Funktionaler Analphabetismus im Kontext von Familie und ...

88
Sabine Boldt und Uwe Boldt im Gespräch mit Bettina Lübs
treten, ich möchte vielleicht doch irgendwie mal was machen. Ich möchte vielleicht
einen Kurs finden für mich.“ Und das in der Zeitung liest. Zeitung ist ja ein Thema
für dich, heute liest du und lesen ist sowieso nicht die Schwierigkeit mehr?
U. Boldt: Ich muss manche Artikel zweimal lesen, dass ich sie richtig verstehe.
Das ist immer noch so. Aber bis ich zum Alfa-Mobil hingegangen bin, bin ich auch
fünf-, sechsmal daran vorbeigelaufen, um den Start richtig zu nehmen.
Lübs: Du machst ja Schichtdienst. Wie ging das zu verbinden mit so einem
Kursbesuch?
U. Boldt: Ja, gut. In der Woche, in der ich Spätschicht habe, kann ich leider nicht
in den Kurs gehen. Weil der Kurs ist ja hauptsächlich nachmittags.
Aus dem Publikum: Uwe, wie hast du dich gefühlt, als du nicht lesen und schreiben
konntest, und wie ist es jetzt, seit du lesen und schreiben kannst?
U. Boldt: Damals war es für mich schwer, überhaupt irgendwo hinzugehen und
etwas auszufüllen. Teilweise ist das heute immer noch so, wenn ich irgendwo zum
Arzt gehen muss, wo ich wirklich was ausfüllen soll. Hauptsächlich wenn ich zu einem
neuen Arzt muss, wo ich dann jedes Mal davor sitze: „Oh, puhh, neu …“ Dann
fülle ich auch nur das aus, was ich kann. Aber ich fühle mich heute schon wesentlich
freier, weil ich ja nun schon einiges geschrieben habe und schon Erfolge damit gemacht
habe. Ich habe mehr Selbstvertrauen bekommen dadurch.
Lübs: Mich würde auch noch interessieren, wir haben jetzt ja eine ganze Menge
erfahren über Schwierigkeiten, was sind deine Stärken, Uwe?
U. Boldt: Stärken? Habe ich Stärken? Ich habe mittlerweile schon sehr viel
Selbstvertrauen gewonnen und versuche das anderen auch zu vermitteln.
Lübs: Ich habe da nämlich so ein Erlebnis mit Uwe gehabt: Ich habe in einem
200 Jahre alten Bauernhaus gewohnt und Uwe und ich haben uns kennengelernt vor
drei Jahren, als dieser Film 2 gedreht wurde über ihn. Und dann hatte ich ein Problem:
Das Haus war alt und im Waschbecken im Badezimmer lief das Wasser nicht mehr
ab. Und dann habe ich alles Mögliche probiert und dann gibt es so Spiralen, die habe
ich auch probiert, und ich wollte nichts kaputtmachen und dann habe ich gesagt: Ich
komme nicht klar, aber ich kenne jemanden, der kann sowas, der kann mir bestimmt
einen Tipp geben, was ich tun soll. Also habe ich bei Uwe angerufen, und dann hatte
ich die Tochter an der Strippe und sie sagte: „Uwe ist gerade nicht da. Der ist wieder
in der Nachbarschaft unterwegs, Sachen reparieren und so … Ruf mal in einer Stunde
wieder an.“ Also ich wieder angerufen, wieder die Tochter am Telefon: „Tut mir leid,
jetzt ist er noch zu einem Freund, der hat Probleme mit seiner Elektrik.“ Gut, wieder
Zeit vergangen, wieder angerufen, dann hatte ich Uwe an der Strippe und dann sage
ich so: „Mein Abfluss läuft nicht und ich habe zwar diese Spirale, aber ich kann da
nicht mit umgehen.“ Sagt Uwe: „Macht nichts, ich komme gleich vorbei.“ – „Kannst
du mir denn helfen?“ – „Ja, klar!“ Und dann sage ich so zu Uwe am Telefon: „Was
kannst du eigentlich nicht?“ Und wie war deine Antwort? Erinnerst du dich noch?
U. Boldt: Nö. Weiß ich jetzt nicht mehr. Sag mal.
Lübs: „Ja, Bettina, das weißt du doch …“ Es ist heute noch so, wenn ich irgendwelche
technischen Fragen habe oder etwas repariert haben möchte, frage ich Uwe.
2 Im Rahmen der Sat1-Dokumentationsreihe „Gemeinsam stark“ wurde ein Film über Uwe
Boldt mit dem Titel „Lesen lernen mit 48 Jahren“ gedreht, der im August 2008 bei Sat1
erstausgestrahlt wurde. Bettina Lübs stand Sabine und Uwe Boldt während der Dreharbeiten
als Ansprechpartnerin zur Seite.