56 SERVICE_DIE WAHRHEIT HINTER DER SCHLAGZEILEMächtiges MedienechoTra<strong>de</strong>r zum Untersuchungsgegenstand zu machen, ist öffentlichkeitswirksam. Das erlebenzwei Executives, die ihre MBA-Projektarbeit zu Kooperation und Egoismus schrieben.Ruth Lemmer, Freie Journalistin, DüsseldorfDen Auftakt in Deutschland machten das „ManagerMagazin“ und <strong>de</strong>r „Spiegel“: Am 25. September verbreitetendie Hamburger Redaktionen online diei<strong>de</strong>ntische Skandalmeldung. Lediglich die Schlagzeilenunterschie<strong>de</strong>n sich. Das „Manager Magazin“ klang mit„Studie vergleicht Händler mit Psychopathen“ beinahe sanft,mit „Aktienhändler riskieren mehr als Psychopathen“ kam<strong>de</strong>r verwandte „Spiegel“ aggressiver daher. In <strong>de</strong>r Schweiz gehörten„NZZ am Sonntag“ und „NZZ-online“ zu <strong>de</strong>n Vorreiternunter <strong>de</strong>n Journalisten, die das Thema mit sensationshungrigerLust aufgriffen. Und auch die <strong>de</strong>utschsprachigen Österreicherhinkten nur einen Tag hinterher. Im „Standard“ konnte man in<strong>de</strong>r Hauptzeile die Frage lesen, ob Broker rücksichtsloser alsPsychopathen sind.Fazit aller Artikel über eine Projektarbeit zur Erlangung <strong>de</strong>sExecutive MBA HSG, die fälschlicherweise als wissenschaftlicheStudie <strong>de</strong>r Universität St. Gallen <strong>de</strong>klariert wur<strong>de</strong>: DieBörsenprofis haben einen immensen Hang zu zerstören undhan<strong>de</strong>ln schlimmer als Psychopathen.Eine feine Melange: Journalisten lesen sich gerne gegenseitig,und Wertpapierhändler sind in <strong>de</strong>r Finanzkrise als Berufsgruppemit hohen Boni auch bei geringem Erfolg für Anleger unddurch staatsanwaltlich verfolgte Hasar<strong>de</strong>ure in Verruf geraten.Genau <strong>de</strong>shalb zog das Thema seine Kreise. Allerdings wur<strong>de</strong>ndie Berichte nach <strong>de</strong>m heftigen Aufschlag glücklicherweisedifferenzierter: Im Deutschlandradio äußerte sich einer <strong>de</strong>rAutoren <strong>de</strong>r Studie. Im Web erschien das Interview vorsichtighinter <strong>de</strong>r Fragezeichen-Überschrift „Sind Psychopathen diebesseren Aktienhändler?“.Schließlich kamen in <strong>de</strong>r NZZ zwei Kritiker zu Wort. Am21. November druckte das Blatt einen Text nach, <strong>de</strong>r bereits auf<strong>de</strong>r Website www.oekonomenstimme.org veröffentlicht wor<strong>de</strong>nwar. Der Hochschullehrer Gebhard Kirchgässner, Professor fürVolkswirtschaftslehre und Ökonometrie an <strong>de</strong>r Universität St.Gallen, und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Florian Habermacherrückten zurecht, was Journalisten etwas oberflächlich,aber schmissig zusammengefasst hatten. Außer<strong>de</strong>m bemängeltensie die Versuchsanordnung, bezweifelten die Signifikanz<strong>de</strong>r Ergebnisse und die Interpretation <strong>de</strong>r praktischenImplikationen.Computer simuliert ReaktionenAlles in allem ein mächtiges Medienecho auf eine Projektarbeit,mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Vollzugschef <strong>de</strong>r Strafanstalt Pöschwies imKanton Zürich, Thomas Noll, und <strong>de</strong>r publizistische Leiter <strong>de</strong>sSchweizer Radios DRS 3, Pascal Scherrer, ihren Executive MBAHSG erlangten. Der 43-jährige promovierte Jurist, <strong>de</strong>r auch inseiner zweiten Profession als Psychiater und Psychotherapeut<strong>de</strong>n Doktortitel erwarb, und <strong>de</strong>r 38-jährige Journalist hatten berufsbegleitendan <strong>de</strong>r Executive School of Management, Technologyand Law <strong>de</strong>r Universität St. Gallen gelernt und sich fürdie Abschlussarbeit zusammengetan.Die bei<strong>de</strong>n wollten eine experimentelle Arbeit schreiben undnicht die übliche praxisbezogene Fallstudie aus ihrem Berufsfeldbeackern. „Professionelle Tra<strong>de</strong>r in einer Gefangenendilemma-Situation“lautet <strong>de</strong>r Titel <strong>de</strong>r Projektarbeit – und dieAutoren verantworten es nicht, dass Journalisten daraus einewissenschaftliche Arbeit <strong>de</strong>r Uni St. Gallen machten, was wie<strong>de</strong>rumin eben dieser elitären Universität für Aufregung sorgte.Basis ihres Experiments wur<strong>de</strong> eine Untersuchung, die <strong>de</strong>rdamalige wissenschaftliche Mitarbeiter in <strong>de</strong>r Forensik <strong>de</strong>rUniversität Regensburg und heute promovierte Qualitäts- undForschungsbeauftragte im Zentrum für Forensische Psychiatrie<strong>de</strong>r Uniklinik Zürich, Andreas Mokros, 2008 gemeinsammit Diploman<strong>de</strong>n veröffentlichte: 24 normale Bürger und 24Psychopathen wur<strong>de</strong>n über ein Computerspiel in ihrem Verhaltenverglichen.Noll und Scherrer übernahmen das Design <strong>de</strong>s Experimentsfür eine Gruppe von 28 Wertpapier-, Derivate-, Devisen- undRohstoffhändlern. Simuliert wur<strong>de</strong> Wasserknappheit. Die Proban<strong>de</strong>nmussten an 40 Tagen hintereinan<strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n, obsie, um an ihre Wasserration zu kommen, kooperieren o<strong>de</strong>rnicht. Das Computerprogramm simulierte die Reaktionen <strong>de</strong>sGegenübers.Aus <strong>de</strong>m Vergleich mit <strong>de</strong>n Mokros-Daten schlossen die Autoren:Die Händler sind weniger psychopathisch als die Gesamtbevölkerung.Lediglich in einigen Punkten liegen die Werte höher,sogar höher als bei <strong>de</strong>n Psychopathen. Zu diesen gehören Egoismusund Rücksichtslosigkeit. Die Händler maximierten zwarihre relativen Gewinne auf Kosten <strong>de</strong>r Gegenspieler, schnittenim absoluten Gewinn aber minimal schlechter ab als die Psy-PERSONAL<strong>quarterly</strong> 02/ 12
57Andreas Mokros (Uniklinik Zürich), Pascal Scherrer (DRS 3), Thomas Noll (Justizvollzugsanstalt Pöschwies); v. l. n. r.chopathen. Die Projektmacher folgern: Die Kandidaten hatteneinen Hang zu <strong>de</strong>struktivem Verhalten, um <strong>de</strong>n Gegenspielerzu schlagen. Ökonomisch irrationales Verhalten aber gehörtnicht zu <strong>de</strong>m, was Arbeitgeber von Tra<strong>de</strong>rn erwarten. Diesesollen nüchtern und sachlich <strong>de</strong>n Gewinn maximieren.NZZ-Preis für die beste MBA-ArbeitBetreut wur<strong>de</strong>n Noll und Scherrer von Professor Peter Leibfried,<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Hochschule St. Gallen <strong>de</strong>n KPMG-Lehrstuhlfür Audit und Accounting vertritt. Er fand Kandidaten undMethodik überzeugend. Im Juni 2011 erlangten Thomas Nollund Pascal Scherrer für ihre Projektarbeit eine 6 – was im <strong>de</strong>utschenNotensystem eine 1 wäre. Sie erhielten außer<strong>de</strong>m als ehrenvolleBeigabe <strong>de</strong>n NZZ-Preis für die beste Abschlussarbeitihres Executive-MBA-Jahrgangs. „Ich halte die Ergebnisse fürwissenschaftlich robust“, sagt Leibfried rückblickend.Anregungen für PersonalpraktikerBanken horchten je<strong>de</strong>nfalls auf. „Psychopathen will keiner imUnternehmen, <strong>de</strong>nn die bringen alles durcheinan<strong>de</strong>r“, sagtThomas Noll, <strong>de</strong>r in seiner Arbeit im Gefängnis regelmäßigpsychopathischen Menschen begegnet. Allerdings bremst <strong>de</strong>rPsychiater eilige Gemüter, die gleich ein Umsetzungs-Tool fürsRecruiting anfragen. Erst müsse noch <strong>de</strong>taillierter erforschtwer<strong>de</strong>n, welche Persönlichkeitsmerkmale es genau seien, diepositive o<strong>de</strong>r negative Auswirkungen im Berufsalltag von Tra<strong>de</strong>rnmit sich brächten. Und dann könne man mit hoher Wahrscheinlichkeitkein Instrument entwickeln, das für alle Bankenpasst. „One fits all wird es vermutlich nicht geben“, betont Noll.„Mentalität, Unternehmensgröße und Firmenkultur sind einigeFaktoren, das Verhalten beeinflussen.“ Bis also Unternehmenim Recruiting Instrumente einsetzen können, die Kandidatenmit besagter <strong>de</strong>struktiver Neigung herausfiltern, wird es nochdauern. Denn, so Noll: „Es ist es sehr aufwendig herauszufin<strong>de</strong>n,welche Bereiche <strong>de</strong>r Psychopathie für ein Unternehmenschädlich und welche nützlich sind.“Hoher ForschungsbedarfEs mag Zweifel geben, ob Gefangenendilemma-Spiele am PCrealistischere Ergebnisse hervorbringen können als Persönlichkeitstestsund ob sie Letztere bei <strong>de</strong>r Personalauswahl sinnvollergänzen können. Die Studienautoren Noll und Scherrerhalten ihre Herangehensweise in je<strong>de</strong>m Fall für wissenschaftlichausbaufähig. „Man kann auch an<strong>de</strong>re Populationen miteiner Variante <strong>de</strong>s Gefangenendilemmas untersuchen, etwaWirtschaftsanwälte, High Potentials o<strong>de</strong>r Elitetruppen <strong>de</strong>s Militärs“,meint Thomas Noll. Auch Professor Peter Leibfried hältbehavioristische Fragestellungen „für eine interessante Forschungsrichtung“– gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Finanzwissenschaft. SeinBeweggrund: „Im Finanzbereich sind hochkomplexe Systemeschiefgegangen, obwohl sie in sich schlüssig waren, und gera<strong>de</strong>dadurch ergibt sich für die in <strong>de</strong>r Finanzwelt bisher eherschwachen Bin<strong>de</strong>strich-Wissenschaften, etwa aus Psychologieund Accounting, ein sehr hoher Forschungsbedarf.“Für weitere wissenschaftliche Experimente stehen die bei<strong>de</strong>nMBAler mit ihren, so Noll, „150-prozentigen Hauptberufenin <strong>de</strong>n Medien und in <strong>de</strong>r Strafjustiz“ in Kontakt mitMitstreitern aus <strong>de</strong>r Forschung. Auch <strong>de</strong>shalb lassen sie in <strong>de</strong>rMärz-Ausgabe von „Psychologie heute“ die Frage offen, „ob dieHan<strong>de</strong>lsabteilungen <strong>de</strong>r Banken <strong>de</strong>rart veranlagte Leute anzieheno<strong>de</strong>r ob die Händler dort zu solchen Charakteren wer<strong>de</strong>n“.Will man das soli<strong>de</strong> beantworten, sind Langfriststudien fällig– im Labor wie in Unternehmen.Noll und Scherrer wollen die Diskussion auch internationalvorantreiben. Mit Andreas Mokros und <strong>de</strong>n ForensikernJérôme Endrass, Astrid Rossegger und Frank Urbaniok habensie <strong>de</strong>n Artikel „Professional tra<strong>de</strong>rs in a simulated non-zerosum game: Average performance but <strong>de</strong>structive maximizationof relative gain“ bei einer englischsprachigen Fachzeitschrifteingereicht. Da Investmentbanker, Wertpapier- wie Rohstoffhändlerglobal agieren, könnte sich ein Anknüpfungspunkt zuWissenschaftlern jenseits <strong>de</strong>r Schweizer Grenzen ergeben, die<strong>de</strong>m Phänomen <strong>de</strong>r Tra<strong>de</strong>r-Persönlichkeit auf <strong>de</strong>r Spur sind.02 / 12 PERSONAL<strong>quarterly</strong>