andere als „märchenhaft“.<br />

Doch trotz aller Mühseligkeit, Rückschläge <strong>und</strong> Ausfälle: Nie verlieren sie ihre<br />

Fröhlichkeit, ihre Begeisterung, ihren Schwung <strong>und</strong> ihre Überzeugungskraft – die<br />

„Seelen“ des Projekts: die Projektleiterin, eine Ethnologin <strong>und</strong> ihre Assistentinnen,<br />

eine Erzieherin <strong>und</strong> eine Lehrerin. Sie haben nach eigenen Aussagen noch keinen<br />

Tag den Schritt aus ihrem bisherigen Arbeitsfeld in das neue Projekt „Vorlesen<br />

in <strong>Familie</strong>n“ bereut – <strong>und</strong> das, obwohl sie inzwischen in der Betreuung <strong>von</strong> über<br />

100 Vorleserinnen <strong>und</strong> Vorlesern <strong>und</strong> ihren Einsätzen in <strong>Familie</strong>n, aber auch in<br />

Kleinstgruppen in Nachbarschaftszentren, Jugend- <strong>und</strong> Frauenhäusern zahllose unbezahlte<br />

Überst<strong>und</strong>en anhäufen. Doch die Erfolge dieser Arbeit überzeugen: Wenn<br />

z.B. Mütter aus Migrantenfamilien der dritten <strong>und</strong> vierten Generation sich freiwillig<br />

für einen Deutschkurs anmelden, weil sie es plötzlich für sich selbst als sinnvoll erachten,<br />

wenn sich Väter nach einem Alphabetisierungskurs in der Volkshochschule<br />

erk<strong>und</strong>igen, weil sie es plötzlich als notwendig ansehen, den schwierigen Weg<br />

zur Schrift ihrer Kinder auch aktiv zu begleiten, wenn das Gespräch mit der<br />

Lehrerin oder dem Lehrer nicht mehr mit Angst behaftet ist, wenn das Vorlesen als<br />

Kommunikationsmodell plötzlich einen festen Platz <strong>im</strong> <strong>Familie</strong>nleben findet <strong>und</strong><br />

in Migrantenfamilien engagierte innerfamiliäre Übersetzungsaktionen <strong>von</strong> (deutschen)<br />

Bilderbüchern stattfinden, wenn Kinder plötzlich zuhören können oder wenn<br />

sie plötzlich Worte für ihre Gefühle finden <strong>und</strong> deshalb nicht mehr um sich schlagen<br />

müssen. Es sind diese kleinen, manchmal kaum bemerkbaren Veränderungen, die<br />

diese vergleichbar kleinen Investitionen zu den erstaunlich hohen „Renditen“ in einer<br />

Gesellschaft verhelfen, wie die amerikanische Heckman-Langzeitstudie sehr eindrücklich<br />

bewiesen hat (vgl. Heckman/Masterov 2007, 446-493; Becker 2010).<br />

3 „startsocial e.V. – Hilfe für Helfer“, eine Initiative der Wirtschaft unter der Schirmherrschaft<br />

der B<strong>und</strong>eskanzlerin

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