Personalisierungsansatz in der Medizin:Nützlich auch für die Psychotherapie?Michael KluckenZusammenfassung: Das Prinzip der „personalisierten Medizin“, eine seit etwa zehnJahren existierende Richtung der Medizin, wird in diesem Artikel vorgestellt und auf diePsychotherapie übertragen. Dies erfordert eine Ergänzung konventioneller Wirksamkeitsstudien,insbesondere randomisiert kontrollierter Studien, in denen solche Kontextfaktorenals Störvariablen eliminiert werden. Es wird ein neuer Forschungsansatz zurAuffindung behandlungsrelevanter Kontextfaktoren vorgestellt, der den konventionellenWirksamkeitsstudien vorgeschaltet ist und diesen individuelle behandlungsrelevanteKontextfaktoren liefert. Insbesondere Erfahrungen psychotherapeutischer Praktikerinnenund Praktiker, 1 Einzelfallstudien und vergleichende Gruppenuntersuchungen mit „enrichmentdesign“ sind geeignet, Hinweise für solche Kontextfaktoren zu liefern.Was ist „personalisierte“Medizin?Mit dem Begriff „personalisierte“ (auch „individualisierte“)Medizin, vor knapp zehnJahren von dem amerikanischen Biochemikerund Mediziner Leroy Hood geprägt,wird eine Richtung der Medizin bezeichnet,die in einem weitaus stärkerem Maßals bisher neben der Krankheitsdiagnoseauch behandlungsrelevante individuelleMerkmale eines Menschen berücksichtigt.Triebkraft war die 2001 gelungene kompletteGenomsequenzierung des Menschenmit der Möglichkeit, genetische Ursachenfür zahlreiche Erkrankungen, Krankheitsbereitschaftenund individuelle, eineKrankheit beeinflussende Kontextfaktorenzu entdecken. Es ist heute möglich, sehrrasch und mit überschaubaren Kosten vonein paar Hundert Euro sein persönlichesGenom sequenzieren zu lassen, um damitindividuelle Krankheitsbereitschaften zuüberprüfen. Auf dieser Grundlage hat sichauch ein neuer Zweig der Pharmakologie,die Pharmakogenomik, entwickelt, dieMedikamente passgenau auf genetischeMerkmale von Patientensubgruppen herzustellenversucht. So hat man herausgefunden,dass etwa ein Viertel aller Brustkrebspatientinneneinen bestimmtenWachstumsrezeptor (HER2Neu) im Übermaßproduziert. Die Konzentration diesesRezeptors dient als messbare Größe (Biomarker),die es ermöglicht, Brustkrebspatientinnenin zwei Untergruppen zu teilen(HER2Neu-positive bzw. HER2Neu-negative).Gegen diesen Wachstumsfaktor wurdeein dazu passender blockierender Antikörper(Trastuzumab) entwickelt, der dieRezidivhäufigkeit bei der HER2Neu-positivenUntergruppe um etwa 50% reduziert.Für Brustkrebspatientinnen, die HER2Neunegativsind, ist dieses Medikament ohneWirkung.Inzwischen sind 18 solcher Medikamentefür eine „personalisierte“ Medizin (p. M.)in Deutschland zugelassen. 2 Die Möglichkeitender p. M. zur Personalisierung, Vorhersageund Vorbeugung von Krankheitenund zur aktiven Teilnahme von Patientenan der Vorbeugung, z. B. durch Anpassungihrer Lebensführung an die genetischeKrankheitsdisposition kennzeichnete Hoodmit dem Begriff P4 Medicine (Personalized,Prediction, Preventive, Participatory)und beschreibt sie als Medizin der Zukunftin den nächsten zehn bis zwanzig Jahren(Hood & Galas, 2008).Obwohl es sich bei den Merkmalen, die einep. M. erlauben, gegenwärtig meist ummolekularbiologische Gegebenheiten (genetischeMerkmale, Biomarker) handelt,erlauben auch andere makroskopische (klinischzu beobachtende) Merkmale eine„Personalisierung“. Dies zeigt eine Studieder American Society of Clinical Oncology(ASCO). Bei dieser Studie (Stupp et al.,2010) handelte es sich um eine offene randomisierteStudie, an der 237 Patienten mitrezidiviertem Glioblastoma multiforme (einextrem bösartiger Hirntumor) teilnahmen.120 Patienten wurden mit einem neuenVerfahren (Elektrostimulation des Gehirnszusätzlich zur Chemotherapie) behandelt,die übrigen mit der üblichen Chemotherapie.Ergebnis: Das Gesamtüberleben warmit der Elektrostimulation mit 7,8 vs. 6,1Monaten bei Chemotherapie signifikantbesser (der geringe klinische Nutzen beistatistischer Signifikanz sei hier einmal nichtbeachtet). Nach den Kriterien der evidenzbasiertenMedizin wäre damit mit einemhohen Evidenzgrad 2a die Wirksamkeit derzusätzlichen Elektrostimulation nachgewiesenworden. Eine nachträgliche Subgruppenanalysedieses Durchschnittsergebnisseszeigte aber interessanterweise, dass nurbei 12% der Patienten ein objektives Ansprechendes Tumors auf Elektrostimulationnachweisbar war, während 88% aller Patientenkeinen Einfluss der Elektrostimulationzeigten! Diese auf Elektrostimulation ansprechendenPatienten waren unter 60Jahre alt, in guter körperlicher Verfassung(Karnofsky-Performance-Status), hattennicht mehr als drei Rezidive und sprachennicht auf eine Bevacizumab-Therapie an.Diese klinisch zu ermittelnden Merkmaleerlaubten eine „Personalisierung“ der The-1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werdenim Folgenden nicht durchgängig beideFormen genannt. Selbstverständlich sind jedochimmer Männer und Frauen gleichermaßengemeint.2 Plattform Personalisierte Medizin: www.pmstiftung.eu/personalisierte-medizin.html,letzte Änderung 13.11.2012 [25.01.<strong>2013</strong>].4 <strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 1/<strong>2013</strong>
M. Kluckenrapie auf Träger dieser Merkmalskombination.Nun wird in weiteren randomisiert kontrolliertenStudien (randomized controlledtrial, RCT) gezielt die Patientenpopulationmit diesem Merkmalsmuster untersucht,wobei hier eine Kombination von Elektrostimulationmit einem neuen Zytostatikum alsBehandlung gewählt wird. Das Ergebnissteht bisher noch aus (Graetzel, 2011). Diep. M. berücksichtigt also behandlungsrelevantesubgruppenspezifische Kontextfaktoren(im Sinne interner persönlicher Merkmale– neben dem Hauptkrankheitsmerkmal–, die die Wirksamkeit der Behandlungdes Hauptmerkmals wesentlich beeinflussen),um eine individuellere Behandlung zuermöglichen. An dieser Stelle soll noch eineterminologische Anmerkung gemacht werden.Die Adjektive „personalisierte“ und „individualisierte“Medizin sind in mehrfacherHinsicht irreführend. „Personale Eigenschaftenmanifestierten sich nicht auf molekularer(z. B. als Biomarker), sondern auf personalerEbene“, so der Vorsitzende der Ethikkommissionder Bundesärztekammer UrbanWiesing (zitiert nach Pytlik, 2011). AuchAssoziationen mit einer persönlicheren,menschlicheren Medizin sind bei dieserHightechmedizin nicht angebracht. Außerdemsuggeriert der Begriff „Personalisierung“eine auf eine einzelne Person oderein einzelnes Individuum bezogene Medizin,in Wirklichkeit ist die p. M. aber in derRegel, und dies sicherlich noch für langeZeit, auf eine behandlungsrelevante Subpopulationeiner Krankheitsdiagnose gerichtet(Hüsing, Hartig, Bührlen, Reiß & Gaisser,2008). Die Unterteilung einer Gesamtstichprobein unterschiedliche Subpopulationenwird als Stratifizierung bezeichnet. Bei derÜbertragung dieses Ansatzes auf die Psychotherapiesollte man daher von „stratifizierenderPsychotherapieforschung“ sprechen.Der Begriff Stratifizierung setzt sichauch international zunehmend durch.Was könnte am Stratifizierungsansatzin derMedizin nützlich für diePsychotherapieforschungsein?Psychotherapie hat es im Allgemeinennicht mit molekularbiologischen Gegebenheiten,sondern mit Faktoren auf einerganz anderen Systemebene wie z. B. Persönlichkeitsmerkmalen,kognitiven Einstellungen,emotionalen Reaktionsbereitschaftenoder Verhaltensgewohnheiten zu tun.Man darf aber in naher Zukunft mit verstärkterErforschung stratifizierender genetischerForschung in der Psychopharmakologierechnen. Dies ist wegen derÜberschneidung in der Behandlung einigerStörungsgebiete auch für die Psychotherapievon Interesse. So existieren seit etwazehn Jahren Studien, die pharmakogenetischeZusammenhänge in der Behandlungvon Major Depressionen erforschen. Beispielsweisehat man stratifizierende Kandidatengenegefunden, die in den Stoffwechselvon Antidepressiva einbezogensind und Verbindungen zum 5-HTT-Serotonin-Transporter-Gen,zum Serotonin-Rezeptor-Gensowie zur HPA-Achse („Stress-Achse“) aufweisen. Der klinische Nutzenist gegenwärtig wegen widersprechenderErgebnisse noch gering (Gvodzic, 2012).Es ist aber in Zukunft zu erwarten, dassbiomarkerbezogene subgruppenspezifische(und sehr teure) Antidepressiva aufden Markt kommen. Neuerdings werdenauch Studien berichtet, in denen Zusammenhängebestimmter genetischer Biomarkermit der Ansprechbarkeit auf Psychotherapieverfahrenerforscht werden(„Psychotherapygenetics“). So wurden ineiner prospektiven Studie 110 Probandenmit Borderline-Störungen bezüglich ihrerAnsprechbarkeit auf die Dialektisch-BehavioraleTherapie (DBT) in Abhängigkeit vonbestimmten Genvarianten untersucht. DieGruppe mit einer bestimmten Genvariantewies eine höhere Ansprechbarkeit auf dieBehandlung auf, während andere Genvariantenkeinen Zusammenhang mit der Behandlungsansprechbarkeitaufwiesen (Perezet al., 2010). Auf der Ebene genetischerund molekularbiologischer Faktoren sindjedoch für die Psychotherapie auch auflange Sicht nicht mehr als Wahrscheinlichkeitserhöhungengewisser Störungsdispositionenzu erwarten. Solche Faktoren dürftenals eher untergeordnete Bausteineeines umfassenderen psychosozialen Wirkungsgefügesanzusehen sein. Unter anderemist dies dadurch begründet, dassdie klinischen Effekte nicht einfach durchbestimmte Gene, sondern durch komplexeGen-Gen- und vor allem Gen-Umwelt-Interaktionen bestimmt werden. Die jeweiligenBedingungen der Umwelt bestimmendarüber, welche Gene gerade abgelesenwerden und welche nicht. Ein plastischesBeispiel liefern die Raupe und ein aus ihrentstehender Schmetterling: Beide besitzendas gleiche Genom, aber ein völligverschiedenes Proteom (Gesamtheit allerProteine in einem Lebewesen oder einerZelle unter definierten Bedingungen zu einembestimmten Zeitpunkt).Im gegenwärtigen Verständnis der stratifizierendenMedizin stehen molekular-biologischeParameter im Vordergrund. Dieswird in kritischen Diskursen als ein eingeengtesVerständnis von Stratifizierung angesehenund es wird die Berücksichtigungvon Sozio- und Psychomarkern zur Stratifizierunggefordert, so der SozialmedizinerHeinz Raspe auf der Jahrestagung desDeutschen Ethikrates 2012 (zitiert nachMüller-Lissner, 2012). Es ist auch nicht einsehbar,wieso es angebracht sein sollte,sich, wie der Onkologe Jürgen Wolf vomZentrum für Integrierte Onkologie derUniklinik Köln, für ein strikt biologischesVerständnis des Begriffs „personalisierteMedizin“ einzusetzen (zitiert nach Kuhlmann-Richter,2012). Grundsätzlich sindalle Faktoren, die behandlungsrelevanteUnterscheidungen zwischen Individuenmit gleicher Erkrankung ermöglichen, zurStratifizierung geeignet, gleichgültig, obdiese Faktoren einfache biologische Basisstrukturenoder komplexe psychosozialeGegebenheiten darstellen.Auch in der Psychotherapieforschung gibtes Hinweise auf die Existenz solcher behandlungsrelevanterUnterschiede zwischenMenschen mit der gleichen Erkrankung.Dafür sprechen die zum Teil großenStreuungen in der Wirksamkeit störungsbezogenerpsychotherapeutischer Behandlungen.Ein wichtiger Grund dafürkönnten individuell unterschiedliche Kontextfaktorensein, die neben der Krankheitexistieren und einen entscheidenden Einflussauf die Wirksamkeit der Behandlungausüben. So geht aus einer großen Metaanalysekontrollierter Depressionsstudienzwischen 1980 und 2001 aus der Gruppeum Klaus Grawe (Gallati, 2003) Folgendeshervor: „Von 100 behandlungsbedürftigenDepressiven wird 13 bis 14 mit den heute<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 1/<strong>2013</strong>5