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Funktionaler Analphabetismus im Kontext von Familie und ...

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Jürgen Genuneit & Annerose Genuneit<br />

besonders unangenehm macht: sie näherte sich. Näherte sich in Gestalt des Generals<br />

Wawrila <strong>und</strong> seiner Helfer“ (Lenz 1990, 9).<br />

Doch <strong>im</strong>mer, wenn der Nachbar Abromeit den Großvater auf das Näherkommen<br />

der Gefahr aufmerksam macht, antwortet dieser: „Das wird […] alles geregelt werden<br />

zur Zeit. Nur noch, wenn ich bitten darf, die letzten fünf Seiten“ (Lenz 1990,<br />

10). Schließlich bricht General Wawrila in das Jagdhaus ein, in dem sich der<br />

Großvater <strong>und</strong> Abromeit verschanzt haben. „Ging natürlich gleich auf den Großvater<br />

zu, brüllte heiser <strong>und</strong> lachte, wie er das so an sich hatte, <strong>und</strong> dann sagte er: ‚Spring<br />

auf meine Hand, du Frosch, ich will dich aufblasen.‘ […] Doch Hamilkar Schaß entgegnete:<br />

‚Gleich, nur noch anderthalb Seiten.‘ Wawrila wurde wütend <strong>und</strong> zog meinem<br />

Großvater eine über, <strong>und</strong> dann fühlte er sich bemüßigt, so zu sprechen: ‚Ich<br />

werde dich jetzt, du alte Eidechse, halbieren. Aber ganz langsam.‘ ‚Eine Seite nur<br />

noch‘, sagte Hamilkar Schaß. ‚Es sind bei Gottchen, nicht mehr als fünf<strong>und</strong>dreißig<br />

Zeilen. Dann ist das Kapitel zu Ende.‘ Wawrila, bestürzt, beinahe nüchtern geworden,<br />

lieh sich <strong>von</strong> einem hinkenden Menschen aus seiner Begleitung eine Flinte,<br />

drückte den Lauf auf den Hals des Hamilkar Schaß <strong>und</strong> sagte: ‚Ich werde dich, du<br />

stinkende Dotterblume, mit gehacktem Blei wegpusten. Schau her, die Flinte ist gespannt.‘<br />

‚Gleich‘, sagte Hamilkar Schaß. ‚Nur noch zehn Zeilen, dann wird alles geregelt,<br />

wie es sein soll.‘ Da packte, wie jeder K<strong>und</strong>ige verstehen wird, Wawrila <strong>und</strong><br />

seine Bagage ein solch unhe<strong>im</strong>liches Entsetzen, daß sie, ihre Flinten zurücklassend,<br />

dahin flohen, woher sie gekommen waren“ (Lenz 1990, 11f.).<br />

Nach der Stärkung des Selbstbewusstseins sind Lesen- <strong>und</strong> Schreibenkönnen dann<br />

eine wichtige Hilfe, der Einsamkeit zu entkommen. Eine gelungene Alphabetisierung<br />

führt auch zu neuen Freizeitaktivitäten <strong>und</strong> neuen sozialen Kontakten. Daraus resultiert<br />

ein stärkeres Achten auf das Äußere <strong>und</strong> auf Hygiene.<br />

Nach kurzer Anlaufschwierigkeit gewinnen Lernende darüber hinaus Freude am<br />

Lernen, wenn sie merken, dass sie Erfolge haben – so wie der alte analphabetische<br />

Landarbeiter Ambanelli, der sich in Luigi Malerbas Erzählung „Die Entdeckung des<br />

Alphabets“ <strong>von</strong> dem Sohn des Gutsherrn das Lesen <strong>und</strong> Schreiben beibringen lässt:<br />

„[N]ach dem Alphabet schrieben sie zusammen so viele Wörter, wie Ambanelli<br />

einfielen, kurze <strong>und</strong> lange, kleine <strong>und</strong> große, dünne <strong>und</strong> dicke. Der Alte war mit so<br />

viel Begeisterung bei der Sache, daß er nachts <strong>von</strong> ihnen träumte, <strong>von</strong> Wörtern, die<br />

in Büchern geschrieben standen, auf Mauern, am H<strong>im</strong>mel, groß <strong>und</strong> flammend wie<br />

das gestirnte All. Gewisse Wörter gefielen ihm besser als andere, <strong>und</strong> er versuchte,<br />

sie auch seiner Frau beizubringen. Dann lernte er, sie miteinander zu verbinden,<br />

<strong>und</strong> eines Tages schrieb er: ‚Landwirtschaftliche Genossenschaft der Provinz Parma‘.<br />

Ambanelli zählte die Wörter, die er gelernt hatte, wie man die Säcke voll Korn zählt,<br />

die aus der Dreschmaschine kommen, <strong>und</strong> als er h<strong>und</strong>ert beisammen hatte, meinte<br />

er, ein schönes Stück Arbeit geleistet zu haben. ‚Jetzt, scheint mir, reicht es für mein<br />

Alter.‘ Auf alten Stücken Zeitungspapier suchte Ambanelli die Wörter, die er kannte,<br />

<strong>und</strong> wenn er eines fand, war er zufrieden, als hätte er einen Fre<strong>und</strong> getroffen“<br />

(Malerba 1983, 9).<br />

Gelungene Alphabetisierung bedeutet auch größere Selbständigkeit. Sie verhindert<br />

eine frühzeitige Abhängigkeit <strong>von</strong> Pflegediensten <strong>und</strong> Altershe<strong>im</strong>. Somit verbessert<br />

Lesen- <strong>und</strong> Schreibenkönnen <strong>im</strong> Alter die Ges<strong>und</strong>heit, wodurch für den Staat die<br />

Ges<strong>und</strong>heitskosten reduziert werden.

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