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READ BULL<br />
würden ihn nicht erkennen wollen, selbst wenn er mit einem<br />
Namensschild durch die Gegend liefe. Die Leute, die behaupten,<br />
Gott gesehen zu haben, zerstören ihn und sind auf diese Weise<br />
Atheisten.)<br />
Konrad zählte sich ganz sicher nicht zu den armen Verrückten,<br />
so wenig wie zu den Wundergläubigen, und war darum fest entschlossen,<br />
die Sache mit dem Luftanhalten und dem lauwarmen<br />
Wasser als „besoffene Geschichte“ abzutun.<br />
Warum aber versuchte er es zwei Wochen später trotzdem?<br />
Eine Laune? Eine Versuchung? Wie bei den Aufgeklärten und<br />
den Antikapitalisten, die klammheimlich mal einen Lottoschein<br />
ausfüllen? Vielleicht. Jedenfalls stellte er sich an einem Sonntagabend<br />
zwei Gläser auf das Nachtkästchen, die er mit den Stoffwindeln<br />
seines Sohnes vollständig umwickelte. Er hoffte, damit<br />
den lauwarmen Zustand des zunächst heiß eingefüllten Wassers<br />
zu erhalten.<br />
„Was soll das denn?“ fragte seine Frau, als sie sich zu ihm ins<br />
Bett legte.<br />
„Paul braucht das für ein Experiment“, schwindelte Konrad,<br />
seinen dem Windelalter entwachsenen achtjährigen Sohn vorschiebend.<br />
– Immerhin, „Experiment“ stimmte ja.<br />
Als Konrad in der Früh erwachte, tatsächlich direkt aus<br />
einem Traum auftauchend, vergaß er völlig, die Luft<br />
anzuhalten. Es dauerte drei Nächte beziehungsweise<br />
drei Morgen, bis ihm rechtzeitig einfiel, seine Atmung zu stoppen,<br />
er überlegte dann aber, ob er überhaupt kurz zuvor noch<br />
geträumt hatte, und wenn ja, inwiefern positiv oder negativ.<br />
Zudem mußte er feststellen, wie lange dreißig Sekunden werden<br />
konnten, wenn man sie ohne Atmung zubrachte. Er beendete die<br />
Aktion vor der Zeit, probierte aber immerhin das vorbereitete<br />
Wasser, um recht zufrieden dessen gut temperierten Zustand zu<br />
konstatieren. Das wenigstens klappte also. Und klappte auch<br />
einige Tage später, als er mit dem deutlichen Gefühl erwachte,<br />
soeben den Traum vom Fliegen geträumt zu haben. Er hielt rasch<br />
die Luft an (etwas, was er in den vergangenen Tagen immer<br />
wieder trainiert hatte), ergänzte die dreißig Sekunden um fünf<br />
zusätzliche, und praktisch in sein zweimaliges Luftholen hinein<br />
kippte er das bereits in der Hand gehaltene Glas lauwarmen<br />
Wassers hinunter, nach einer sehr kurzen Keuchpause auch<br />
das zweite.<br />
Nichts geschah.<br />
Doch während er noch dachte, daß nichts geschah, geschah<br />
etwas. Als erstes spürte er den heftigen Luftzug. Dann den Druck<br />
gegen die Vorderseite seines Körpers. Ein Kribbeln überall. Als<br />
wäre er eingelegt in Mineralwasser. Gleich darauf war ihm, als<br />
falle er nach oben, zum Plafond hin. Und fiel ja auch. Zurück<br />
in den Traum. Nun jedoch nach unten stürzend, wie es sich<br />
eigentlich gehört. Was konkret bedeutete, in der Montur eines<br />
Fallschirmspringers, im freien Fall befindlich, auf die noch weit<br />
entfernte Erde zuzurasen. Unter sich ein Gebirge, die Alpen vielleicht,<br />
vielleicht der Himalaya oder etwas von dieser Art. Auch<br />
registrierte er, nicht alleine zu sein. Zwei andere Springer kamen<br />
näher. Bald würden sie alle drei sich an den Händen fassen und<br />
einen kleinen Kreis bilden können. Wie man das macht, bevor<br />
man sich wieder abstößt und beizeiten die Reißleine zieht.<br />
Die beiden anderen hatten einander bereits erreicht. Hand in<br />
Hand näherten sie sich ihm. Sie kamen jetzt so dicht heran, daß<br />
er ihre Gesichter erkennen konnte. Keine Frage: seine Frau. Seine<br />
Frau und … richtig, genau jener Freund, dem er die Erfahrung<br />
verdankte, die er soeben machte. Diese Erfahrung. Und eine<br />
andere gleich dazu.<br />
Die beiden lachten ihn an, so ungemein breit, daß er dachte,<br />
die Breite stamme wohl vom enormen Druck der Luft. Er lachte<br />
Gleich darauf war ihm,<br />
als falle er nach oben,<br />
zum Plafond hin.<br />
Und er fiel ja auch.<br />
Zurück in den Traum.<br />
in der gleichen Breite zurück. Bald würde man zu dritt sein.<br />
Wobei er in keiner Weise an den Begriff einer Ménage-à-trois<br />
dachte.<br />
Sehr zu Recht dachte er nicht daran. Von einer Dreiheit<br />
konnte keine <strong>Red</strong>e sein. Denn anstatt ihm, Konrad, ebenfalls die<br />
Hand zu reichen, wendeten sich seine Frau und der, der sein<br />
Freund war, einander im Flug zu, um sich nun auch die andere<br />
Hand zu geben. Dergestalt vereint, wirbelten sie mehrmals um<br />
einen wackeligen Mittelpunkt, stießen sich endlich ab, zogen<br />
ihre Reißleinen und gerieten mit einem Schlag aus Konrads<br />
Gesichtsfeld.<br />
Er selbst stürzte ungebremst weiter. Und brauchte jetzt gar<br />
nicht erst nachzusehen. Ihm war völlig klar: kein Fallschirm!<br />
Denn darin bestand ja letztendlich der Sinn dieses Traums, ohne<br />
einen solchen zu sein. Nicht nur einfach als betrogener Ehemann<br />
dazustehen, so wie Millionen vor ihm (der Betrug ist sehr viel<br />
natürlicher als etwa die Ehe), sondern zusätzlich dazu in den Tod<br />
zu stürzen. Die Demütigung zu vervollständigen und auf diese<br />
Weise auch noch aus dem Weg geräumt zu werden. Praktischerweise.<br />
Freilich war das hier nur ein Traum, das wußte er bestens,<br />
hatte noch den Geschmack von lauwarmem Wasser im Mund,<br />
ahnte die Bettdecke, unter der er in Wirklichkeit lag. Zugleich<br />
spürte sich dieser Flug schon ungemein real an, realer als bei<br />
einer Simulation. Als sei er Teil eines naturalistischen Gemäldes.<br />
Und wenn man sich in einem Gemälde befindet, ist natürlich es,<br />
das Gemälde, die Realität. Man lebt als gemalter Mensch.<br />
Es heißt ja immer, der Abstürzende verliere das Bewußtsein,<br />
bevor er aufprallt. Konrad aber nicht. Er blieb wach bis zur letzten<br />
Sekunde.<br />
Als er die Augen aufschlug, das zweite Mal an diesem Morgen,<br />
fühlte er sich ziemlich platt. Das war auch früher schon mal vorgekommen,<br />
aber diesmal wußte er sehr gut, wieso. Er sah hinüber<br />
zu seiner Frau. Sie schlief, und zwar in der Art der Engel.<br />
Er dachte: „Schlampe!“ Es war der Moment, da er aufhörte, seine<br />
Frau schön und begehrenswert zu finden.<br />
Es war, wie die Leute gerne sagen, der Anfang vom Ende.<br />
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Lesevergnügen im <strong>Red</strong> <strong>Bulletin</strong>: Jeden Monat<br />
widmet ein namhafter Autor unseren Lesern eine<br />
Kurzgeschichte. Diesmal Heinrich Steinfest, dessen<br />
Nacherzählung der Nibelungensage „Der Nibelungen<br />
Untergang“ im Oktober bei Reclam erscheint.<br />
THE RED BULLETIN 97