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The Red Bulletin September 2014 - DE

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READ BULL<br />

würden ihn nicht erkennen wollen, selbst wenn er mit einem<br />

Namensschild durch die Gegend liefe. Die Leute, die behaupten,<br />

Gott gesehen zu haben, zerstören ihn und sind auf diese Weise<br />

Atheisten.)<br />

Konrad zählte sich ganz sicher nicht zu den armen Verrückten,<br />

so wenig wie zu den Wundergläubigen, und war darum fest entschlossen,<br />

die Sache mit dem Luftanhalten und dem lauwarmen<br />

Wasser als „besoffene Geschichte“ abzutun.<br />

Warum aber versuchte er es zwei Wochen später trotzdem?<br />

Eine Laune? Eine Versuchung? Wie bei den Aufgeklärten und<br />

den Antikapitalisten, die klammheimlich mal einen Lottoschein<br />

ausfüllen? Vielleicht. Jedenfalls stellte er sich an einem Sonntagabend<br />

zwei Gläser auf das Nachtkästchen, die er mit den Stoffwindeln<br />

seines Sohnes vollständig umwickelte. Er hoffte, damit<br />

den lauwarmen Zustand des zunächst heiß eingefüllten Wassers<br />

zu erhalten.<br />

„Was soll das denn?“ fragte seine Frau, als sie sich zu ihm ins<br />

Bett legte.<br />

„Paul braucht das für ein Experiment“, schwindelte Konrad,<br />

seinen dem Windelalter entwachsenen achtjährigen Sohn vorschiebend.<br />

– Immerhin, „Experiment“ stimmte ja.<br />

Als Konrad in der Früh erwachte, tatsächlich direkt aus<br />

einem Traum auftauchend, vergaß er völlig, die Luft<br />

anzuhalten. Es dauerte drei Nächte beziehungsweise<br />

drei Morgen, bis ihm rechtzeitig einfiel, seine Atmung zu stoppen,<br />

er überlegte dann aber, ob er überhaupt kurz zuvor noch<br />

geträumt hatte, und wenn ja, inwiefern positiv oder negativ.<br />

Zudem mußte er feststellen, wie lange dreißig Sekunden werden<br />

konnten, wenn man sie ohne Atmung zubrachte. Er beendete die<br />

Aktion vor der Zeit, probierte aber immerhin das vorbereitete<br />

Wasser, um recht zufrieden dessen gut temperierten Zustand zu<br />

konstatieren. Das wenigstens klappte also. Und klappte auch<br />

einige Tage später, als er mit dem deutlichen Gefühl erwachte,<br />

soeben den Traum vom Fliegen geträumt zu haben. Er hielt rasch<br />

die Luft an (etwas, was er in den vergangenen Tagen immer<br />

wieder trainiert hatte), ergänzte die dreißig Sekunden um fünf<br />

zusätzliche, und praktisch in sein zweimaliges Luftholen hinein<br />

kippte er das bereits in der Hand gehaltene Glas lauwarmen<br />

Wassers hinunter, nach einer sehr kurzen Keuchpause auch<br />

das zweite.<br />

Nichts geschah.<br />

Doch während er noch dachte, daß nichts geschah, geschah<br />

etwas. Als erstes spürte er den heftigen Luftzug. Dann den Druck<br />

gegen die Vorderseite seines Körpers. Ein Kribbeln überall. Als<br />

wäre er eingelegt in Mineralwasser. Gleich darauf war ihm, als<br />

falle er nach oben, zum Plafond hin. Und fiel ja auch. Zurück<br />

in den Traum. Nun jedoch nach unten stürzend, wie es sich<br />

eigentlich gehört. Was konkret bedeutete, in der Montur eines<br />

Fallschirmspringers, im freien Fall befindlich, auf die noch weit<br />

entfernte Erde zuzurasen. Unter sich ein Gebirge, die Alpen vielleicht,<br />

vielleicht der Himalaya oder etwas von dieser Art. Auch<br />

registrierte er, nicht alleine zu sein. Zwei andere Springer kamen<br />

näher. Bald würden sie alle drei sich an den Händen fassen und<br />

einen kleinen Kreis bilden können. Wie man das macht, bevor<br />

man sich wieder abstößt und beizeiten die Reißleine zieht.<br />

Die beiden anderen hatten einander bereits erreicht. Hand in<br />

Hand näherten sie sich ihm. Sie kamen jetzt so dicht heran, daß<br />

er ihre Gesichter erkennen konnte. Keine Frage: seine Frau. Seine<br />

Frau und … richtig, genau jener Freund, dem er die Erfahrung<br />

verdankte, die er soeben machte. Diese Erfahrung. Und eine<br />

andere gleich dazu.<br />

Die beiden lachten ihn an, so ungemein breit, daß er dachte,<br />

die Breite stamme wohl vom enormen Druck der Luft. Er lachte<br />

Gleich darauf war ihm,<br />

als falle er nach oben,<br />

zum Plafond hin.<br />

Und er fiel ja auch.<br />

Zurück in den Traum.<br />

in der gleichen Breite zurück. Bald würde man zu dritt sein.<br />

Wobei er in keiner Weise an den Begriff einer Ménage-à-trois<br />

dachte.<br />

Sehr zu Recht dachte er nicht daran. Von einer Dreiheit<br />

konnte keine <strong>Red</strong>e sein. Denn anstatt ihm, Konrad, ebenfalls die<br />

Hand zu reichen, wendeten sich seine Frau und der, der sein<br />

Freund war, einander im Flug zu, um sich nun auch die andere<br />

Hand zu geben. Dergestalt vereint, wirbelten sie mehrmals um<br />

einen wackeligen Mittelpunkt, stießen sich endlich ab, zogen<br />

ihre Reißleinen und gerieten mit einem Schlag aus Konrads<br />

Gesichtsfeld.<br />

Er selbst stürzte ungebremst weiter. Und brauchte jetzt gar<br />

nicht erst nachzusehen. Ihm war völlig klar: kein Fallschirm!<br />

Denn darin bestand ja letztendlich der Sinn dieses Traums, ohne<br />

einen solchen zu sein. Nicht nur einfach als betrogener Ehemann<br />

dazustehen, so wie Millionen vor ihm (der Betrug ist sehr viel<br />

natürlicher als etwa die Ehe), sondern zusätzlich dazu in den Tod<br />

zu stürzen. Die Demütigung zu vervollständigen und auf diese<br />

Weise auch noch aus dem Weg geräumt zu werden. Praktischerweise.<br />

Freilich war das hier nur ein Traum, das wußte er bestens,<br />

hatte noch den Geschmack von lauwarmem Wasser im Mund,<br />

ahnte die Bettdecke, unter der er in Wirklichkeit lag. Zugleich<br />

spürte sich dieser Flug schon ungemein real an, realer als bei<br />

einer Simulation. Als sei er Teil eines naturalistischen Gemäldes.<br />

Und wenn man sich in einem Gemälde befindet, ist natürlich es,<br />

das Gemälde, die Realität. Man lebt als gemalter Mensch.<br />

Es heißt ja immer, der Abstürzende verliere das Bewußtsein,<br />

bevor er aufprallt. Konrad aber nicht. Er blieb wach bis zur letzten<br />

Sekunde.<br />

Als er die Augen aufschlug, das zweite Mal an diesem Morgen,<br />

fühlte er sich ziemlich platt. Das war auch früher schon mal vorgekommen,<br />

aber diesmal wußte er sehr gut, wieso. Er sah hinüber<br />

zu seiner Frau. Sie schlief, und zwar in der Art der Engel.<br />

Er dachte: „Schlampe!“ Es war der Moment, da er aufhörte, seine<br />

Frau schön und begehrenswert zu finden.<br />

Es war, wie die Leute gerne sagen, der Anfang vom Ende.<br />

READ BULL<br />

Lesevergnügen im <strong>Red</strong> <strong>Bulletin</strong>: Jeden Monat<br />

widmet ein namhafter Autor unseren Lesern eine<br />

Kurzgeschichte. Diesmal Heinrich Steinfest, dessen<br />

Nacherzählung der Nibelungensage „Der Nibelungen<br />

Untergang“ im Oktober bei Reclam erscheint.<br />

THE RED BULLETIN 97

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