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Funktionaler Analphabetismus im Kontext von Familie und ...

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Sabine Boldt <strong>und</strong> Uwe Boldt <strong>im</strong> Gespräch mit Bettina Lübs<br />

U. Boldt: Ich bin <strong>im</strong> Hamburger Hafen. Und fahre so kleine Vehikelchen. Im<br />

Schnitt 45 Tonnen hebe ich damit. Ich bin in einer Truppe, die viel mit Schwergut<br />

zu tun hat, <strong>und</strong> wir verladen zum Beispiel viele große Schiffsschrauben. Aber auch<br />

andere Sachen: Kisten, Kästen – unser Beruf ist vielfältig <strong>und</strong> nicht jeden Tag das<br />

Gleiche.<br />

Lübs: Musste man dafür eine Ausbildung machen?<br />

U. Boldt: Natürlich. Große Containerbrücken fahren, große Stapler fahren.<br />

Lübs: Musstest du eine Prüfung machen?<br />

U. Boldt: Ja.<br />

Lübs: Du hast mir mal irgendwann erzählt, heute würdest du diese Prüfung vielleicht<br />

gar nicht mehr bestehen können. Was war das Besondere damals, erinnerst du<br />

dich noch daran?<br />

U. Boldt: Mein Vorteil war wirklich, wie be<strong>im</strong> Führerschein genauso, dass es<br />

Ankreuztests waren. Genauso wie ich den Hafenfacharbeiter, als ich den damals gemacht<br />

habe, als ich noch nicht schreiben konnte, trotz allem geschafft habe, weil es<br />

nur Ankreuzfragen waren. Zum Glück.<br />

Lübs: Sabine, wie hast du da<strong>von</strong> erfahren, dass Uwe Schwierigkeiten mit dem<br />

Lesen <strong>und</strong> Schreiben hat – oder vor allen Dingen mit dem Schreiben?<br />

S. Boldt: Also, als wir vor vierzehn Jahren zusammengekommen sind, war er<br />

gleich so ehrlich, dass er zu mir sagte: „Ich kann nicht schreiben <strong>und</strong> lesen.“ Und<br />

ich stand dann da <strong>und</strong> denk: Nicht schreiben <strong>und</strong> lesen … Ich muss ehrlich zugeben,<br />

ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich hatte da wirklich keine Vorstellung. Ich<br />

habe gedacht: Naja, er hat halt Probleme in der Rechtschreibung. Das war so meine<br />

Vorstellung. Erst mal. Bis wir dann zusammengezogen sind <strong>und</strong> ich dann <strong>im</strong>mer<br />

mehr mitkriegte: Er kann wirklich nicht schreiben. Er kann es nicht. Ganz oft kam<br />

er dann an, wenn es darum ging, eine Überweisung auszufüllen: „Kannst du das mal<br />

eben machen?“ Ja, <strong>und</strong> so wie man ist: Man macht es.<br />

Lübs: Was hast du gedacht, als du seine Zeugnisse gesehen hast?<br />

S. Boldt: Ganz ehrlich? Ich habe wirklich nur die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen<br />

<strong>und</strong> habe gedacht: Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass so ein<br />

Kind jedes Jahr versetzt wird? Jedes Jahr … Ich habe gedacht: Er muss doch jedes<br />

Schuljahr nur Frust gehabt haben. Es ist ja nicht nur das Schreiben <strong>und</strong> Lesen.<br />

Er kann ja eigentlich an keinem Fach richtig teilnehmen. Sei es Biologie, sei es<br />

Erdk<strong>und</strong>e, sei es Geschichte. Es hat alles mit dem Lesen <strong>und</strong> Schreiben zu tun. Denn<br />

ich kenne es aus meiner Schulzeit: Da hat der Lehrer dann was an die Tafel geschrieben,<br />

das mussten wir lesen, das mussten wir abschreiben. Da habe ich <strong>im</strong>mer<br />

gedacht: Wie hat er überhaupt die St<strong>und</strong>en überstanden? Das wäre für mich ein<br />

Alptraum gewesen, wenn ich da in der St<strong>und</strong>e gesessen hätte – ich kann das nicht lesen,<br />

ich kann das nicht schreiben, was mache ich hier? Wann ist die Zeit rum? Wann<br />

kann ich nach Hause gehen? Es war für mich unvorstellbar, dieses Gefühl alleine<br />

schon. Fürchterlich.<br />

Lübs: Du hast eben gesagt, du hast Uwe zuerst ganz viele Sachen abgenommen.<br />

Wenn er gesagt hat, er kann es nicht, dann hast du das für ihn geschrieben. Wie<br />

machst du das heute?<br />

S. Boldt: Heute ist es so, dass ich eigentlich sage: Probier es. Ich kann es ja gerne<br />

auf Fehler nachgucken, das ist ja gar kein Ding. Aber probier es. Schreib erst mal

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