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Die Beste Zeit Nr 4.indd - Druckservice HP Nacke KG

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halbe Stunde bei mir. Dann war es, als<br />

wäre ich sein Gast und Holm sehr besorgt<br />

um mein Wohl, er brachte mir zu trinken<br />

und Schokoladenkekse und, einmal,<br />

Sandwichs mit Avocado- und Thunfi schpaste.<br />

Im Mülleimer in der Küche sah ich<br />

später die abgeschnittenen Toastbrotränder<br />

liegen, und ich fühlte plötzliches<br />

Mitleid, als ich an Holm dachte, wie er<br />

am Küchentisch saß und die Sandwichhälften<br />

behutsam aufeinanderpresste. Er<br />

gab mir den Schlüssel zum Laden, damit<br />

ich abschließen konnte, wenn ich ging;<br />

er gab mir auch den Schlüssel zur Kasse,<br />

einer kleinen Schatulle mit Schloss, die<br />

hinter einer der Bücherreihen im Regal<br />

lag. »Nimm dir dann einfach, was du<br />

brauchst«, sagte er. Es war klar, dass er<br />

nicht weiter über Geld reden wollte, und<br />

die Kasse war immer gut gefüllt.<br />

Allein im Laden versuchte ich mir<br />

vorzustellen, dass es mein Wohnzimmer<br />

wäre, es gelang mir ganz gut, mit der <strong>Zeit</strong><br />

bestens. Weil ich keinen eigenen Apparat<br />

hatte, schaute ich bei Holm viel fern, ich<br />

hörte mich durch seine CDs, ich mochte<br />

die dunkelgrünen Sofas, in denen man<br />

schnell versank. Es lag immer eine Decke<br />

bereit für den Fall, dass ich fror, an der<br />

Kühlschranktür hing der Zettel vom<br />

Pizzaservice. Ich erzählte niemandem von<br />

Holm, von meinem Job bei ihm. Ich hätte<br />

nicht gewusst, was ich dazu hätte sagen<br />

sollen; dass ich allein fürs Herumsitzen<br />

bezahlt wurde, wäre mir in dem Moment<br />

wie etwas sehr Fragwürdiges vorgekommen.<br />

Ich hatte keine Ahnung, wo Holm<br />

seine Abende verbrachte. Niemand kam<br />

in den Laden, wenn er nicht da war, auch<br />

das Telefon klingelte nicht. »Ich will, dass<br />

immer jemand hier ist«, hatte er gesagt,<br />

und offensichtlich war das der ganze<br />

Zauber.<br />

Manchmal trafen wir uns noch, wenn er<br />

zurückkam, bevor ich ging. »Alles klar?«,<br />

fragte er mich, und ich sagte: »Klar«, ich<br />

sagte: »Alles bestens«, ich sagte: »Wie<br />

sollte es anders sein.« Holm sah erschöpft<br />

aus, mehr noch als sonst, und er winkte<br />

nur ab, wenn ich fragte: »Und bei dir?« Er<br />

ließ sich auf das Sofa fallen, er sagte mit<br />

geschlossenen Augen: »Du kannst jetzt gehen«,<br />

als würde er mich aus einer Pfl icht<br />

entlassen, dankbar, und trotzdem fühlte<br />

ich mich wie weggeschickt. Ich begann,<br />

tagsüber in den Laden zu gehen. Ich ging,<br />

wenn ich vermutete, dass Holm nicht da<br />

war, ich ging, sagte ich mir, nur um einen<br />

Kaffee zu trinken, um in der Küche nach<br />

Schokoladenkeksen zu suchen, um mich<br />

ins Schaufenster zu stellen und ein wenig<br />

auf die Straße zu schauen. Ab und an sah<br />

ich dort zwei Mädchen im Grundschulalter,<br />

sie wohnten in der Nachbarschaft<br />

und spielten auf dem Gehsteig, ihre Rufe<br />

drangen auch zu mir, wenn ich in meiner<br />

Wohnung war. Sie schauten mich an,<br />

als hätte ich mich zu ihrer Beurteilung<br />

ausgestellt, und als ich ihnen zuwinkte,<br />

lachten sie nur und rannten davon. »Du<br />

bist da?«, fragte Holm, als er mich das<br />

erste Mal außerhalb der <strong>Zeit</strong>en im Laden<br />

antraf. Er sah erstaunt aus, aber nicht so,<br />

als würde es ihn stören, und ich begann,<br />

auch abends auf ihn zu warten, bis er<br />

heimkam mitten in der Nacht. »Du musst<br />

nicht so lange bleiben«, sagte er einmal<br />

und dann nichts mehr, und ich hätte es<br />

gerne gehabt, dass es nun so war, wie er<br />

es sich beim Gedanken an eine Aushilfe<br />

in seinem Laden vorgestellt hatte, wenn<br />

wir nach seiner Heimkehr noch ein Bier<br />

miteinander tranken, stumm, und auf<br />

dem Fernsehbildschirm die Softpornos<br />

und Call-in-Shows und die uralten Filme<br />

an uns vorbeifl immerten.<br />

Holm sah bleich aus, verschwitzt, wie<br />

in Panik, als er eines nachts im Frühjahr<br />

in den Laden gestolpert kam. Etwas war<br />

nicht in Ordnung mit seinem Gesicht;<br />

es war, als würde ich ihn im Zerrspiegel<br />

sehen oder eine Fratze. Aber es war Holm,<br />

der schwankte, der ein paar ins Nichts<br />

fassende Bewegungen machte, der sagte:<br />

»Kannst du mich alleine lassen, bitte,<br />

kannst du mich bitte, bitte alleine lassen.«<br />

Er ging nach hinten, und ich hörte noch,<br />

wie er sich übergab, mühsam würgend<br />

und hustend. Von meinem Küchenfenster<br />

aus schaute ich zum Laden hinüber, es<br />

blieb dunkel dort, während die Straßenlaternen<br />

erloschen und die ersten Leute mit<br />

ihren Hunden aus den Häusern kamen.<br />

Am nächsten Tag hing ein Zettel an der<br />

Ladentür, auf den Holm sehr klein und<br />

mit krakeliger Schrift »wegen Krankheit<br />

geschlossen« geschrieben hatte, als wäre<br />

es eine private Notiz oder eine Nachricht<br />

nur für mich. Ich schloss die Tür trotzdem<br />

auf. Holm lag im hinteren Zimmer<br />

auf seinem Bett wie aufgebahrt, gerade<br />

auf dem Rücken, die Decke glatt über<br />

sich gebreitet, die Hände gefaltet, und als<br />

er mit mir sprach, hatte er immer noch<br />

denselben klagenden, anklagenden Tonfall<br />

wie in der vergangenen Nacht. »Hör<br />

zu«, sagte er, »es war nicht so gedacht,<br />

dass du hier dein Leben verbringst, also<br />

kannst du den Schlüssel einfach auf dem<br />

Küchentisch liegen lassen, ja?«<br />

Der Zettel blieb einen Monat lang an<br />

der Ladentür hängen, und ich sah Holm<br />

die ganze <strong>Zeit</strong> nicht. Dann saß er eines<br />

Abends wieder auf einem der Sofas und<br />

schaute fern. Ich ging sofort zu ihm. »Ich<br />

war bei meiner Familie«, sagte er, als ich<br />

sagte, ich hätte mir schon Sorgen um ihn<br />

gemacht. »Bei deiner Familie?«, fragte<br />

ich, und es musste geklungen haben, als<br />

hätte ich bislang angenommen, er habe<br />

gar keine Familie. Holm wiederholte,<br />

meinen erstaunten Tonfall imitierend: »Ja,<br />

bei meiner Familie.« Ich hatte mich neben<br />

ihn aufs Sofa gesetzt, und er schaltete sich<br />

mit der Fernbedienung durch die Programme,<br />

den Daumen auf dem Knopf,<br />

einen Kanal pro Sekun de, nach drei<br />

Durchläufen schaltete er den Fernseher<br />

aus. »Es läuft nichts«, sagte er, und wenn<br />

Holm jemals, dachte ich, eine klare Aussage<br />

über uns hatte treffen wollen, dann<br />

war es wohl diese.<br />

Als es Wochen später endlich wärmer<br />

wurde, fuhr Holm mit einem Sprinter<br />

vor, aus dessen Laderaum er Bistrotische<br />

und Stühle hievte. Von meinem Küchenfenster<br />

aus sah ich zu, wie er sie vor dem<br />

Laden aufstellte und sich breitbeinig und<br />

mit einem selbstzufriedenen Lächeln<br />

in die Sonne setzte, als hätte er etwas<br />

vollbracht, auf das er stolz sein könne.<br />

»Ist es nicht herrlich«, sagte er, als ich zu<br />

ihm kam. Ich nickte. Holm brachte auch<br />

eine Schiefertafel, die er drau ßen neben<br />

der Tür an das Schaufenster lehnte und<br />

auf die er »Bier und Kaffee« schrieb, mit<br />

drei Ausrufezeichen dahinter. <strong>Die</strong> beiden<br />

Nachbarschaftsmädchen kamen um die<br />

Ecke, sie fl üsterten miteinander, Holm<br />

reichte mir seine Sonnenbrille und ging in<br />

den Laden. Das kleinere der beiden Mädchen<br />

kam auf mich zu und sagte in einem<br />

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