SFB600 - Fremdheit und Armut - Universität Trier
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TEILPROJEKT C 5<br />
Fremde im eigenen Land.<br />
Zur Semantisierung der ‚Zigeuner‘ vom 19. Jahrh<strong>und</strong>ert bis zur Gegenwart<br />
Das Projekt beschäftigt sich mit der Repräsentation von<br />
‚Zigeunern‘ in deutschsprachigen Texten seit dem 19. Jahr-<br />
h<strong>und</strong>ert. Die kollektiven Muster der Repräsentation von sozi-<br />
alen Fremden werden hinsichtlich ihrer Form, Funktion <strong>und</strong><br />
Variation untersucht. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei<br />
auf der Herausbildung <strong>und</strong> Fortschreibung, aber auch der<br />
ironischen, spielerischen oder kritischen ‚Kommentierung‘<br />
durch die Literatur. Das Untersuchungskorpus bilden des-<br />
halb belletristische Darstellungen von ‚Zigeunern‘ sowie ent-<br />
sprechende expositorische Texte (wissenschaftliche Abhand-<br />
lungen, Polizeiverordnungen, Lexika etc.).<br />
Mit den ‚Zigeunern‘ - der Begriff bezeichnet hier als ‚Zigeuner‘<br />
stigmatisierte Personen sowie entsprechend markierte Figu-<br />
ren in fiktionalen Texten - wird eine soziale Gruppe unter-<br />
sucht, deren Repräsentation im kollektiven Bildgedächtnis<br />
die Semantik des sozialen Fremden <strong>und</strong> des Armen gerade-<br />
zu idealtypisch vereint. Gefragt wird danach, wie in Wissen-<br />
schaft (sowie Recht <strong>und</strong> Politik) <strong>und</strong> Literatur (<strong>und</strong> Kunst)<br />
‚Zigeuner‘ als Fremde <strong>und</strong> Arme erscheinen, wie sich beide<br />
Semantiken zueinander verhalten <strong>und</strong> was dem über die<br />
Beziehung zwischen Minderheit <strong>und</strong> Mehrheitsgesellschaft<br />
<strong>und</strong> sich verändernde Modi gesellschaftlicher Inklusion <strong>und</strong><br />
Exklusion zu entnehmen ist.<br />
Die ‚Zigeuner‘ sind, neben <strong>und</strong> nach den Juden, die wichtigs-<br />
te unter denjenigen Minderheiten innerhalb einer deutschen<br />
Mehrheitsgesellschaft, zu deren Status als sozialen Fremden<br />
die Markierung als ‚ethnisch different‘ hinzukommt. Zur<br />
Semantisierung beider Gruppen gehört zudem ihre Mar-<br />
Ludwig Knaus, Zigeuner im Walde, von Ortsschulzen über ihre Legitimation<br />
ausgefragt (1855)<br />
Prof. Dr. Herbert Uerlings<br />
Germanistik<br />
Dr. Iulia Patrut<br />
22<br />
Stanislaw Wolski, Napoleon (1886)<br />
kierung als (holistisch gedachter) ‚Kulturen‘. Ob es darüber<br />
hinaus weitere Gemeinsamkeiten oder komplementäre Ent-<br />
gegensetzungen in der kollektiven Repräsentation gibt, ist zu<br />
prüfen. Zu den Besonderheiten der ‚Zigeuner‘-Semantiken<br />
gehört, dass es sich, nicht zuletzt wegen der Schriftlosigkeit,<br />
in extremer Weise um Fremdbezeichnungen handelt. Das<br />
ändert sich erst nach 1945, in Reaktion auf den Genozid, <strong>und</strong><br />
auch dann nur allmählich.<br />
In der Zeit zwischen der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bis ca.<br />
1920, dem zentralen Untersuchungszeitraum des Teilprojekts<br />
in der aktuellen Förderphase, läßt sich eine zunehmende<br />
Exklusion der ‚Zigeuner‘ beobachten, die mit einer Radika-<br />
lisierung ihrer Markierungen als sozial <strong>und</strong> ethnisch Frem-<br />
der einhergeht. Zu untersuchen ist das Zusammenspiel<br />
dieser Verschiebungen in der Semantik mit Prozessen der<br />
Industrialisierung <strong>und</strong> Modernisierung, der Bildung der<br />
Nation <strong>und</strong> Techniken wie neuen polizeilichen Erfassungs-<br />
methoden, aber auch literarischen Texten, die nicht selten<br />
ein anderes Bild der ‚Zigeuner‘ entwerfen.<br />
Adolf Müllnerin: Porträt einer<br />
Pfeife rauchenden Zigeunerin<br />
(1901)<br />
Edouard Manet - La Gitane à<br />
la cigarette (1861)