Dokument 1.pdf (14.973 KB) - OPUS - Universität Würzburg
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Sonderheft - 100 Jahre Röntgenstrahlen<br />
Töchter verhindert. Damit ist die Wissenschaft<br />
und insbesondere die Entwicklung der<br />
experimentellen Disziplinen im 19. J ahrhundert<br />
eine Domäne des Bürgertums, in seiner<br />
frühen bildungsbürgerlichen und nicht der<br />
besitzbürgerlichen Variante, das mit Tugenden<br />
wie Neugier, Fleiß, Wissensdurst, Unternehmungsgeist,<br />
Mobilität und Freiheitsdrang<br />
eine neue Welt errichtet hat. Das Bürgertum<br />
schuf das naturwissenschaftlichtechnische<br />
Zeitalter in Europa und als notwendige<br />
Voraussetzung dafür den Verfassungsstaat;<br />
Rechtsstaat und moderne, naturwissenschaftlich<br />
begründete Technik sind<br />
zwei Seiten einer Medaille.<br />
Die wirtschaftliche Durchsetzung der genannten<br />
Tugenden ging der politischen weit<br />
voraus; noch 1905 waren am Hofe des Prinzregenten<br />
in München als die einzigen Bürgerlichen<br />
die Rektoren der bei den Münchner<br />
<strong>Universität</strong>en zugelassen; die Sehnsucht<br />
Thomas Manns, durch den persönlichen<br />
Adel courfähig zu werden, kennzeichnet seine<br />
berühmteste Erzählung aus der Prinzregentenzeit,<br />
den "Tod in Venedig". Der Eingangssatz<br />
dieser Erzählung ist 1911 auch ein<br />
Hinweis an den an der Schwelle des Thrones<br />
stehenden neuen König Ludwig III., mit<br />
dem Verfasser der Erzählung vielleicht doch<br />
so zu verfahren, wie in ihr der Fürst mit dem<br />
gefeierten Autor der Schullektüre: "Gustav<br />
Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit<br />
seinem fünfzigsten Geburtstag amtlich sein<br />
Name lautete ... "<br />
Wilhelm Conrad Röntgen hat - im Gegensatz<br />
zu vielen seiner Kollegen, aber ganz<br />
konsequent - 1896 den ihm zusammen mit<br />
dem Königlich Bayerischen Kronenorden<br />
verliehenen persönlichen Adel abgelehnt,<br />
und die bürgerliche Welt Europas hat sich<br />
am Ende dieses ihres Jahrhunderts einen<br />
eigenenAdel geschaffen: mit der Stiftung der<br />
Nobelpreise, den Adel der Wissenschaft.<br />
Wilhelm Röntgen, der sehr bewußt alle gesellschaftlichen<br />
und beruflichen Nachteile in<br />
Kauf nahm, die ihm die Ablehnung des persönlichen<br />
Adels alsbald brachten, war 1901<br />
der erste Nobelpreisträger für Physik.<br />
Ohne Zweifel hat Wilhelm Conrad Röntgen<br />
seine bahnbrechende Entdeckung der X<br />
Strahlen dem von ihm unermüdlich und mit<br />
Enthusiasmus gepflegten Experiment zu<br />
verdanken, trotzdem war er seiner Zeit darin<br />
weit voraus, daß er die Mathematik als<br />
Grundlage auch und gerade der Experimentalphysik<br />
gesehen hat: Drei Dinge, meinte<br />
er, brauche der Physiker zur Vorbereitung<br />
seiner Arbeit: "Mathematik, Mathematik und<br />
nochmals Mathematik." Er war der festen<br />
Überzeugung, daß nur ein theoretisch exakt<br />
überlegtes Experiment auch gute Resultate<br />
bringen werde, und war damit doch auch ein<br />
Kind seiner Epoche, in der das Definitionsmonopol<br />
von den philosophischen auf die<br />
naturwissenschaftlichen Disziplinen übergegangen<br />
ist.<br />
Vom Übergang aus dem philosophischen<br />
in das naturwissenschaftliche Zeitalter hat<br />
Rudolf Virchow - zwei Jahre vor der Entdeckung<br />
der Röntgenstrahlen - in einer berühmten<br />
Rektoratsrede gesprochen und dabei<br />
den Forscher, also den experimentell tätigen<br />
Wissenschaftler, vom Theoretiker und<br />
Methodiker unterschieden. Jetzt, meinte Virchow<br />
am 3.August 1893 in Berlin, "verlangt<br />
man von dem Gelehrten, daß er auch ein<br />
Forscher sei, und die Ansprüche in bezug auf<br />
die Lehre haben sich so sehr gesteigert, daß<br />
schon der akademische Unterricht sich die<br />
Aufgabe stellt, die lernende Jugend nicht<br />
bloß in die Methoden, sondern auch in die<br />
Praxis der Untersuchung einzuführen. Es<br />
bedarf keiner besonderen Beweisführung<br />
mehr, daß diese Art der Wissenschaft ein<br />
nützliche sei".<br />
Trotzdem galten "Einsamkeit und Freiheit",<br />
die Humboldt'schen Kategorien der<br />
Wissensentstehung, auch für den experimentellen<br />
Forscher des 19. Jahrhunderts. Anders<br />
nämlich ist es nicht zu verstehen, daß Röntgen<br />
nachdrücklich darauf bestanden hat, er<br />
habe alleine, am Freitag, dem 8. November<br />
1895, in seinem Laboratorium "das merkwürdige<br />
Aufleuchten der Bariumplatinzyanürkristalle"<br />
beobachtet und niemand sei<br />
anwesend gewesen, der ihn auf das Phänomen<br />
hätte aufmerksam machen können. Zum<br />
Adel der Wissenschaft und des Wissens gehörten<br />
im bürgerlichen Jahrhundert die einsame<br />
Forscherleistung, die der widerstrebenden<br />
menschlichen Natur abgerungene Leistung,<br />
und - das Autonomiebewußtsein des<br />
Individuums, welches die gleiche Leistung,<br />
die sein Leistungsethos von ihm forderte, mit<br />
Härte auch von den anderen verlangte.<br />
"Päppeln Sie niemand hoch, es hat keinen<br />
Zweck" lautete RöntgensAnweisung an<br />
seinen Assistenten, wenn es um die Betreuung<br />
der Doktoranden ging. Mit 67 Jahren<br />
(1912) kämpfte er darum, nicht erst mit 70<br />
Jahren (wie damals üblich) emeritiert zu<br />
werden. Er wollte sich noch einige Jahre<br />
ganz, ohne Lehrverpflichtungen auf die Forschung<br />
konzentrieren können. Das erkämpfte<br />
Zugeständnis hat er dann nicht verwirklicht,<br />
weil er 1914 mit den jungen Menschen,<br />
die in den Krieg ziehen mußten, solidarisch<br />
sein wollte.<br />
Am 15. Januar 1896 schrieb der amerikanische<br />
Philosoph Muensterberg in einem<br />
Bericht an die Zeitschrift "Science": "Man<br />
weiß in der ganzen Welt, daß die physikali-<br />
sehen Laboratorien in Deutschland keine<br />
offenen Fenster nah dem Patentamt haben"<br />
- eine Haltung, die in den USA schon damals<br />
nur Kopfschütteln hervorgerufen hat.<br />
Röntgen verweigerte sich bekanntlich allen<br />
Patentierungsangeboten und meinte zu Max<br />
Levy, dem Abgesandten der AEG, er sei der<br />
"Auffassung ... , daß seine Erfindungen und<br />
Entdeckungen der Allgemeinheit gehören<br />
und nicht durch Patente, Lizenzverträge<br />
u.dgl. einzelnen Unternehmungen vorbehalten<br />
bleiben dürfen. Er war sich darüber klar,<br />
daß er mit dieser Stellungnahme darauf verzichte,<br />
geldliche Vorteile aus seiner Erfindung<br />
zu ziehen" (Max Levy am 6. September<br />
1929).<br />
Röntgen starb mit 78 Jahren, als die Inflation<br />
in Deutschland ihrem Höhepunkt<br />
zustrebte. Die <strong>Universität</strong> <strong>Würzburg</strong> konnte<br />
wegen der Geldentwertung das Erbe der ihr<br />
vermachten 50.000 Kronen des Nobelpreises<br />
nicht antreten; der Stadt Weilheim in<br />
Oberbayern vererbte Röntgen im Februar<br />
1923 339 Billionen 927 Milliarden Papiermark.<br />
Im November dieses Jahres gelang die<br />
Stabilisierung der deutschen Währung auf<br />
der Basis 1 Rentenmark = 100 Milliarden<br />
Papiermark.<br />
Die Struktur des neuen Wissens<br />
Es bedarf kaum eines Hinweises darauf,<br />
in welcher Weise sich die explosionsartige<br />
Entstehung neues Wissens heute von der uns<br />
allen vertrauten, hier am Beispiel Röntgens<br />
verdeutlichten Wissensgenerierung des 19.<br />
Jahrhunderts unterscheidet. Die Wissenssoziologie<br />
hat soeben begonnen, die neue Produktion<br />
des Wissens, die Dynamik von Wissenschaft<br />
und Forschung in zeitgenössischen<br />
Gesellschaften zu beschreiben. Drei Kriterien<br />
bestimmen vor allen anderen die Differenzqualität:<br />
(1) Die nicht mehr überschaubare<br />
Quantität des Wissens, (2) die noch<br />
immer zunehmende Geschwindigkeit der<br />
Ausbreitung dieses Wissens, (3) seine Entstehung<br />
auf Grenzfeldern zwischen den tradierten<br />
Disziplinen.<br />
Nach Joachim Treusch beträgt die Verdopplungszeit<br />
der heute in den USA tätigen<br />
Naturwissenschaftler rund 13 Jahre. Weltweit<br />
hochgerechnet bedeutet dies, daß neun<br />
von zehn Naturwissenschaftlern, die je auf<br />
der Erde geforscht haben, dies heute tun.<br />
"Man kann diese verblüffende Tatsache auch<br />
anders formulieren: In den nächsten fünfzehn<br />
Jahren wird genausoviel geforscht und mehr<br />
publiziert als in den fast zweieinhalbtausend<br />
Jahren seit Demokrit und Aristoteles." Die<br />
Verdopplungszeiten bei Publikationen der<br />
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